1. Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist in Verbindung mit deren neuntem Erwägungsgrund dahin auszulegen, dass diese Richtlinie auf einen Drittstaatsangehörigen, der im Sinne der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft um internationalen Schutz ersucht hat, im Zeitraum zwischen der Antragstellung bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung über diesen Antrag oder gegebenenfalls bis zur Entscheidung über einen allfälligen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung keine Anwendung findet.
2. Die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten und die Richtlinie 2005/85 stehen dem nicht entgegen, dass die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen, der im Sinne der Richtlinie 2005/85 um internationalen Schutz ersucht hat, nachdem er gemäß Art. 15 der Richtlinie 2008/115 in Haft genommen worden war, auf der Grundlage einer nationalen Rechtsvorschrift aufrechterhalten wird, wenn sich nach einer fallspezifischen Beurteilung sämtlicher relevanter Umstände herausstellt, dass dieser Antrag einzig und allein zu dem Zweck gestellt wurde, den Vollzug der Rückführungsentscheidung zu verzögern oder zu gefährden, und es objektiv erforderlich ist, die Haftmaßnahme aufrechtzuerhalten, um zu verhindern, dass sich der Betreffende endgültig seiner Rückführung entzieht.
(Amtliche Leitsätze)
[...]
42 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2008/115 nach ihrem zweiten Erwägungsgrund eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik festgelegt werden soll, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden. Wie sich sowohl aus ihrem Titel als auch aus ihrem Art. 1 ergibt, werden durch die Richtlinie 2008/115 "gemeinsame Normen und Verfahren" geschaffen, die von jedem Mitgliedstaat bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger anzuwenden sind (Urteil vom 28. April 2011, El Dridi, C-61/11 PPU, Slg. 2011, I-3015, Randnrn. 31 und 32).
43 Hinsichtlich des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2008/115 bestimmt ihr Art. 2 Abs. 1, dass sie auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige Anwendung findet. Der Begriff des "illegalen Aufenthalts" wird in Art. 3 Nr. 2 dieser Richtlinie als "die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die … Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats" definiert.
44 Der neunte Erwägungsgrund stellt hierzu klar, dass "[g]emäß der Richtlinie [2005/85] … Drittstaatsangehörige, die in einem Mitgliedstaat Asyl beantragt haben, so lange nicht als illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhältige Person gelten [sollten], bis eine abschlägige Entscheidung über den Antrag oder eine Entscheidung, mit der [ihr] Aufenthaltsrecht als Asylbewerber beendet wird, bestandskräftig geworden ist".
45 Die Richtlinie 2005/85, deren Zweck ihrem Art. 1 zufolge darin besteht, Mindestnormen für Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft festzulegen, gibt in ihrem Art. 7 Abs. 1 Asylbewerbern das Recht, ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens in demjenigen Mitgliedstaat zu verbleiben, in dem ihr Antrag gestellt wurde oder geprüft wird, und zwar so lange, bis die für diese Prüfung zuständige Behörde in erster Instanz über diesen Antrag entschieden hat.
46 Art. 7 Abs. 2 dieser Richtlinie gestattet nur unter eingeschränkten Voraussetzungen eine Ausnahme von der in Art. 7 Abs. 1 enthaltenen Regel, nämlich wenn es sich nicht um einen Erstasylantrag, sondern um einen nicht weiter geprüften Folgeantrag handelt oder wenn der Antragsteller entweder an einen anderen Mitgliedstaat oder aber an einen Drittstaat oder an internationale Strafgerichte oder Tribunale überstellt bzw. ausgeliefert wird.
47 Außerdem gibt Art. 39 Abs. 3 der Richtlinie 2005/85 jedem Mitgliedstaat die Möglichkeit, das in Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie verbürgte Recht auszuweiten, indem er vorsieht, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung der erstinstanzlichen Behörde zur Folge hat, dass sich Asylbewerber bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im betreffenden Mitgliedstaat aufhalten dürfen.
48 Obwohl dieser Art. 7 Abs. 1 also ausdrücklich keinen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel verleiht, sondern es jedem Mitgliedstaat anheimstellt, ob er einen solchen Titel ausstellt, ergibt sich klar aus der grammatikalischen, systematischen und teleologischen Auslegung der Richtlinien 2005/85 und 2008/115, dass ein Asylbewerber unabhängig von der Ausstellung eines solchen Titels das Recht hat, sich im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zumindest bis zur Ablehnung seines Antrags in erster Instanz aufzuhalten, und somit nicht als "illegal aufhältig" im Sinne der Richtlinie 2008/115 angesehen werden kann, die bezweckt, ihn aus diesem Hoheitsgebiet abzuschieben.
49 Nach den vorstehenden Erwägungen ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit deren neuntem Erwägungsgrund dahin auszulegen ist, dass diese Richtlinie auf einen Drittstaatsangehörigen, der im Sinne der Richtlinie 2005/85 um internationalen Schutz ersucht hat, im Zeitraum zwischen der Antragstellung bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung über diesen Antrag oder gegebenenfalls bis zur Entscheidung über einen allfälligen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung keine Anwendung findet.
Zur zweiten Vorlagefrage
50 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob es ungeachtet der Unanwendbarkeit der Richtlinie 2008/115 auf Drittstaatsangehörige, die im Sinne der Richtlinie 2005/85 um internationalen Schutz ersucht haben, möglich ist, die Inhaftierung des Drittstaatsangehörigen, der einen solchen Antrag gestellt hat, nachdem er gemäß Art. 15 der Richtlinie 2008/115 zum Zwecke seiner Rückführung oder Abschiebung in Haft genommen worden war, aufrechtzuerhalten.
51 Die deutsche und die schweizerische Regierung sowie die Europäische Kommission sind der Ansicht, dass die Haft in einem solchen Fall fortdauern könne, wenn sie nach den Asylrechtsvorschriften gerechtfertigt sei. Die tschechische, die französische und die slowakische Regierung haben zwar in Anbetracht der Antwort, die sie für die erste Frage vorgeschlagen haben, auf diese zweite Frage nicht geantwortet; es lässt sich aber aus ihren Erklärungen ableiten, dass nach ihrer Ansicht die Stellung eines Asylantrags nicht zur Folge haben könne, dass die Inhaftierung beendet werden müsse.
52 Wie der Gerichtshof bereits ausgeführt hat, unterliegen die Inhaftierung für die Zwecke der Abschiebung gemäß der Richtlinie 2008/115 und die Ingewahrsamnahme eines Asylbewerbers insbesondere gemäß den Richtlinien 2003/9 und 2005/85 sowie den anwendbaren nationalen Vorschriften unterschiedlichen rechtlichen Regelungen (vgl. Urteil vom 30. November 2009, Kadzoev, C-357/09 PPU, Slg. 2009, I-11189, Randnr. 45).
53 Zu der auf die Asylbewerber anwendbaren Regelung ist daran zu erinnern, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/9 den Grundsatz aufstellt, wonach sich Asylbewerber im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats oder in einem ihnen von diesem Mitgliedstaat zugewiesenen Gebiet frei bewegen dürfen. Art. 7 Abs. 3 stellt jedoch klar, dass die Mitgliedstaaten dem Asylbewerber in Fällen, in denen dies z. B. aus rechtlichen Gründen oder aus Gründen der öffentlichen Ordnung erforderlich ist, nach einzelstaatlichem Recht einen bestimmten Ort zuweisen können.
54 Nach Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85 nehmen die Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam, weil sie ein Asylbewerber ist, und nach Art. 18 Abs. 2 stellen die Mitgliedstaaten, wenn ein Asylbewerber in Gewahrsam genommen wird, sicher, dass eine rasche gerichtliche Überprüfung des Gewahrsams möglich ist. Außerdem ist in Art. 21 der Richtlinie 2003/9 eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidungen gemäß Art. 7 der Richtlinie 2003/9 vorgesehen.
55 Doch weder die Richtlinie 2003/9 noch die Richtlinie 2005/85 führen nach gegenwärtigem Stand zu einer Harmonisierung der Gründe, aus denen die Ingewahrsamnahme eines Asylbewerbers angeordnet werden kann. Wie nämlich die deutsche Regierung angemerkt hat, wurde der Vorschlag einer abschließenden Auflistung dieser Gründe im Lauf der Verhandlungen, die dem Erlass der Richtlinie 2005/85 vorausgingen, fallen gelassen und ist erst im Rahmen der derzeit laufenden Neufassung der Richtlinie 2003/9 beabsichtigt, eine solche Liste auf Unionsebene einzuführen.
56 Daher ist es derzeit Sache der Mitgliedstaaten, unter vollständiger Einhaltung ihrer Verpflichtungen sowohl aus dem Völkerrecht als auch aus dem Unionsrecht die Gründe festzulegen, aus denen ein Asylbewerber in Gewahrsam genommen oder der Gewahrsam aufrechterhalten werden kann.
57 In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der der Drittstaatsangehörige zum einen auf der Grundlage von Art. 15 der Richtlinie 2008/115 mit der Begründung in Haft genommen wurde, dass sein Verhalten Anlass zur Befürchtung gebe, dass er ohne Inhaftnahme fliehen und seine Abschiebung vereiteln würde, und in der zum anderen der Asylantrag einzig und allein zu dem Zweck gestellt worden zu sein scheint, den Vollzug der gegen ihn erlassenen Rückführungsentscheidung zu verzögern, wenn nicht gar zu gefährden, ist festzustellen, dass solche Umstände tatsächlich geeignet sind, die Aufrechterhaltung der Haft dieses Drittstaatsangehörigen auch nach Stellung eines Asylantrags zu rechtfertigen.
58 Eine nationale Vorschrift, die es unter solchen Umständen gestattet, die Inhaftierung des Asylbewerbers aufrechtzuerhalten, ist nämlich mit Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85 vereinbar, da der Gewahrsam hier nicht die Folge der Stellung des Asylantrags ist, sondern der Umstände, die das individuelle Verhalten dieses Antragstellers vor und bei der Antragstellung kennzeichnen.
59 Da außerdem die Aufrechterhaltung der Haft unter diesen Umständen offensichtlich objektiv erforderlich ist, um zu verhindern, dass der Betreffende sich endgültig seiner Rückführung entzieht, ist diese Aufrechterhaltung auch gemäß Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2003/9 zulässig.
60 Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass zwar die Richtlinie 2008/115, solange das Verfahren zur Prüfung des Asylantrags läuft, nicht zur Anwendung kommt, dies aber keinesfalls bedeutet, dass dadurch das Rückführungsverfahren endgültig beendet wird, da dieses im Falle der Ablehnung des Asylantrags fortgesetzt werden kann. Wie aber die tschechische, die deutsche, die französische und die slowakische Regierung angemerkt haben, würde das Ziel dieser Richtlinie, nämlich die wirksame Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, gefährdet, wenn es den Mitgliedstaaten unter Umständen wie den in Randnr. 57 des vorliegenden Urteils geschilderten nicht möglich wäre, zu verhindern, dass der Betreffende durch Stellung eines Asylantrags automatisch seine Freilassung erreichen kann (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Dezember 2011, Achughbabian, C-329/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 30).
61 Außerdem sieht Art. 23 Abs. 4 Buchst. j der Richtlinie 2005/85 ausdrücklich vor, dass der Umstand, dass der Antragsteller den Antrag nur zur Verzögerung oder Behinderung der Durchführung einer bereits getroffenen oder unmittelbar bevorstehenden Entscheidung stellt, die zu seiner Rückführung führen würde, auch im Rahmen des Verfahrens zur Prüfung dieses Antrags berücksichtigt werden kann, wobei dieser Umstand es rechtfertigen kann, dass der Antrag beschleunigt oder vorrangig geprüft wird. Die Richtlinie 2005/85 sorgt somit dafür, dass den Mitgliedstaaten das erforderliche Instrumentarium zu Gebote steht, um die Effizienz des Rückführungsverfahrens zu gewährleisten, indem sie verhindert, dass es länger als für die ordnungsgemäße Antragsbearbeitung erforderlich ausgesetzt wird.
62 Es ist jedoch klarzustellen, dass der alleinige Umstand, dass gegen einen Asylbewerber im Zeitpunkt seiner Antragstellung eine Rückführungsentscheidung erlassen wird und dass er auf der Grundlage von Art. 15 der Richtlinie 2008/115 in Haft genommen wird, nicht ohne fallspezifische Beurteilung sämtlicher relevanter Umstände die Vermutung zulässt, dass er diesen Antrag einzig und allein zu dem Zweck gestellt habe, den Vollzug der Rückführungsentscheidung zu verzögern oder zu gefährden, und dass es objektiv erforderlich und verhältnismäßig sei, die Haftmaßnahme aufrechtzuerhalten. [...]