VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 22.02.2002 - 5 E 30748/99.A(3) - asyl.net: M2083
https://www.asyl.net/rsdb/M2083
Leitsatz:

Dem Widerruf einer Asylanerkennung steht § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG entgegen, da Asylberechtigter nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland derzeit keine wirtschaftliche Existenz in Afghanistan aufbauen kann.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Asylanerkennung, Widerruf, Familienasyl, Fortbestehende Schutzbedürftigkeit, Genfer Flüchtlingskonvention, Rückkehr, Zumutbarkeit, Existenzminimum, Soziale Bindungen
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 3
Auszüge:

Dem streitgegenständlichen Widerruf der Asylberechtigung und der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft der Klägerin, der von der Beklagten am 21. 05. 1991 getroffen worden war, steht § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG entgegen. Nach dieser Vorschrift ist von einem Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter und der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

Der Klägerin ist mit Bescheid der Beklagten vom 21. 05. 1991 Asylstatus im Wege des Familienasyls zugesprochen worden, weil ihr Ehemann, der Beigeladene, bereits mit Bescheid des Bundesamtes vom 17. 12. 1984 als Asylberechtigter anerkannt worden war. Der Klägerin ist es aufgrund der Sach- und Rechtslage, wie sie sich zum allein maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung darstellt, unter gegenwärtigen Bedingungen nicht zuzumuten, nach Afghanistan zurückzukehren. Es ist nämlich davon auszugehen, dass sie - gemeinsam mit der Klägerin des Verfahrens 5 E 30746/99. A (3) - keine Chance hätte, ihre wirtschaftliche Existenz und somit ihr Überleben in Afghanistan zu sichern. Insbesondere stünde ihr nicht die Möglichkeit offen, in bestehende familiäre oder stammesmäßige Strukturen zurückzukehren, die ihr den unter gegenwärtigen Verhältnissen nach wie vor zwingend erforderlichen Schutz bieten könnten. Nachdem die Klägerin über Jahre hinweg von ihrem Ehemann getrennt lebt, ohne dass die Ehe geschieden worden ist, kann sie auch nicht darauf verwiesen werden, gemeinsam mit ihrem Ehemann eine Existenz in Afghanistan aufzubauen und möglicherweise in den Schutz seiner Familie, sofern eine solche dort überhaupt existiert, zurückzukehren.

Es handelt sich hierbei um zwingende Gründe im Sinne des § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG. Diese Gründe, die einer Rückkehr der Klägerin nach Afghanistan jedenfalls gegenwärtig entgegen stehen, beruhen auf den Gründen, die seinerzeit zur Anerkennung des Beigeladenen als politisch Verfolgter geführt und die auch die Gewährung der Rechtsstellung als Familienasylberechtigte der Klägerin ausgelöst hatten. Die Klägerin hatte seinerzeit ihr Herkunftsland verlassen, weil ihr Ehemann, der Beigeladene, als politisch Verfolgter anerkannt worden war. Diese Gründe hatten dazu geführt, dass sie gemeinsam mit ihren Kindern in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist und sich hier seit 1991 aufgehalten hat. Aufgrund dieses langen Auslandsaufenthaltes und aufgrund der fehlenden familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan - jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt - ist daher der Klägerin eine Rückkehr nicht möglich und zumutbar. Ihr kann daher eine Rückkehr in ihr Herkunftsland nicht angesonnen werden.

Das Gericht bejaht im Falle der Klägerin einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der früheren Verfolgung des Beigeladenen und des sich hieraus ableitenden Familienasyls der Klägerin sowie der hierdurch bedingten Notwendigkeit, ihr Herkunftsland zu verlassen und dem Umstand, dass ihr wegen ihres langjährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland eine Rückkehr nach Afghanistan heute nicht mehr zugemutet werden kann. Dieses Verständnis des § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG, der den Wortlaut des Art. 1 C letzter Absatz des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. 07. 1995 (Genfer Flüchtlingskonvention) aufgreift, entspricht der humanitären Intention der Genfer Flüchtlingskonvention. Unter Nr. 116 des Handbuchs über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft des Amtes des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge vom September 1979 wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Beendigungsklauseln des Art. 1 C der Genfer Flüchtlingskonvention restriktiv auszulegen sind. Unter Nr. 136 des Handbuchs heißt es, dass jene Ausnahmeregelung Ausdruck eines " weitreichenden humanitären Grundsatzes" sei. Allein der Umstand, dass sich in dem Herkunftsland eine Änderung des Regimes ergeben habe, bedeute nicht immer eine völlige Änderung in der Haltung der Bevölkerung, noch bedeute sie, in Anbetracht der Erlebnisse in der Vergangenheit, dass sich der psychische Zustand des Flüchtlings völlig geändert hat.

In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin aufgrund ihres inzwischen mehr als 14-jährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland eine starke westliche Prägung erfahren haben dürfte, was ihr eine Reintegration in die afghanischen Lebensverhältnisse zumindest stark erschweren dürfte. Unter diesen Umständen entspricht es der humanitären Intention der Genfer Flüchtlingskonvention, selbst bei grundlegender, aber noch nicht hinreichend stabiler Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsland, den einmal gewährten Flüchtlingsstatus nicht zu entziehen.