1. Die Regelungen des Ausländerrechts sind nicht binnenschifffahrtsspezifisch und stellen daher keine unzulässige Beschränkung der freien Schifffahrt i.S. der Rheinschifffahrtsakte dar.
2. Wird ein Strafverfahren wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO eingestellt, handelt es sich auch ausländerrechtlich um einen geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften.
3. Bei der Ermessensausweisung eines Arbeitnehmers ist auch die dessen Arbeitgeber zustehende Dienstleistungsfreiheit in den Blick zu nehmen.
(Amtliche Leitsätze)
[...]
Rechtsgrundlage für die Ausweisung der Kläger ist § 55 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 AufenthG. Danach kann ein kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt (Abs. 1). Er kann insbesondere ausgewiesen werden, wenn er einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen hat (Abs. 2 Nr. 2).
Es bedarf vorliegend keiner abschließenden Entscheidung, ob ein Verstoß gegen Rechtsvorschriften vorliegt, denn dieser wäre nicht nur als geringfügig zu qualifizieren, sondern es sind auch die getroffenen Ermessenserwägungen zu beanstanden.
Soweit die Kläger darauf abstellen, dass sie im Hinblick auf § 25 Abs. 1 AufenthV bzw. das seit August 2011 gültige Visa-Handbuch (DE) sowie dessen Anhang 5 in der Fassung vom 11.11.2011 von der Visumspflicht befreit sind, übersehen sie, dass dies nur für die Einreise und für Aufenthalte bis zu drei Monaten innerhalb eines Zeitraums von zwölf Monaten seit der ersten Einreise gilt. Die Kläger sind jedoch nach den Feststellungen der Wasserschutzpolizei an 158 bzw. 168 Tagen und damit an mehr als drei Monaten innerhalb des letzten Jahres einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Damit können sie sich nicht mit Erfolg darauf berufen, ohne dass es darauf ankommt, wie die Tatsache zu bewerten ist, dass es für Rheinschiffer anders als für die Donauschifffahrt keinen generellen Binnenschifffahrtsausweis für die Rheinschifffahrt gibt oder inwieweit das niederländische Schifferdienstbuch diesem gleichzustellen wäre. Es ist auch nicht entscheidungserheblich, ob die völkerrechtliche Regelung in Art. 1 Abs. 2 der Revidierten Rheinschiffahrtsakte vom 17. 10.1868 - Mannheimer Akte - i.d.F. der Neubekanntmachung vom 11.03.1969 (BGBl. II, S. 597), wonach abgesehen von diesen Vorschriften kein Hindernis, welcher Art es auch sein mag, der freien Schifffahrt entgegen gesetzt werden soll, der Forderung nach dem im vorliegenden Verfahren relevanten Vander-Elst-Visum entgegen steht. Im Protokoll 10 Auslegungsprinzipien für die Mannheimer Akte wird wie folgt geregelt:
"2.3 Beschränkungen der freien Schifffahrt liegen insbesondere grundsätzlich vor,
2.3.1 wenn eine Regelung rheinschifffahrtsspezifisch ist und die Schifffahrtsverhältnisse beeinträchtigt,
2.3.2 wenn Maßnahmen oder Vorschriften zu schweren Störungen der Schifffahrt führen,
2.3.3 wenn für die Nutzer der Wasserstraße ein Gebot oder Verbot besteht, dessen Missachtung mit Sanktionen im Schifffahrtsbereich oder im Bereich einer mit der Schifffahrt direkt verbundenen Tätigkeit geahndet wird,
2.3.4 wenn eine Vorschrift, die nicht direkt die Schifffahrt betrifft (nicht binnenschifffahrtsspezifische Vorschrift), indirekt eine unverhältnismäßige Beschränkung für die Schifffahrt darstellt.
2.4 Beschränkungen der freien Schifffahrt bestehen dagegen insbesondere grundsätzlich nicht
2.4.1 bei der Anwendung von zivilrechtlichen oder handelsrechtlichen Vorschriften, die sich auf die Binnenschifffahrt beziehen (Beispiel: Regime des Beförderungsvertrags in der Binnenschifffahrt),
2.4.2 bei nicht binnenschifffahrtsspezifischen Vorschriften (Beispiel: Vorschriften allgemeiner Art zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, wie Vorschriften über den Waffenbesitz, die Verwendung gewisser Produkte oder allgemeine sozialrechtliche Vorschriften),
2.4.3 bei kurzfristiger Unterbrechung des Schiffsverkehrs unter den in der Polizeiverordnung festgelegten Bedingungen."
Es spricht somit manches dafür, dass nicht binnenschiffahrtsspezifische Vorschriften und Vorschriften, die im allgemeinen Ordnungsrecht wurzeln, wie die Regelungen des Ausländerrechts, anzuwenden sind.
Voraussetzung für eine Ausweisung ist aber ferner, dass es sich um einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß handelt. Es fehlt jedoch schon an dieser tatbestandlichen Voraussetzung. Denn es handelt sich nur um einen geringfügigen Verstoß. Das ergibt sich schon daraus, dass in den ergänzenden Hinweisen des Innenministeriums Baden-Württemberg zu Nr. 2.2.4 der AufenthG-VwV wie folgt geregelt ist:
"Die in § 25 der Aufenthaltsverordnung vorgesehene Befreiungsmöglichkeit für Arbeitnehmer in der internationalen zivilen Binnenschifffahrt setzt den Besitz eines Binnenschifffahrtsausweises oder eines ausländischen Passes oder Passersatzes, in dem die Eigenschaft als Rheinschiffer bescheinigt ist, voraus (§ 25 Abs.1 Nr. 3 AufenthV). Drittstaatsangehörige, die an Bord eines Binnenschiffes ohne ein solches Ausweispapier in das Bundesgebiet einreisen, benötigen daher grundsätzlich einen Aufenthaltstitel (§ 4 Abs. 3). Seit der Abschaffung des so genannten Dreisprachenstempels durch die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt zum 31. Dezember 2004 gibt es jedoch für den Rhein keinen Binnenschifffahrtsausweis im Sinne des § 25 AufenthV. Die Generalstaatsanwälte Karlsruhe und Stuttgart haben die Rechtslage deshalb dahingehend bewertet, abgestimmt und bundesweit gesteuert, dass in diesen Fällen zwar der Tatbestand des unerlaubten Aufenthalts (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3) erfüllt ist. Jedoch wird von einer Verfolgung gemäß § 153 Abs. 1 StPO abgesehen, da eine mögliche Schuld als gering anzusehen ist. Vor diesem Hintergrund bestehen keine Bedenken, wenn auch von der Verfolgung der Ordnungswidrigkeit (§ 98 Abs. 1 und Abs. 2a bzw. § 404 Abs. 2 Nr. 3 und 4 SGB III) abgesehen wird."
Wenn selbst die Strafverfolgungsbehörden diese Vergehen als geringfügig ansehen und dies durch die Verfahrenseinstellung gemäß § 153 StPO dokumentieren, der voraussetzt, dass nicht nur die Schuld des Täters als gering anzusehen ist, sondern auch kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht, ergibt sich schon aus der strafrechtlichen Bewertung, dass es sich um ein als geringfügig zu bewertendes Delikt handelt (vgl. BVerwG, U. v. 18.11.2004 - 1 C 23.03 -, juris). Was eine ggf. davon abweichende ausländerrechtliche Bewertung anbelangt, so darf nicht außer Acht bleiben, dass es sich um einen Formalverstoß handelt, der problemlos durch ein Vander-Elst-Visum hätte aus der Welt geschafft werden können. Soweit die Widerspruchsbehörde darauf abstellt, den Klägern sei ein erhöhter Vorwurf deshalb zu machen, weil sie vorsätzlich gehandelt hätten, nachdem sie mit Schreiben vom 10.05.2011 darauf hingewiesen worden seien, dass zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit ein deutscher Aufenthaltstitel erforderlich sei, vermag das Gericht dem nicht zu folgen. Denn das entsprechende Schreiben war an den Arbeitgeber der Kläger gerichtet, die zu diesem Zeitpunkt auch den Rechtsanwalt, über den der Schriftwechsel erfolgt war, nicht beauftragt hatten. Es handelt sich ferner um einen einzelnen Verstoß der Kläger.
Weiter erweisen sich die angefochtenen Ausweisungsverfügungen auch deshalb als rechtswidrig, weil die hierin getroffenen Ermessenserwägungen nicht den Anforderungen des § 114 S. 1 VwGO genügen. Dem Gericht kommt insoweit zwar eine nur reduzierte Überprüfungskompetenz zu, es hat jedoch zu überprüfen, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Dies ist vorliegend schon deshalb der Fall, weil ausweislich der Widerspruchsbegründung zu Unrecht davon ausgegangen wurde, dass die Kläger vorsätzlich gehandelt haben und sich in Kenntnis der Rechtslage hartnäckig geweigert haben, ein Visum zu beantragen. Das trifft nicht zu, weil die Kläger nicht entsprechend durch die Beklagte aufgeklärt worden waren. Hinzu kommt, dass die Beklagte versäumt hat, darauf einzugehen, dass ein mögliches Visum eine reine Formsache wäre, d.h. ggf. ein Rechtsanspruch hierauf besteht. Hinzu kommt, dass die Beklagte auch den Grundsatz europafreundlichen Verhaltens, d.h. die Auswirkungen auf die dem Arbeitgeber der Kläger zustehende Dienstleistungsfreiheit, die im Hinblick auf die Folgen des § 11 AufenthG tangiert ist, nicht in ihre Überlegungen mit einbezogen hat, der im Rahmen der Überprüfung, inwieweit sich eine Ausweisung noch als verhältnismäßig erweist, ebenfalls zu beachten ist.
Nachdem somit die Ausweisungsverfügungen aufzuheben sind, sind auch die gemäß § 60 AufenthG verfügten Abschiebungsandrohungen aufzuheben. Diese haben sich durch die in der Zwischenzeit erfolgte freiwillige Ausreise der Kläger nicht erledigt, da die Kläger deutlich gemacht haben, dass sie das Verfahren weiter betreiben. [...]