Die Verfolgungswahrscheinlichkeit von bekennenden Ahmadis in Pakistan muss als sehr hoch eingeschätzt werden. Die Flüchtlingsanerkennung ist auch bei erzwungenem Verzicht auf öffentlichkeitswirksame Religionsausübung möglich (im Anschluss an EuGH, Urteil vom 05.09.2012, Rs. C-71/11 u.a. <Y und Z> sowie BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12).
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
5. Die beschriebene Lage hat sich für Ahmadis auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht entscheidungserheblich verändert. Der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 02.11.2012 geht von drei bis vier Millionen Ahmadis in Pakistan aus, wovon 500.000 bis 600.000 Mitglieder "bekennend" seien. Im aktuellen Pakistan-Report der UK-Border-Agency vom 07.12.2012 (zitiert nach Abs.; hier: Abs. 19.98) ist von 291.000 bzw. 600.000 Ahmadis die Rede. Laut dem International Religious Freedom Report Pakistan des United States Department of State for 2011 (S. 2, Sektion I.) sind allerdings überhaupt keine verlässliche Daten erreichbar bezüglich der Anzahl der Ahmadis, die sich aktiv an religiösen Ritualen oder Gottesdiensten beteiligen. Vergleichbares gilt offenbar bezüglich der Ermittlung von verlässlichen Daten zur Frage der Häufigkeit von Übergriffen auf Ahmadis in Pakistan (vgl. Pakistan-Report vom 07.12.2012, Abs. 19.162). Das Gericht sieht daher keinen erfolgversprechenden Ansatz für weitere Ermittlungen in tatsächlicher Hinsicht; die Beklagte hat einen solchen auch nicht aufgezeigt. In dem Bericht "Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011" (Annex II), den auch das Upper Tribunal - Immigration and Asylum Chamber in seinem Urteil "MN and others" (Pakistan CG <2012> UKUT 00389<IAC>) vom 13.11.2012 als relevant angesehen hat (dort Rn. 30, Fn. 6), werden im Zeitraum April 1984 bis 31. 12.2011 offiziell registrierte "Police Cases" gegen Ahmadis von insgesamt 3.820 aufgeführt, davon 299 wegen "Blasphemie", zuzüglich von über 60.000 Verfahren (wegen Sec. 298 C) gegen die gesamte Bevölkerung von Rabwah, die 2009 noch anhängig gewesen seien (Abs. 19.136). Der Pakistan-Report der UK-Border-Agency vom 07.12.2012 (Abs. 1949) spricht im Zeitraum 1986 bis 2006 allein von 695 Anklagen wegen Blasphemie; insgesamt seien im Zeitraum 1984 bis 2004 über 5.000 Anklagen gegen Ahmadis ergangen. Im Juni 2011 seien mindestens 14 Verfahren gegen Ahmadis anhängig gewesen, in denen die Todesstrafe verhängt worden sei (Abs. 1939). 2010 seien zwei wegen Blasphemie angeklagte Christen und zwei Muslims getötet worden (Abs. 19.47). Von 1984 bzw. 1987 bis 2011 seien 1.117 Personen wegen Blasphemie angeklagt (Abs. 19.50) und nachweisbar 210 Ahmadis wegen ihres Glaubens umgebracht worden; zudem wisse man von 254 entsprechenden Mordversuchen (Abs. 10.131). In Pakistan könne heute zudem jedermann einen Ahmadi wegen Blasphemie anzeigen, möglicherweise auch aus eigensüchtigen Motiven, ohne dass sich der Anzeigende selbst der Gefahr der Verfolgung wegen falscher Anschuldigungen aussetze. Eine Anzeige habe nicht selten auch erhebliche Konsequenzen für die Angezeigten und ihre Familien dahingehend, dass sie hernach Opfer von Gewalttaten seitens nicht-staatlicher Akteure werden. Selbst Richter werden offenbar nicht selten ungestraft von religiösen Fanatikern erpresst (Abs. 19.35 und 19.57). Dies alles nutze und nutzt bis heute etwa die islamistische Gruppierung "Khatm-e-Nabuwwat" ("Siegel der Prophetenschaft") zur Verfolgung von Ahmadis (vgl. auch AA, Lagebericht 02.11.2012, S. 14). Gerichtliche Todesurteile würden zwar wohl nicht vollstreckt (Abs. 19.59). Aber selbst, wenn ein Rechtsmittelgericht einen Ahmadi letztlich freispreche, würden die Angeklagten nach entsprechenden Anzeigen meist jahrelang in Haft gehalten, weil auch eine Freilassung gegen Kaution in der Regel scheitere (Abs. 19.53). In Haft aber sei, ebenso wie auf Polizeistationen, die Folterung mittels verschiedenster Methoden weit verbreitet bzw. an der Tagesordnung (vgl. United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices Pakistan for 2011, S. 6). Dies berichtet auch das Auswärtige Amt; bei den 2011 in Haft verstorbenen 92 Strafgefangenen sei zu vermuten, dass in der Mehrzahl Folter zum Tod beigetragen habe oder sogar die Todesursache gewesen sei (Lagebericht Pakistan vom 02.11.2012, S. 23).
Neben staatlichen Verfolgungsmaßnahmen leiden Ahmadis in Pakistan offenbar immer wieder ganz erheblich unter Verfolgungsmaßnahmen von privaten Akteuren, die allerdings zahlenmäßig kaum seriös zu quantifizieren sind. Gegen brutal vorgehende Extremisten, oft angefeuert durch entsprechende Mullahs, können Ahmadis in aller Regel keinerlei effektiven Schutz erlangen (UNHCR - Eligibility Guidelines for assessing the international protection needs of members of religious minorities from Pakistan v. 14.05.2012 <HCR/EG/PAK/12/02>, S. 22), wie zahlreiche bekannt gewordene Fälle belegen (Pakistan-Report der UK Border Agency vom 07.12.2012, Abs. 1912, 19.27, 19.44, 19.121, 19.127, 19.145, 19.60). Mordaufrufe und entsprechende Flugblätter zeigten oftmals unmittelbar Wirkung. Exemplarisch kann ein Vorfall vom 28.05.2010 zitiert werden, bei dem Extremisten der "Khatm-e-Nabuwwat"-Gruppierung beim Freitagsgebet in Lahore gut koordinierte Angreifer vor zwei Ahmadi-Moscheen "Kill-all !"-Rufe skandieren und schließlich die Moscheen stürmen ließen; am Ende wurden 85 Ahmadis getötet und 150 weitere verletzt (Abs. 19.125). Dieses Bild der Schutzlosigkeit der Ahmadis wird ergänzt durch die seit 2011 zunehmenden Berichte von Schändungen von Ahmadi-Gräbern im gesamten Punjab (Abs. 19.156). Zudem schwenken offenbar in jüngerer Zeit die Medien, nicht nur das staatliche Fernsehen, sondern auch die traditionell eigentlich liberale englischsprachige Presse, auf die Anti-Ahmadi-Rhetorik ein. Dies hat offenbar zur Folge, dass sich die Auffassung, Ahmadis folgten einer Irrlehre und seien keine Muslime bzw. Apostaten, in der Mehrheitsbevölkerung allgemein durchzusetzen beginnt, was zu einer weiteren Verschärfung der allgegenwärtigen Diskriminierungen der Ahmadis führt (Abs. 19.150). Vor diesem Hintergrund ist auch keine innerstaatliche Fluchtalternative bzw. interner Schutz erkennbar. In der Gesamtschau ergibt sich vielmehr landesweit ein überaus düsteres Bild. Ahmadis scheinen im heutigen Pakistan in gewisser Weise im mittelalterlichen Sinne "vogelfrei".
6. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - ausgeführt, dass im Rahmen der Gefahrenprognose zunächst "die Zahl der ihren Glauben in strafrechtlich verbotener Weise praktizierenden Ahmadis jedenfalls annäherungsweise zu bestimmen ist. In einem weiteren Schritt ist sodann festzustellen, wie viele Verfolgungsakte die Angehörigen dieser Gruppe treffen. Dabei ist insbesondere zu ermitteln, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ahmadi inhaftiert und bestraft wird, der entgegen den Vorschriften des Pakistan Penal Code bei seiner Glaubensausübung religiöse Begriffe und Riten des Islam benutzt, seinen Glauben öffentlich bekennt oder für ihn wirbt" (vgl. Rn. 33). Dies muss mit verfügbaren Erkenntnisquellen, gegebenenfalls durch Heranziehung eines Sachverständigen ermittelt werden (vgl. Rn. 45).
Nach den in das Verfahren eingeführten und oben zitierten Erkenntnisquellen ist in diesem Sinne davon auszugehen, dass in Pakistan heute etwa 4 Millionen Ahmadis leben. Die Zahl der "bekennenden Ahmadis" wird mit 500.000 bis 600.000 angegeben. Insbesondere zur Frage, wie viele Ahmadis hiervon ihren Glauben in strafrechtlich verbotener Weise praktizieren bzw. aus Angst vor solcher Verfolgung auf eine entsprechende Glaubensbetätigung erzwungenermaßen verzichten, hat das Gericht am 13.03.2013 als Sachverständigen ausführlich Herrn K. der Frankfurter Ahmadi-Gemeinde angehört. Nach dessen überzeugenden Ausführungen sind heute rund 400.000 Ahmadis durch regelmäßige Kontakte mit den lokalen Gemeinden bekannt und ihre Religion bekennend, wovon "durchaus fast alle unter den gegebenen Möglichkeiten öffentlichkeitswirksam aktiv" seien. Die große Masse dieser aktiven Ahmadis müsse allerdings aus Angst vor Verfolgungsmaßnahmen auf die öffentlichkeitswirksame Praxis ihres Glaubens verzichten. Damit ist davon auszugehen, dass "die Zahl der ihren Glauben in strafrechtlich verbotener Weise praktizierenden Ahmadis" bzw. erzwungenermaßen hierauf verzichtenden Ahmadis annäherungsweise mit 300.000 bis 400.000 zu bestimmen ist.
Registrierte staatliche Verfolgungsakte sind nach den verfügbaren Erkenntnisquellen in einer Größenordnung von mindestens 60.000 nachweisbar, wenn nur die 60.000 registrierten Verfahren (wegen Sec. 298 C) in Rabwah in den Blick genommen werden. Hinzu kommen die weiteren offiziell registrierten "Police Cases" sowie natürlich die zahlreichen Verfolgungsakte durch nichtstaatliche Akteure, die allerdings nicht seriös quantifizierbar sind.
Dies alles weist auf die sehr hohe Wahrscheinlichkeit hin, dass ein Ahmadi inhaftiert und bestraft wird, der entgegen den Vorschriften des Pakistan Penal Code bei seiner Glaubensausübung religiöse Begriffe und Riten des Islam benutzt, seinen Glauben öffentlich bekennt oder für ihn wirbt. Bestätigt wird diese Einschätzung durch den Bericht des Sachverständigen K., der davon ausgeht, dass ein solches Verfolgungsrisiko mit annähernd 100 % zu beziffern ist. Eine solch extrem hohe Verfolgungswahrscheinlichkeit lässt sich den in das Verfahren einbezogenen Erkenntnisquellen allerdings nicht entnehmen. Soll eine Relationsbetrachtung auf deren Grundlage erstellt werden, müsste nach dem oben Ausgeführten aber von einer Verfolgungswahrscheinlichkeit zumindest im Verhältnis 1:10 oder sogar 1:5 ausgegangen werden. Hieraus kann nach Überzeugung des Gerichts ohne Weiteres der Schluss gezogen werden, dass für die Gruppe der ihren Glauben in einer verfolgungsrelevanter Weise praktizierenden Glaubensangehörigen der Ahmadi in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko besteht. Und dies erlaubt des Weiteren die Schlussfolgerung, dass die Gruppe der Ahmadis, zu deren religiöser Identität bzw. zu deren religiösem Selbstverständnis unverzichtbar die verfolgungsträchtige Praktizierung des Glaubens auch in der Öffentlichkeit gehört, landesweit von den Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit in flüchtlingsrechtlich beachtlicher Weise betroffen ist. Denn bei dieser wertenden Betrachtung ist das erhebliche Risiko für Leib und Leben - insbesondere jahrelange Inhaftierung mit Folter - zu berücksichtigen, sodass an den Nachweis der Verfolgungswahrscheinlichkeit keine überspannten Anforderungen gestellt werden dürfen. Es entspricht der überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung auch dann vorliegen kann, wenn aufgrund einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber - wie im Falle der Ahmadi in Pakistan - die jahrelange Haft, Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 - juris Rn. 17). Ist demnach ein aktiv bekennender Ahmadi gegeben, für den auch die öffentliche Glaubensbetätigung zur Wahrung seiner religiösen Identität unverzichtbar ist, muss landesweit von einem realen Verfolgungsrisiko ausgegangen werden, ohne dass eine inländische Fluchtalternative bzw. interner Schutz besteht.
II.
Gemessen an den dargelegten Maßstäben war der Kläger vor seiner Ausreise aus Pakistan von individueller Verfolgung bedroht gewesen. Denn er hat glaubhaft und überzeugend ausgeführt, dass er in seiner Heimat immer wieder nur wegen seines Glaubens von Ahmadi-Gegnern verprügelt und misshandelt worden ist. Der Kläger kann sich mithin auch auf die Beweiserleichterung des § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 QRL berufen.
Selbst wenn aber nicht von einer Vorverfolgung ausgegangen werden könnte, wäre der Kläger derzeit als aktiver bekennender Ahmadi in Pakistan einer ihn individuell treffenden Verfolgungsgefahr im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt. Ihm ist eine Fortführung seiner öffentlichkeitswirksamen religiösen Betätigung als Angehöriger der Ahmadis bei einer Rückkehr nach Pakistan im oben dargelegten Sinne nicht ohne konkrete Gefahr von erheblicher Verfolgung, ja unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. a QRL möglich.
Nach der ausführlichen Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung steht für das Gericht fest, dass für ihn die Ausübung der religiösen Praxis zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist. Die auch öffentliche Glaubensbetätigung ist ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar. Denn der Kläger, der seit seiner Geburt Ahmadi ist, ist mit seinem Glauben überaus eng verbunden, hat diesen in der Vergangenheit regelmäßig ausgeübt und praktiziert ihn auch gegenwärtig in vielfältiger Weise. Der Kläger wurde vom erkennenden Gericht als religiös geprägte Persönlichkeit erlebt. Alle Fragen zu seiner Religionszugehörigkeit und Religionsausübung hat er überzeugend beantwortet. Stets hat der Kläger an den verschiedenen Orten die Gottesdienste der Ahmadi besucht. Auch im Bundesgebiet lebt er seinen Glauben aktiv und auch in der Öffentlichkeit. Für den Kläger ist das Befolgen der Regeln seiner Religion, etwa das regelmäßige Beten ein wesentlicher Teil seines Tagesablaufs. Die Teilnahme an den religiösen Veranstaltungen der Ahmadi-Gemeinde sind für ihn eine Selbstverständlichkeit. Er konnte im Übrigen die Fragen des Gerichts zu seiner Glaubensgemeinschaft, deren Gründer und deren Grundprinzipien überzeugend beantworten und führte aus, dass er mit seiner Religion überaus vertraut ist. Der Kläger steht nach alledem nach Überzeugung des Gerichts in einer engen und verpflichtenden Beziehung zum Glauben der Ahmadis, so dass ihm auf der Grundlage der obigen Ausführungen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. [...]