VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 22.11.2012 - 1 K 20152/10 Me - asyl.net: M20687
https://www.asyl.net/rsdb/M20687
Leitsatz:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG aufgrund mittelbar staatlicher Gruppenverfolgung wegen gemischt armenisch/aserbaidschanischer Volkszugehörigkeit.

Schlagwörter: Asylfolgeantrag, Gruppenverfolgung, Armenier, Aserbaidschan, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Berg-Karabach, Existenzgrundlage, Existenzminimum, nichtstaatliche Verfolgung, mittelbare Verfolgung, mittelbare Gruppenverfolgung, Ausbürgerung, faktische Ausbürgerung, staatenlos, de facto staatenlos, Diskriminierung, Schutzwillen, Schutzbereitschaft, Änderung der Sach- und Rechtslage, Beweismittel, neue Beweismittel,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 71 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Kläger haben Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (1.). Zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz AsylVfG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt haben sie ebenfalls einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG (2.). Der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis Abs. 7 AufenthG bedurfte es nicht (3.). [...]

Die Kläger haben zur Begründung ihres Asylfolgeantrages vom 08.07.2009 vorgetragen, die Entscheidungspraxis des Bundesamtes bzw. des Thüringer Oberverwaltungsgerichtes habe sich dahingehend geändert, dass nunmehr eine Gruppenverfolgung armenischer Volkszugehöriger in Aserbaidschan angenommen werde. Auf diese Weise haben sie zwar eine Änderung der Sach- und Rechtslage nach rechtskräftigem Abschluss ihres ersten Asylverfahrens geltend gemacht. Soweit sich die Kläger damit - im Wesentlichen - auf die mit Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 28.02.2008 (Az.: 2 KO 899/03) geänderte Entscheidungspraxis berufen, haben sie ihren Folgeantrag allerdings nicht lediglich auf eine Rechtsprechungsänderung gestützt. Letztere würde - wie die Beklagte zutreffend ausführt - nach ständiger Rechtsprechung weder eine Änderung der Sachlage noch eine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG darstellen (vgl. hierzu grundlegend BVerwG, B. v. 25.05.1981 - 8 B 89.80 und 8 B 93.80 -, NJW 1981, 2595; U. v. 27.01.1994 - 2 C 12.92 -, BayVBl. 1994, 632 ff.). Eine - bloße - Änderung der Rechtsprechung kann nämlich auch nur eine andere rechtliche Würdigung des gleichen Sachverhalts auf der Grundlage einer unverändert gebliebenen Sach- und Rechtslage bedeuten (vgl. VG Ansbach, U. v. 08.05.2007 - AN 15 K 07.30005 -, Juris; VG Meiningen, U. v. 01.10.2012 - 2 K 20147/09 Me). Die Kläger haben hier jedoch mit ihrem Verweis u.a. auf das bereits genannte Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 28.02.2008, sinngemäß auf dessen Ausführungen zu den Fragen der asylerheblichen Ausbürgerung und der mittelbaren Gruppenverfolgung armenischer Volkszugehöriger Bezug genommen. Diese geänderte Rechtsauffassung stützt sich u.a. auf eine Vielzahl von Erkenntnissen, die aus der Zeit nach dem rechtskräftigen Abschluss des ersten Asylverfahrens der Klägerin (25.01.2007) stammen. Sie stellen damit "neue" Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG dar, die im Asylerstverfahren noch nicht berücksichtigt werden konnten. Sie bieten zudem auch - grundsätzlich - die Möglichkeit einer für die Kläger günstigeren Entscheidung (vgl. ThürOVG, U. v. 02.08.2001 - 3 KO 279/99 -, Juris; U. v. 06.03.2002 - 3 KO 428799 -, NVwZ 2003, Beilage Nr. 13, 19 ff.). [...]

2. Kommt das Gericht, wie hier, zu dem Ergebnis, dass ein weiteres Asylverfahren vom Bundesamt hätte durchgeführt werden müssen, kann es die Beklagte nicht zu dessen Durchführung verurteilen, sondern es muss in der Sache selbst über den geltend gemachten Anspruch entscheiden (vgl. BVerwG, U. v. 10.02.1998 - 9 C 28.97 -, NVwZ 1998, 861 f.).

Davon ausgehend haben die Kläger einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG. […]

Die Kläger unterlagen davon ausgehend als armenische Volkszugehörige mit armenischem Namen zum Zeitpunkt ihrer Ausreise aus ihrem Heimatland Aserbaidschan (2.1) wegen ihrer gemischt armenisch/aserbaidschanischen Volkszugehörigkeit einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung (2.2) ohne die Möglichkeit einer inländischen Fluchtalternative (2.3). Nachdem die mittelbare Gruppenverfolgung von armenischen Volkszugehörigen in Aserbaidschan immer noch andauert, sind die Kläger wegen ihrer teilweisen armenischen Abstammung dort immer noch nicht hinreichend sicher (2.4). In dem Gebiet von Berg-Karabach besteht für sie zwar eine inländische Fluchtalternative. Dort droht ihnen ferner keine politische Verfolgung (2.5). Berg-Karabach ist auch vom Ausland erreichbar (2.6). Unter Berücksichtigung der dortigen Lebensbedingungen ist den Klägern ein Aufenthalt in diesem Landesteil jedoch nicht zumutbar (2.7). Es ist zudem davon auszugehen, dass das Land Aserbaidschan die Kläger wegen ihrer armenischen Volkszugehörigkeit mittlerweile faktisch ausgebürgert hat, worin eine unmittelbare staatliche Verfolgungshandlung zu sehen ist (2.8.). [...]

Insbesondere nach der persönlichen Anhörung der Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlung am 22.11.2012 geht das Gericht davon aus, dass die Kläger aus Aserbaidschan stammen und dort bis zu ihrer Flucht gelebt haben. Das Gericht hat zudem insgesamt keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin zu 1. zu ihrer Herkunft. Ihre Angaben in der mündlichen Verhandlung stimmen mit den von ihr im Erstverfahren unmittelbar nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik gemachten Angaben überein. Die Klägerin zu 1. konnte das Dorf beschreiben, in welchem sie bis zu ihrer Flucht seit Mitte der 90ziger Jahre gelebt hat. Sie war auch in der Lage, den Ort geografisch nachvollziehbar im Grenzbereich des Kernlandes Aserbaidschan zum heutigen armenisch besetzten Teil dieses Landes einzuordnen. Sie konnte plausibel darlegen, womit die Probleme ihrer Familie vor ihrer Ausreise aus Aserbaidschan begannen. Dies gilt vor allem mit Blick auf ihren armenischen Namen, der ihre Zugehörigkeit zu dieser Volksgruppe dokumentiert; das gilt ebenso für ihre minderjährige Tochter. Die im angefochten Bescheid der Beklagten vom 09.07.20001 angeführten Zweifel am Vorbringen der Klägerin zu 1. greifen nach Auffassung des Gerichts nicht durch.

Dabei steht der Glaubwürdigkeit der Klägerin zu 1. nicht entgegen, dass die im Rahmen des Verfahrens von ihrer Mutter - nicht von der Klägerin - vorgelegte Geburtsurkunde möglicherweise gefälscht sein könnte. Die von dem Bundesamt eingeholte Auskunft der Deutschen Botschaft in Baku lässt diesen Schluss schon nicht zweifelsfrei zu. Bei der Urkunde handele es sich um eine Fälschung, so die Feststellungen in der Auskunft vom 14.05.2010, weil der bestätigende Stempel der eines staatlichen Notariats sei und nach der Gesetzgebung und den geltenden Verwaltungsvorschriften Geburtsurkunden nur von den Registrierungsämtern ausgestellt und gesiegelt worden. Für solche vergleichbaren Urkunden, die in der selbständigen Republik Aserbaidschan ausgestellt werden, mag dies vielleicht gelten. Dabei wird allerdings außer Acht gelassen, dass die vorgelegte Urkunde offenbar noch zu einem Zeitpunkt ausgestellt worden war, als Aserbaidschan noch eine sowjetische Teil-Republik war. Über die Praxis der Ausstellung bzw. Siegelung von Geburtsurkunden zu dieser Zeit triff die Auskunft keine Feststellungen. Die Praxis kann zu dieser Zeit eine andere gewesen sein.

Sollte die Urkunde jedoch tatsächlich gefälscht sein, können aus deren Vorlage hier jedenfalls deshalb keine Glaubwürdigkeitszweifel im Bezug auf die Klägerin zu 1. abgeleitet werden, weil das Gericht nach deren Ausführungen hierzu in der mündlichen Verhandlung überzeugt ist, dass sie tatsächlich nicht gewusst hat, dass es sich um eine Fälschung handelt (vgl. hierzu auch VG Ansbach, U. v. 04.10.2006 - AN 15 K 04.30857 -, Juris). Nachvollziehbar und für das Gericht glaubhaft legt sie dar, bis zu den vom Bundesamt - auch erstmals im Folgeverfahren - geäußerten Bedenken von der Echtheit der Urkunde ausgegangen zu sein. In dem ersten - später aufgehobenen - Bescheid des Bundesamtes vom 20.02.2001 sei offenbar auch ohne weiteres von deren Echtheit ausgegangen worden. Ein anderer Gedanke sei ihr, so ihre Ausführungen in der mündlichen Verhandlung, auch nicht gekommen. Es handele sich nicht um die Originalurkunde, dessen sei sie sich bewusst gewesen. Anlässlich der Auseinandersetzungen zwischen Aserbaidschanern und Armeniern sei damals ihr Haus in ihrem Heimatort abgebrannt. Sie habe zu jener Zeit mitbekommen, dass auch alle Papiere verbrannt seien. Ihr Vater habe sich dann, soweit sie sich erinnere, darum bemüht, Ersatzpapiere zu erhalten. Als Kind von damals 13 oder 14 Jahren habe sie sich jedoch dafür nicht interessiert. Solche Sachen hätten ihre Eltern geregelt. Die Kammer hat keine Zweifel daran, dass die Angaben der Klägerin zu 1. richtig sind; solche hat auch die Beklagte nicht geäußert.

Der Umstand, dass die Kläger nach der Auskunft der Deutschen Botschaft in Baku vom 14.05.2010 in der dortigen nationalen Datenbank nicht erfasst sind, rechtfertigt nach Auffassung des Gerichtes nicht den Schluss, es handele sich bei ihnen nicht um Aserbaidschaner. Die Klägerin zu 1. hat hierzu vorgetragen, sie selbst habe bei der ausländischen Vertretung Aserbaidschans in Deutschland versuche, Papiere für eine Rückkehr zu erhalten. Ihre Rückkehr sei mit dem Hinweis auf die fehlenden Papiere jedoch abgelehnt worden. Die Ausstellung der erforderlichen Papiere habe man ihr mit dem Hinweis auf die armenische Endung ihres Namens "-yan" abgelehnt. Eine entsprechende Anfrage durch die Ausländerbehörde habe ebenso wenig Erfolg gehabt. Die inzwischen weitgehende Übung in Aserbaidschan, Personen armenischer Volkszugehörigkeit, die etwa am Stichtag 01.10.1998 im Ausland lebten, aus den Melderegistern zu streichen (so schon Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.05.2007, Seite 19) oder solche Personen, die sich - wie die Kläger - bereits langfristig im Ausland aufhalten, aus den Melderegistern zu löschen (so die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 02.04.2007 an das VG Münster), sind inzwischen hinlänglich bekannt (vgl. hierzu auch Ausführungen im Folgenden unter 2.8.). Der Umstand, dass die Kläger als armenische Volkszugehörige in den Registern nicht (mehr) vorhanden sind, steht damit der Annahme sie stammten aus Aserbaidschan nicht entgegen.

Letztlich steht auch die Tatsache, dass die Klägerin zu 1. sehr gut russisch spricht, nur wenig armenische und noch weniger Sprachkenntnisse in Aseri hat, der Annahme, sie stamme aus Aserbaidschan, nicht entgegen. Dies hat sie in der mündlichen Verhandlung für das Gericht nachvollziehbar erklären können. Sie sei noch zu Zeiten der Sowjetunion zur Schule gegangen. In ihrem Heimatort habe man russisch, armenisch und aseri gesprochen. Die Amtssprache sei zu dieser Zeit aber Russisch gewesen, was auch als erste Sprache in der Schule unterrichtet worden sei. Sie habe dann später, was üblich gewesen sei, eine weitere Sprache hinzu gewählt, nämlich Armenisch. In ihrer Familie sei ebenfalls überwiegend russisch gesprochen worden. Auch nachdem sie damals ihren Heimatort verlassen hatten, habe für sie keine Notwendigkeit bestanden, armenisch oder aseri zu sprechen bzw. zu lernen, da sie sich überall in Russisch habe verständigen können. Gründe, die Anlass geben, an den Ausführungen der Klägerin zu 1. zu zweifeln, sieht das Gericht nicht. Hierzu hat auch die Beklagte nichts vorgetragen.

2.2. Die Kläger unterlagen wegen ihrer gemischt armenisch-aserbaidschanischen Volkszugehörigkeit, zum Zeitpunkt ihrer Ausreise zwar keiner unmittelbaren, aber einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung. [...]

Sind Gruppenmitglieder von Verfolgungshandlungen betroffen, die als Einzelgeschehnisse einzuordnen sind, setzt eine gruppengerichtete Verfolgung eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (BVerwG, U. v. 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, a.a.O.). Davon ausgehend gibt es derzeit keine hinreichend belegten Tatsachen für eine unmittelbare Gruppenverfolgung, wenn auch gewisse Tendenzen darauf hindeuten (vgl. OVG Thüringen, U. v. 28.02.2008 - 2 KO 899/03 -, a.a.O.).

Die Kläger waren jedoch vor ihrer Ausreise einer mittelbaren Gruppenverfolgung ausgesetzt (zugleich auch für Abkömmlinge einer sog. Mischehe: OVG Rheinland-Pfalz, U. v. 20.09.2001 - 6 A 11840/00 -, Juris sowie OVG Thüringen, U. v. 19.05.2005 - 2 KO 156/03 -; grundlegend zur Gruppenverfolgung armenischer Volkszugehörige in Aserbaidschan: OVG Thüringen, U. v. 26.08. 2003 - 2 KO 155/03 -, Juris; OVG Schleswig-Holstein, U. v. 12.12.2002 - 1 L 239/01 -, Juris; U. v. 29.04.2009 - 1 LB 11/05 -, Juris; vgl. zur Problematik auch: Hessischer VGH, B. v. 30.05 2003 - 3 UE 858/02.A -, Juris; B. v. 15.09.2005 - 3 UE 2381/04.A - Juris; aus der jüngeren Rechtsprechung vgl.: OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 17.11.2008, 11 A 4395/04.A -, Juris; OVG Niedersachsen, U. v. 10.02.2010 - 13 LB 69/03 -, Juris; Bayerischer VGH, U. v. 14.04.2011 - 2 B 06.30538 -, Juris).

Ausgehend von der vorstehend zitierten Rechtsprechung, der sich die Kammer anschließt, ist festzustellen, dass die gegen die armenischen Volkszugehörigen gerichteten Maßnahmen nach ihrer Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgingen, was die Bewohner Aserbaidschans aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen hatten (vgl. BVerwG, U. v. 24.03.1987 - 9 C 321.85 -. Juris). Das von staatlichen Stellen geduldete Verhalten der aserbaidschanischen Bevölkerung gegenüber der armenischen Minderheit stellte eine Verfolgung dar. Die mehrheitliche Verweigerung von Wohnraum oder dessen "Wegnahme" der weitere Umstand, dass armenischen Volkszugehörigen in erheblichem Umfang, wenn nicht sogar gänzlich, eine ärztliche Versorgung verweigert wurde, sowie die Tatsache, dass sich weite Bevölkerungsteile schlicht weigerten, Armeniern Lebensmittel zu verkaufen, stellten Maßnahmen mit Gefahr für Leib und Leben dieser Bevölkerungsgruppe dar. Dies galt auch für die Weigerung, ihnen Arbeitsmöglichkeiten zu eröffnen. Auch wenn letzteres Verhalten nicht durchgängig zu beobachten war, so stellt es dennoch eine asylrechtlich relevante Verfolgung dar. Es führte in der praktizierten und vom Staat geduldeten Form weitgehend zu einer Vernichtung der Existenzgrundlagen der armenischen Volkszugehörigen (vgl. BVerwG, U. v. 24.03.1987, a.a.O.). Da diese Maßnahmen erkennbar an die Zugehörigkeit zur armenischen Minderheit anknüpften, stellten sie Verfolgungsmaßnahmen im Sinne einer politischen Verfolgung wegen der Nationalität dar.

Für dieses allgemeine Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmilieu und Übergriffsgeschehen in der Folge der pogromartigen Ausschreitungen und der massiven Abwanderung, dem die noch im Land verbliebene kleine Restgruppe von Armeniern und Personen mit armenischer Herkunft durch die Mehrheitsbevölkerung der Aserbaidschaner ganz allgemein ausgesetzt war, lassen sich angesichts der Größenverhältnisse quantifizierbar keine gesicherten Relationen mehr herstellen. Die Verfolgungsmaßnahmen Dritter haben keine Öffentlichkeit mehr erreicht, so dass nach Anzahl und Intensität eine Relation zwischen Restgruppe und der Bevölkerungsmehrheit gebildet werden könnte. Die erreichbaren und dargestellten Erkenntnisse vermitteln indessen in wertender Gesamtbetrachtung ein eindeutiges Bild: Angehörige der Restgruppe konnten ganz allgemein und jederzeit ohne Unterschied Opfer von Verfolgungsschlägen werden, so dass die Regelvermutung eigener Betroffenheit gerechtfertigt ist. Diese Verfolgung war dem Staat auch zurechenbar. Denn grundsätzlich obliegt es jedem Staat, allen seinen Staatsangehörigen ohne Ansehen der Person Schutz zu bieten, um eine menschenwürdige Existenz zu ermöglichen. Der aserbaidschanische Staat war, ersichtlich "schutzunwillig" (vgl. hierzu ausführlich mit Angabe umfangreicher Quellen: OVG Thüringen, U. v. 19.05.2005 - 2 O 156/03 -, a.a.O.). [...]

2.3. Wer allerdings nicht von landesweiter, sondern von nur regionaler politischer Verfolgung betroffen ist, kann die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nur dann für sich beanspruchen, wenn er landesweit in eine ausweglose Lage gerät. Das setzt voraus, dass er in anderen Teilen seines Heimatstaates eine zumutbare Zuflucht nicht finden kann. Dem in seinem Heimatstaat Verfolgten ist es grundsätzlich zuzumuten, in faktisch verfolgungsfreie Gebiete seines Heimatstaates auszuweichen (inländische Fluchtalternative), bevor er um Schutz im Ausland nachsucht (vgl. u. a. BVerfG, B. v. 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86 und 2 BvR 961/86 -, Juris).

Die Frage, ob der aserbaidschanische Staat über das unter armenischer Militärhoheit stehende Gebiet von Berg-Karabach Hoheitsgewalt ausüben konnte und ob eine solche inländische Ausweich- bzw. Zufluchtsmöglichkeit überhaupt in Betracht kam, kann die Kammer hier offen lassen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes setzt das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative jedenfalls voraus, dass die betreffende Region für den Zuflucht Suchenden auch tatsächlich erreichbar ist (vgl. hierzu BVerwG, U. v. 13.05.1993 - 9 C 59.92 -, Juris). Ist der Ort der inländischen Fluchtalternative für den Verfolgten nicht erreichbar, besteht die Möglichkeit, durch ein Ausweichen in verfolgungsfreie Zonen der Verfolgung zu entgehen, nicht. Der Bedrohte ist in einem solchen Fall - trotz des nur regionalen Charakters der Verfolgung - auf ausländischen Schutz angewiesen (vgl. BVerwG, U. v. 16.012001- 9 C 16.00 -, Juris).

Daran hat sich durch Art. 8 Abs. 3 QRL (i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG) nichts geändert. Danach schließen praktische Hindernisse eine Anwendung der Regelungen über den internen Schutz (Art. 8 Abs. 1 QRL) zwar nicht aus. Bei diesen muss es sich aber um ausräumbare bzw. vorübergehende Hindernisse handeln (vgl. OVG Thüringen, U. v. 19.05.2005 - 2 O 156/03 .-, a.a.O.). Das ist hier nicht der Fall. Auch im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger konnte man von Aserbaidschan aus in die Region von Berg-Karabach nur durch die nach wie vor streng bewachten feindlichen Linien der an der Auseinandersetzung beteiligten Militärs gelangen; damit war eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben verbunden.

Ob die Einreise in das Gebiet von Berg-Karabach gefahrlos über Armenien oder andere angrenzende Staaten möglich war, rechtfertigt keine andere Sichtweise. Diese Möglichkeit eröffnete für die Kläger keine Fluchtalternative ohne ausländischen Schutz. Die notwendige Inanspruchnahme der Hilfe eines fremden Staats, um hinreichende Verfolgungssicherheit zu erlangen, lässt das Asyl- bzw. Abschiebungsschutzrecht nicht wegen seiner Subsidiarität entfallen (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, U. v. 20.09.2001, a.a.O.). [...]

2.5. Allerdings steht den Kläger in Berg-Karabach eine inländische Fluchtalternative offen, die ihnen auf dem Gebiet ihres Herkunftslands eine verfolgungsfreie Zuflucht eröffnet. Wie bereits oben unter 2.3. ausgeführt, setzt eine inländische Fluchtalternative voraus, dass die Betroffenen in anderen Teilen ihres Herkunftslands vor (erneuter) politischer Verfolgung hinreichend sicher sind und ihnen am Ort der inländischen Fluchtalternative keine sonstigen unzumutbaren Gefahren und Nachteile drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer erheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung im Sinn von § 60 Abs. 1 AufenthG gleichkommen (BVerfG, B. v. 29.07.2003 - 2 BvR 32/03 -, Juris). Dies stimmt im Wesentlichen mit Art. 8 Abs. 1 QRL überein, nach der die Mitgliedstaaten bei der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz feststellen können, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Nach Art. 8 Abs. 2 QRL haben die Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslands die Voraussetzungen nach Abs. 1 erfüllt, die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über dessen Antrag zu berücksichtigen. Art. 8 Abs. 3 QRL bestimmt weiter, dass Abs. 1 auch dann angewendet werden kann, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen. Ob sonstige Gefahren und Nachteile am Herkunftsort so nicht bestünden, ist nach Art. 8 QRL nicht mehr maßgeblich (BVerwG U. v. 29.05.2008 - 10 C 11.07 -, Juris; OVG Nordrhein Westfalen U. v. 17.11.2008 - 11 A 4395/04.A -, a.a.O.; OVG Thüringen, U. v. 28.02.2008 - 2 KO 899/03 -, a.a.O.).

Demnach ist Berg-Karabach bezogen auf den Staat Aserbaidschan als "Inland" anzusehen. Der Bezug "Inland" gilt dabei nicht nur innerhalb eines Staates, sondern auch für solche Regionen des Staatsgebietes, in denen er seine wirksame Gebietshoheit und Verfolgungsmacht, sei es infolge eines Bürgerkrieges oder sei es wegen des Eingreifens fremder Mächte, vorübergehend eingebüßt hat (vgl. BVerwG, U. v. 08.12.1998 - 9 C 17.98 -, Juris). Die für eine so genannte inländische Fluchtalternative aufgestellten Grundsätze gelten allerdings dann nicht mehr, wenn der (Verfolgungs-) Staat in der als Alternative in Betracht gezogenen Region auf Dauer die Gebietsherrschaft verloren hat; dann wird dieses Gebiet asylrechtlich zum Ausland (in diesem Sinn zu der ähnlich gelagerten Problematik im Nordirak: BVerwG, U. v. 08. 12.1998, a.a.O.). [...]

2.7. Berg-Karabach ist für die Kläger als inländische Fluchtalternative jedoch deshalb ausgeschlossen, weil eine Rückkehr dorthin zu einer Gefährdung ihres wirtschaftlichen Existenzminimums führen würde. Nach den vorliegenden Erkenntnissen und der Rechtsprechung ist die Kammer davon überzeugt, dass die Klägerin zu 1., als alleinstehende Mutter mit einem minderjährigen Kind, in Berg-Karabach nicht in der Lage sein wird, die wirtschaftliche Existenz für sich und ihrer Tochter - die Klägerin zu 2. - zu sichern. [...]

2.8. Sollten die Klägerinnen keine aserbaidschanische Staatsangehörige mehr sein, wofür angesichts der Praxis der kalten Ausbürgerung (vgl. Ausführungen im Folgenden) durch den aserbaidschanischen Staat einiges spricht, so haben sie auch deshalb Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Aserbaidschans, weil sie von ihrer Geburt bis zur Ausreise im Jahr 2000 auf dem Territorium Aserbaidschans einen gewöhnlichen Aufenthalt hatten, allein wegen ihrer armenischen Volkszugehörigkeit nicht als aserbaidschanischer Staatsangehöriger anerkannt werden und ihnen die Wiedereinreise verwehrt wird. Die Aberkennung der Staatsangehörigkeit ist nach den Gesamtumständen im Herkunftsland auch nach der neueren Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte zu Aserbaidschan als Akt politischer Verfolgung zu werten (ThürOVG, U. v. 28.02.2008 - 2 KO 899/03 -, a.a.O. m.w.N.).

Es ist weitgehende Praxis in Aserbaidschan, dass Personen, die sich langfristig im Ausland aufhalten, aus den Melderegistern gelöscht werden (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 02.04.2007 an das VG Münster). Diese Streichung führt aber nach der aserbaidschanischen Praxis nicht zwingend zum Verlust der Staatsangehörigkeit; so werden die etwa zwei Millionen in Russland lebenden Aseris weiterhin als Staatsangehörige angesehen und erhalten von Konsulaten in Russland auch aserbaidschanische Pässe. Bezüglich amtlich armenischer Volkszugehöriger wird die Streichung im Melderegister, insbesondere nach der Stichtagsregelung, andererseits als Verlusttatbestand für die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit gehandhabt (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.05.2007, a.a.O.). Der Staat Aserbaidschan verweigere (amtlich) armenischen Volkszugehörigen ausnahmslos die Wiedereinreise (Gutachten des Transkaukasus-Instituts vom 16.04.2005 an das OVG Mecklenburg-Vorpommern, Seite 3). Das Transkaukasus-Institut berichtet in dem zitierten Gutachten von dem Fall einer armenischen Volkszugehörigen aus Aserbaidschan, die nach längerem Bemühen aus dem Ausland heraus zwar (ausnahmsweise) die Bestätigung der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit erhalten habe, der aber eine Einreise oder ein Reisepass gleichwohl verweigert wurden (ThürOVG, U. v. 28.02.2008 - 2 KO 899/03 -, a.a.O.).

2.9. Abschließend kann den Klägern auch nicht entgegengehalten werden, sie hätten in Russland bereits Sicherheit gefunden und könnten dorthin zurückkehren. Nach § 27 Abs. 1 AsylVfG kann ein Flüchtling, der bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden und dorthin zurückkehren kann, darüber hinaus seine Anerkennung als Flüchtling in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich nicht mehr beanspruchen (vgl. hierzu auch BVerwG, U. v. 08.02.2005 - 1 C 29.03 -, Juris). Nach den insoweit glaubhaften und unwidersprochenen Ausführungen der Klägerin zu 1. war sie mit ihrer Tochter - der Klägerin zu 2. - nur auf der Durchreise in Moskau. Dort haben sie lediglich einen dreiwöchigen Zwischenstopp bis zu ihrer Weiterreise auf dem Landweg nach Deutschland eingelegt. Dem hat auch die Beklagte nicht widersprochen. [...]