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LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.04.2013 - L 20 AY 153/12 B ER (= ASYLMAGAZIN 7-8/2013, S. 274 ff.) - asyl.net: M20705
https://www.asyl.net/rsdb/M20705
Leitsatz:

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verbietet eine Kürzung der Leistungen nach dem AsylbLG auf ein Niveau unterhalb desjenigen der Grundleistungen entsprechend der Übergangsregelung des BVerfG zu § 3 AsylbLG.

Schlagwörter: unabweisbar gebotene Leistungen, Menschenwürde, menschenwürdiges Existenzminimum, Existenzminimum, soziokulturelles Existenzminimum, verfassungskonforme Auslegung, Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz,
Normen: AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 4, AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 5, AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 6, AsylbLG § 3, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Nach § 1a AsylbLG erhalten Leistungsberechtigte im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 AsylbLG sowie ihre Familienangehörigen nach § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG, die sich in den Geltungsbereich dieses Gesetzes begeben haben, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen (Nr. 1), oder bei denen aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können (Nr. 2), Leistungen nach diesem Gesetz nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist.

(a) Insofern kann für das vorliegende Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes offenbleiben, ob die den Antragstellern zu erbringenden Leistungen als Grundleistungen im Sinne des § 3 AsylbLG anzusehen sind oder als unabweisbar gebotene Leistungen im Sinne von § 1a AsylbLG.

Zwar kann diese Differenzierung ggf. später einmal Bedeutung erlangen, wenn nämlich die Antragsteller für den Bezug höherer sog. Analogleistungen nach § 2 AsylbLG (bei Erfüllen der übrigen Voraussetzungen) insbesondere eine nach § 2 Abs. 1 AsylbLG erforderliche Zeit des Vorbezuges von Grundleistungen über einen Zeitraum von insgesamt 48 Monaten aufweisen müssen. Wegen der Einreise erst im Oktober 2010 sind solche Leistungen einstweilen nicht möglich. Für spätere Zeiträume wäre auf die 48-monatige Vorbezugszeit ein Bezug von Leistungen nach § 1a AsylbLG möglicherweise (selbst im Falle von wertmäßig nicht von Grundleistungen abweichenden unabweisbaren Leistungen) nicht anrechenbar, sondern nur ein Bezug von Grundleistungen nach § 3 AsylbLG.

Ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1a Nr. 1 und/oder Nr. 2 AsylbLG erfüllt sind, ob die Antragsteller also in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind, um Leistungen nach dem AsylbLG zu erhalten, bzw. ob aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von ihnen zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden können, kann einstweilen jedoch dahinstehen. Denn nachdem die Antragsgegnerin ihnen bereits Leistungen zur physischen Existenzsicherung gewährt, stehen allein noch die von vornherein als Barleistungen ausgestalteten Leistungen zur sozialen Teilhabe aus. Diese sind jedoch, ebenso wie bei Grundleistungen nach § 3 AsylbLG, auch bei den Leistungen auf dem Niveau des unabweisbar Gebotenen im Sinne von § 1a AsylbLG zu erbringen (siehe dazu sogleich); aus diesem Grunde kann die Klärung, ob den Antragstellern Leistungen nach § 3 oder nach § 1a AsylbLG zustehen, dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

(b) Der Rechtsbegriff der "unabweisbar gebotenen" Leistungen, auf deren Höhe eine Leistungskürzung auf der Rechtsfolgenseite der Norm beschränkt ist, ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass der Leistungsumfang das menschenwürdige Existenzminimum nicht unterschreiten darf (so auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 06.02.2013 - L 15 AY 2/13 B ER; SG Lüneburg, Beschluss vom 13.12.2012 - S 26 AY 26/12, SG Düsseldorf, Beschluss vom 19.11.2012 - S 17 AY 81/12 ER, SG Altenburg, Beschluss vom 11.10.2012 - S 21 AY 3362/12 ER; SG Köln, Beschluss vom 25.01.2013 - S 21 AY 6/13 ER). Dieses Existenzminimum umfasst aber nach der vom BVerfG in seiner Entscheidung vom 18.07.2012 bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung (zu § 3 AsylbLG) getroffenen Übergangsregelung nicht nur die zur Sicherung der physischen Existenz notwendigen Leistungen, sondern auch einen Barbetrag zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens im Sinne des § 3 Abs. 1 S. 4 AsylbLG, der ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben sowie die Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen (im Folgenden: soziale Teilhabe) sicherstellt (vgl. BVerfG a.a.O. Rn. 90). Insofern können sich bei summarischer Prüfung für die nach § 1a AsylbLG als unabweisbar geboten zu gewährenden Leistungen wertmäßig keine Unterschiede zu denjenigen Leistungen ergeben, die dem nach dem AsylbLG Leistungsberechtigten als Übergangsleistungen bei § 3 AsylbLG im Anschluss an die Entscheidung des BVerfG zur Verfügung zu stellen sind.

Eine dementsprechende verfassungskonforme Auslegung des § 1a AsylbLG hält der Senat bei summarischer Prüfung für möglich und geboten:

Der Begriff der "unabweisbar gebotenen" Leistungen ist als unbestimmter Rechtsbegriff auslegungsfähig und einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich. Insbesondere der Wortsinn des § 1a AsylbLG, der Ausgangspunkt, zugleich aber auch Grenze jeder Auslegung ist (vgl. hierzu u.a. BSG, Urteil vom 07.12.1989 - 12 RK 26/88, Rn. 16), steht einer Auslegung in dem Sinne, dass "unabweisbar geboten" Leistungen (wertmäßig) in Höhe des Existenzminimums sind, nicht entgegen. Ein hindernder Wille des Gesetzgebers, der im Gesetz selbst Ausdruck gefunden hätte, ist nicht erkennbar. Insbesondere fehlt es an einer in § 1a AsylbLG oder in sonstigen Vorschriften des AsylbLG festgelegten konkreten Definition der "unabweisbar gebotenen Leistungen".

Eine verfassungskonforme Auslegung des § 1a AsylbLG in dem zuvor genannten Sinne ist auch unerlässlich, weil die Vorschrift anderenfalls nicht mit dem in Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG garantierten Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar wäre. Dieses vom BVerfG im Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 und 2/11 erkannte Grundrecht begründet eine verfassungsrechtliche Garantie der Existenzsicherung als Menschenrecht. Es umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen (Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit) als auch die Sicherung eines Mindestmaßes an sozialer Teilhabe (so auch schon BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09 zur Höhe der Regelleistungen nach dem SGB II). Als Leistungsanspruch ist es allerdings vom Gesetzgeber zu konkretisieren; diesem obliegt es, seine Entscheidung im Rahmen der Ausgestaltung des verfassungsrechtlichen Anspruchs an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen auszurichten.

(c) Ausgehend hiervon kann im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes die Frage offenbleiben, ob die Regelung des § 1a AsylbLG das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bereits insofern verletzt, als sich die darin vorgesehene Leistungseinschränkung nicht an konkreten Bedarfen des von § 1 AsylbLG begünstigten Personenkreises, also an bedarfsspezifischen Gesichtspunkten, orientiere, sondern ausschließlich migrationspolitisch motiviert sei (in diesem Sinne - allerdings ohne Begründung - Classen, Flüchtlingsrat Berlin, Stand: 05.12.2012, "Das BVerfG-Urteil zur Verfassungswidrigkeit des AsylbLG", unter www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/asylblg/ BVerfG-AsylbLG-Urteil.html.; a.A. wohl Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Sozialhilfe, 4. Auflage 2012, § 1a Rn. 2; Oppermann in jurisPK-SGB XII, § 1a AsylbLG Rn. 9; Rothkegel, "Das Gericht wird´s richten - das AsylbLG-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Ausstrahlungswirkungen", in ZAR 10, 2012, S. 360 f., 364; Hohm, Kommentar zum AsylbLG, § 1a Rn. 13). Gleiches gilt im Hinblick auf die Frage, ob § 1a AsylbLG zu unbestimmt bzw. unverhältnismäßig ist, etwa weil die Vorschrift - jedenfalls nach ihrem Wortlaut - eine zeitlich unbegrenzte Sanktionsmöglichkeit eröffne, diese im Rahmen der Nr. 2 der Vorschrift nicht von der vorherigen Aufforderung zu einer konkreten und zumutbaren Mitwirkungshandlung und einem Hinweis auf die Folgen bei unterbliebener Mitwirkung abhängig mache und schließlich die Leistungshöhe in das Belieben der Exekutive stelle.

(d) Denn § 1a AsylbLG ist - unabhängig von den Gründen der darin vorgesehenen Leistungskürzung bzw. seiner Voraussetzungen - (nur) dann mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar, wenn die "unabweisbar gebotenen" Leistungen das menschenwürdige Existenzminimum nicht unterschreiten.

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verbietet bei summarischer Prüfung eine Kürzung der Leistungen nach dem AsylbLG auf ein wertmäßiges Niveau unterhalb desjenigen der Grundleistungen entsprechend der Übergangsregelung des BVerfG zu § 3 AsylbLG. Denn der Umfang dieser Grundleistungen geht nicht über die bloße Existenzsicherung hinaus. Zugleich muss das Existenzminimum entsprechend der Entscheidung des BVerfG vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 und 2/11 (ähnlich schon BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09 zur Höhe der Regelleistungen nach dem SGB II) "in jedem Fall und zu jeder Zeit" sichergestellt sein bzw. "stets" den gesamten existenznotwendigen Bedarf eines jeden individuellen Grundrechtsträgers decken.

Insoweit verkennt der Senat nicht, dass das BVerfG zu einer Kürzung von Leistungsansprüchen im AsylbLG, namentlich zur Regelung des § 1a AsylbLG, keine eigenen Ausführungen gemacht hat; die seiner Entscheidung zugrunde liegenden Vorlagefragen (vgl. Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse nach Art. 100 Abs. 1 GG des LSG Nordrhein-Westfalen vom 26.07.2010 - L 20 AY 13/09 und vom 22.11.2010 - L 20 AY 1/09) boten ihm hierzu keine Veranlassung. Das BVerfG hat die nähere Charakterisierung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vielmehr im Zusammenhang mit der Frage vorgenommen, ob der gesetzliche Anspruch auf Leistungen für ein menschenwürdiges Existenzminimum - seiner Höhe nach - auch bei einer nur kurzen Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland vollumfänglich - also hinsichtlich der physischen Existenz und einem Mindestmaß an sozialer Teilhabe - sichergestellt sein muss, und ob dies bei den Grundleistungen des § 3 AsylbLG der Fall ist. Der Senat sieht darüber hinaus auch, dass das BVerfG von der ihm nach § 78 S. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eröffneten Möglichkeit, zur Verfassungsmäßigkeit des § 1a AsylblG bzw. sonstiger Vorschriften des AsylbLG Stellung zu nehmen, die nicht Gegenstand der Vorlagefragen waren, keinen Gebrauch gemacht hat.

Gleichwohl erscheint die nähere Charakterisierung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch das BVerfG in einer Weise unmissverständlich und insbesondere vorbehalt- bzw. bedingungslos (vgl. o.), dass für Leistungsabsenkungen auf ein Niveau unterhalb von das Existenzminimum sichernden Leistungen kein Raum bleibt; dabei kann es keinen Unterschied machen, ob es sich bei näherer rechtlicher Verortung um Grundleistungen nach § 3 AsylbLG handelt, welche erst durch die Übergangsregelung des BVerfG einen grundrechtswahrenden Umfang erhalten haben, oder ob es um Leistungen auf dem Niveau des "unabweisbar Gebotenen" nach § 1a AsylbLG geht (die Unzulässigkeit einer Kürzung nach § 1a AsylbLG auf ein Niveau unterhalb des Existenzminimums bejahen ferner LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 06.02.2013 - L 15 AY 2/13 B ER; SG Lüneburg, Beschluss vom 13.12.2012 - S 26 AY 26/12, SG Düsseldorf, Beschluss vom 19.11.2012 - S 17 AY 81/12 ER, SG Altenburg, Beschluss vom 11.10.2012 - S 21 AY 3362/12 ER; SG Köln, Beschluss vom 25.01.2013 - S 21 AY 6/13 ER; SG Leipzig, Beschluss vom 20.12.2012 - S 5 AY 55/12 ER, SG Gelsenkirchen, Beschluss vom 21.01.2013 - S 32 AY 120/12, SG Magdeburg, Beschluss vom 24.01.2013 - S 22 AY 25/12 ER; SG Stade, Beschluss vom 28.01.2012 - S 19 AY 59/12 ER; SG Würzung, Beschluss vom 01.02.2013 - S 18 AY 1/13 ER).

Insbesondere lässt sich im Rahmen von § 1a AsylbLG - entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin - das zur Gewährleistung des Existenzminimums Unerlässliche unter Berücksichtigung der Vorgaben des BVerfG nicht allein auf einen "Kernbereich" vor allem der physischen Existenz reduzieren.

Zwar herrschte vor der Entscheidung des BVerfG zum AsylbLG in der Literatur Unklarheit darüber, in welcher Höhe die Verfassung jenseits der Bestimmung des physischen Existenzminimums Mindestsicherungen gebietet. Dabei reichten die Standpunkte von der Sicherung allein des physischen Existenzminimums (also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit) bis zum Schutz eines "sozialen" Existenzminimums bzw. eines "soziokulturellen" Minimums (vgl. zu den verschiedenen Literaturstimmen die Darstellung in BSG, Urteil vom 22.04.2008 - B 1 KR 10/07 R Rn. 35 ff.). Eine derartige Aufspaltung des Existenzminimums in einen unantastbaren physischen Kernbereich und einen ganz oder teilweise vernachlässigungsfähigen gesellschaftlich-kulturellen Teilhabebereich ist jedoch mit dem einheitlichen Gewährleistungsumfang des Grundrechts unvereinbar. Denn bietet Art. 1 Abs. 1 i.Vm. Art. 20 Abs. 1 GG - so ausdrücklich das BVerfG (vgl. a.a.O. Rn. 90 und 129) - eine einheitliche grundrechtliche Garantie auf die zur Wahrung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen materiellen Voraussetzungen, so lässt dies keinen Raum für eine Reduzierung des Grundrechts auf einen Kernbereich der physischen Existenz. Das Minimum für die Existenz bezeichnet vielmehr bereits denklogisch einen nicht unterschreitbaren Kern. Der gesamte Leistungsumfang des Existenzminimums muss somit zugleich sein Mindestinhalt sein (so auch Neskovic/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV - Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, in SGb 2012, S. 134 ff., 137), der "in jedem Fall und zu jeder Zeit" gewährleistet sein muss. [...]