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VG Schwerin

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Zitieren als:
VG Schwerin, Beschluss vom 05.06.2013 - 3 B 285/13 As - asyl.net: M20814
https://www.asyl.net/rsdb/M20814
Leitsatz:

Es spricht einiges dafür, dass die Anforderungen an Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2003/9/EG (Aufnahmerichtlinie) bei einer Betroffenen mit besonderen Bedürfnissen (vorliegend: posttraumatische Belastungsstörung) nur durch eine muttersprachliche Behandlung gewährleistet werden kann.

Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kann eine fachärztliche Verdachtsdiagnose und -prognose bezüglich einer psychischen Erkrankung genügen, wenn die Behandlung erst vor kurzem begonnen wurde. Dies gilt auch wenn sie hinter den Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts für den Beweisantrag bei posttraumatischen Belastungsstörungen zurückbleibt.

(vgl. auch VG Schwerin, Beschluss vom 18.04.2013 - 3 B 693/12 As - M20594)

Schlagwörter: Posttraumatische Belastungsstörung, psychische Erkrankung, ärztliches Attest, Anforderungen an ein ärztliches Attest. Attest, Anforderungen, Dolmetscher, Psychiater, Facharzt für Psychiatrie, Verdacht, Verdachtsdiagnose, Verdacht auf posttraumatische Belastungsstörung, Verteilungsverfahren, länderübergreifende Umverteilung, medizinische Versorgung, muttersprachliche Behandlung, Muttersprache, besonders schutzbedürftig,
Normen: RL 2003/9/EG Art. 15 Abs. 2, AsylVfG § 55 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

a) Soweit der Antragsgegner auf Behandlungsmöglichkeiten in Mecklenburg-Vorpommern mit Hilfe von Dolmetschern verweist, ist daran zu erinnern, dass die Antragstellerin zu 2) nach Angaben des fachärztlichen Attests vom 3. September 2009 an einer depressiven Erkrankung bei Verdacht auf posttraumatische Belastungsstörung leidet. Der Zustand der Antragstellerin hat sich nach dem Inhalt des weiteren Attests vom 25. Mai 2013 noch verschlechtert. Dort wird auch ohne Einschränkung eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.

Bei der Therapie einer solchen Erkrankung geht es nicht nur um die Feststellung von Fakten, sondern um die Aufarbeitung traumatisierender Erlebnisse und zumeist auch um intime Dinge, bei der die Anwesenheit einer dritten Person, auch wenn sie zur Verschwiegenheit verpflichtet ist, hemmend wirkt. Anders als in einer einmaligen Gutachtensituation muss der Therapeut bei der längerfristigen Behandlung muttersprachliche Nuancen und umgangssprachliche oder kulturell bedingte Angaben erkennen und richtig einordnen können, die nicht ohne weiteres ins Deutsche übertragen werden können. Bei einer Beteiligung eines Dolmetschers besteht die Gefahr einer fehlerhaften Bewertung durch den Psychiater. Der Therapeut muss regelmäßig kulturelle Hintergründe bestimmter Aussagen richtig einordnen bzw. den kulturellen und situationsbedingten Hintergrund verstehen können. Wesentliche Dinge können somit bei der Übersetzung durch Dritte in die deutsche Sprache verloren gehen, so dass die Gefahr von Missverständnissen besteht, die den Behandlungserfolg verzögern oder ganz in Frage stehen könnte (vgl. zur Auswahl von Dolmetschern bei der Begutachtung von Ausländern Birck, Traumatisierte Flüchtlinge 2002, S. 21 ff.).

Es spricht einiges dafür, dass die Anforderungen an Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2003/9/EG (Aufnahme-Richtlinie) bei der Antragstellerin als Asylbewerberin mit besonderen Bedürfnissen nur durch eine muttersprachliche Behandlung gewährleistet werden können. Das Gericht ist sich bewusst, dass es sich beim Einsatz solcher Psychiater um einen nicht immer erreichbaren Idealzustand handelt. Es ist aber der Meinung, dass bei der Behandlung psychischer Erkrankungen nach Möglichkeit einem muttersprachlichen Therapeuten der Vorzug gegeben werden sollte. Diese Möglichkeit besteht hier.b) Der Antragsgegner hat weiter vorgetragen, dass die Behandlung der Antragstellerin zu 2) nach ihrer Weiterleitung nach Mecklenburg-Vorpommern nicht fortgeführt worden sei. Dies ist ausweislich des Attestes vom 25. Mai 2013 zutreffend. Jedoch nimmt das Gericht bei vorläufiger Wertung an, dass ein Vertrauensverhältnis entweder noch nicht bestanden hat oder unterbrochen worden ist. Gleichwohl führt dies zu keiner anderweitigen Entscheidung, da - wie oben dargelegt - möglichst eine muttersprachliche Behandlung gewährleistet sein sollte.c) Soweit gegenwärtig ersichtlich, ist - wie auch im angegriffenen Beschluss dargelegt – die Behandlung der Antragstellerin zu 2) nur in Berlin oder Hamburg möglich, nicht aber in Mecklenburg-Vorpommern. Dabei sind nach Auffassung des Gerichts bei der Weiterleitungsentscheidung auch die Reisewege zum behandelnden Psychiater zu berücksichtigen. Das Gericht hält es bei vorläufiger Wertung für unzumutbar, die Antragstellerin in zu weiter Entfernung von dem behandelnden Psychiater unterzubringen. Von dem ihr zugewiesenen Ort Nostorf-Horst beträgt die Fahrzeit nach Berlin (laut google.maps) mit einem Pkw etwa 2 ½ Stunden, also insgesamt 5 Stunden für die Hin- und Rückfahrt. Dies dürfte unzumutbar sein, zumal nicht unterstellt werden kann, dass die Antragsteller über einen Pkw verfügen. Insofern wäre es angezeigt gewesen, ggf. im Zusammenwirken mit dem aufnehmenden Bundesland vor Umsetzung der Weiterleitungsverfügung für eine sachgerechte Weiterbehandlung in oder in der Nähe des neuen Wohnortes Sorge zu tragen. Daran dürfte es hier fehlen. Ob eine (einfache) Fahrzeit von Nostorf-Horst (bzw. Parchim) nach Hamburg von etwa einer Stunde (bzw. 1 ½ Stunden) noch hinnehmbar ist, muss im Hauptsacheverfahren bewertet werden.

d) Das ursprünglich vorgelegte ärztliche Attest entsprach entgegen der Auffassung des Antragsgegners auch den an ein solches Attest zu stellende Anforderungen. Zutreffend ist zwar, dass das Bundesverwaltungsgericht für den Beweisantrag bei posttraumatischen Belastungsstörungen an das fachärztliche Attest bestimmte Anforderungen stellt (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 26. Juli 2012 – 10 B 21/12 –, juris Rn. 7 m.w.N.).

Dies kann aber nicht gelten, wenn – wie vorliegend – die Behandlung erst vor kurzem begonnen hat. In diesem Fall kann je nach Lage des Einzelfalls – zumindest im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes - eine Verdachtsdiagnose und -prognose genügen. Im Übrigen hat immerhin ein Facharzt substantiiert zu den Beschwerden der Antragstellerin zu 2) Stellung genommen. Die Diagnose wird durch das neuerliche Attest untermauert. Außerdem wäre zu erwarten gewesen, dass sich der Antragsgegner mit dem damals bereits vorliegenden Gutachten inhaltlich auseinandersetzt und nicht nur darauf verweist, dass die Behandlung "überall in der Bundesrepublik Deutschland" möglich sei.

e) Entgegen der Auffassung des Antragsgegners handelt es sich bei der Entscheidung nach § 55 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG um eine Ermessensentscheidung, bei der die Behörde die konkreten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und das Übermaßverbot zu beachten hat, auch wenn die Antragsteller keinen Anspruch haben, an einem bestimmten Ort untergebracht zu werden (vgl. etwa Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 31. März 1992 – 17 B 305/92.A –, juris Rn. 16; Wolff, in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, 1. Aufl. 2008, § 55 AsylVfG Rn. 7).

3. Im Übrigen spricht auch eine Folgeabwägung dafür, an der angegriffenen Entscheidung festzuhalten. Ein erneuter Umzug der Antragsteller von Berlin nach Parchim belastet sie mehr, als den Antragsgegner die Aufnahme der Antragsteller in seinem Bereich bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens. Dabei ist auch zu beachten, dass ein nochmaliger Abbruch der Behandlung der Antragstellerin ihr angesichts ihrer Erkrankung nicht zumutbar ist. [...]