In Sierra Leone ist eine psychotherapeutische Behandlung mangels qualifizierten Personals nicht möglich. Schon gesunde Personen sind auf Unterstützung durch das familiäre Umfeld angewiesen, dies gilt erst recht für psychische erkrankte Menschen.
[...]
Der Kläger hat einen Anspruch darauf, festzustellen, dass ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Der angegriffene Bescheid des Bundesamts ist rechtswidrig, soweit er diesen Anspruch der Klägerin in den Ziffern 3. und 4. nicht anerkennt und ihm entgegensteht, und verletzt den Kläger in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO). [...]
2. Die im gerichtlichen Verfahren vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen und Gutachten (Arztbrief des BKH ... vom 11.6.2012, Bl. 13 der Akte - nachfolgend BKH; Arztbrief eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie vom 3.9.2012, Bl. 26 der Akte; Psychodiagnostischer Befund des Kompetenzzentrums Psychotraumatologie der Universität ... vom 2.3.2013, Bl. 108 der Akte – nachfolgend Uni ...) kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass beim Kläger eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F43.1 bzw. DSM-IV 309.81) sowie, daraus folgend, eine rezidivierende depressive Episode mittelschweren Ausprägungsgrades (ICD-10 F32.2/9 bzw. DSM-IV 296.32) vorliegt. Gegen diese Diagnose und die Sachkunde der Ärzte bestehen in einer Gesamtschau keine Bedenken.
Liegt ein fachärztliches Attest vor, welches dem Ausländer eine PTBS bescheinigt, so kann das Gericht regelmäßig mangels hinreichender Sachkunde die Bescheinigung nicht von sich aus als nicht aussagekräftig ansehen. Anders wäre es aber, wenn die Bescheinigung nicht nachvollziehbar ist, weil sie u.a. keine den anerkannten wissenschaftlichen Anforderungen genügende Begründung enthält oder weil sie nicht erkennen lässt, dass objektiv bestehende, diagnoserelevante Zweifel berücksichtigt wurden. Bei der Diagnose kommt es entscheidend auf die Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit eines geschilderten inneren Erlebens und der zugrunde liegenden faktischen äußeren Erlebnistatsachen an, da ein traumatisches Ereignis/Erlebnis zwingende Voraussetzung für die Entwicklung einer PTBS ist (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 17.10.2012 – 9 ZB 10.30390 – juris; VG Augsburg, U.v. 12.9.2012 – Au 7 K 12.30213 – juris; U.v. 15.6.2012 – Au 7 K 12.30023 – juris).
a) Zwar ist die Sachverhaltsdarstellung und die Prognose zur Entwicklung der Krankheit in den ärztlichen Stellungnahmen des BKH und vom 3. September 2012 äußerst knapp gehalten und würde für sich nicht den von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten Erfordernissen genügen. Da es sich bei der PTBS um ein komplexes psychisches Krankheitsbild handelt, gehört zur Substantiierung des Vorbringens einer Erkrankung an PTBS angesichts der Unschärfen des Krankheitsbildes sowie einer vielfältigen Symptomatik regelmäßig die Vorlage eines gewissen Mindestanforderungen genügenden fachärztlichen Attests. Aus diesem muss sich u.a. nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt (vgl. BVerwG, B.v. 26.7.2012 – 10 B 21.12 – juris Rn. 7; U.v. 11.9.2007 – 10 C 8/07 – BVerwGE 129, 251; BayVGH, B.v. 17.10.2012 – 9 ZB 10.30390 – juris).
b) In der Zusammenschau dieser ärztlichen Stellungnahmen ergibt sich jedoch nachvollziehbar und widerspruchsfrei das Ergebnis der Erkrankung des Klägers an einer PTBS und das Vorliegen einer depressiven Episode.
Die psychischen Befunde basieren auf der Schilderung des Klägers zu seinen Beschwerden und seinen biographischen Angaben. Der Kläger wurde durch die Uni ... einer insgesamt sechsstündigen psychodiagnostischen Untersuchung an zwei Tagen in Form eines standardisierten Interviews zur psychiatrischen Diagnostik unterzogen; Ziel und Schwerpunkt war hierbei die Feststellung, nicht die Behandlung einer PTBS.
Es mangelt vorliegend insbesondere nicht an einer Grundlage für eine Diagnose und ausreichenden Anknüpfungstatsachen (vgl. hierzu BVerwG, B.v. 26.7.2012 – 10 B 21.12 – juris Rn. 7; U.v. 11.9.2007 – 10 C 8/07 – BVerwGE 129, 251; BayVGH, B.v. 17.10.2012 – 9 ZB 10.30390 – juris).
Die zu Grunde gelegten Erlebnisse des Klägers als Kind in Sierra-Leone, insbesondere bei der Tötung seiner Mutter, als Kindersoldat von 1998-2000, sowie als Jugendlicher bei der "...", konnte der Kläger widerspruchsfrei und nachvollziehbar darlegen. Es finden sich keine durchgreifenden Anhaltspunkte, bei diesen Schilderungen von einer Erfindung auszugehen.
Der Kläger hat nun insgesamt viermal seine Erlebnisse geschildert: bei der Anhörung vor dem Bundesamt, gegenüber einem Heilpraktiker, gegenüber einer Psychologin und schließlich gegenüber dem Gericht. Hierbei sind keine nennenswerten Widersprüche aufgetreten. So hat der Kläger den zeitlichen Rahmen immer gleich angegeben. Er war von 1998 bis 2000 als Kindersoldat bei den Rebellen, von 2000 bis 2002 in ... bei seinem Vater bzw. einem Freund seiner getöteten Schwester und schließlich seit 2002 bis 2011 in .... Den Zeitpunkt und die Umstände des Todes der Mutter hat der Kläger wiederholt detailliert angegeben (vgl. S. 2/3 der Niederschrift der mdl. Verhandlung; BKH Bl. 13; Uni ... Bl. 111; exilio Bl. 34; Bundesamt Bl. 42 der Bundesamtsakte). Auch die Zeit bei den Rebellen gibt der Kläger immer gleich wieder. Die Kinder hätten an vorderster Front gekämpft, man habe immer wieder Drogen bzw. Beruhigungsmittel bekommen. Als besonders belastend gibt der Kläger wiederholt den Tod eines Freundes sowie die Tötung einer Schwangeren an, die schließlich auch zur Flucht geführt hat. Insbesondere kann der Kläger seinen Rufnamen bei den Rebellen "...", den Namen seines Anführers "..." und seiner Einheit "..." fehlerfrei benennen (vgl. S. 3 der Niederschrift der mdl. Verhandlung; Uni ... Bl. 111; exilio Bl. 34/35; Bundesamt Bl. 42 der Bundesamtsakte).
Auch die Angaben zu seiner Gefangenschaft bei der ... stimmen überein. So gibt der Kläger wiederholt an, beim Kochen von 4-5 Männer der ... aufgegriffen worden zu sein und 4 Tage in den Busch verschleppt worden zu sein (vgl. S. 5 der Niederschrift der mdl. Verhandlung; Uni ... Bl. 112; exilio Bl. 20, 37; Bundesamt Bl. 44 der Bundesamtsakte). Die Umstände der Flucht, also die Fesselung mit einer Fahrradkette an einer Hand, das Weggehen einer Wache in die Stadt und der Kampf mit der zweiten Wache unter Einsatz eines Messers stimmen ebenfalls überein (vgl. S. 6/7 der Niederschrift der mdl. Verhandlung; Uni ... Bl. 112; exilio Bl. 37; Bundesamt Bl. 45 der Bundesamtsakte). Die Angaben des Klägers zur ..., insbesondere, dass Betroffene "eingefangen" werden und eine Aufnahme formal nicht gegen den Willen des Betroffenen geschieht, entsprechen den sich aus dem hierzu vorhandenen Erkenntnismaterial (Auskunft GIGA vom 26.11.2007 sowie Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27.12.2007 an das VG Freiburg) ergebenden Erkenntnissen.
Die durch ärztliche Atteste belegten Verletzungen an Handgelenk und Schulter lassen sich mit diesen Erzählungen in Übereinstimmung bringen und bestätigen das Gesamtbild.
Die einzig auftretende, größere Abweichung bzw. Steigerung im Vortrag ist, dass der Kläger nach dem Tod seiner Großmutter sexuellem Missbrauch ausgesetzt gewesen sein will (vgl. Uni ..., Bl. 112) und dies weder gegenüber dem Bundesamt noch gegenüber dem Heilpraktiker erwähnt hat. Dies kann er jedoch zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft mit Scham und dem Fragestil der anhörenden Personen erklären (vgl. S. 5 der Niederschrift der mdl. Verhandlung). Bei dem Interview bei exilio ist dies immerhin in der Formulierung angedeutet, der Kläger habe im Haushalt alles machen müssen, was man von ihm verlangt habe (Bl. 37).
Die Ausführungen des Klägers wirken auch aufgrund der Erzählweise nicht erfunden. Der Kläger schildert detailreich und anschaulich. Die Erzählung ist nicht insgesamt stereoton gehalten und der Kläger "leiert" seine Geschichte nicht herunter. Der von der Gutachterin der Uni ... geschilderte Eindruck des Klägers zeigte sich auch dem Gericht. Der Kläger versucht nach außen ein geordnetes Bild zu wahren und zu zeigen, dass er stark sei. Werden jedoch die problematischen Punkte angesprochen, wie der Tod der Mutter oder die Zeit als Kindersoldat, bricht diese Fassade und der Kläger wird hilflos. Er ist sichtlich mitgenommen, wenn die Sprache auf solche Ereignisse kommt.
Vor diesem Hintergrund sind die Diagnosen jeweils nachvollziehbar und auch so dargelegt. Der Kläger erfüllt demnach alle Kriterien, die zur Diagnose einer PTBS nach DSM-IV – einem insoweit der ICD gleichzusetzenden Klassifikationssystem – nötig sind (Uni ..., Bl. 114-117). Die Gutachterin der Uni ... hat sich widerspruchsfrei geäußert und zeigt, bspw. hinsichtlich der Medikation des Klägers, auch die nötigen kritischen Züge. Sie geht dabei auch auf das Verhalten des Klägers während der Therapie ein und bringt die äußere Symptomatik mit den geschilderten Vorkommnissen in Einklang (Uni ..., Bl. 113/114).
Da sich wie dargestellt an der zu Grunde gelegten Erzählung auch für das Gericht, welches durch die Anhörung vor dem Bundesamt und das Interview bei exilio weitere Erkenntnisse zur Beurteilung einfließen lassen kann, keine durchgreifenden Zweifel ergeben, ist eine Diagnose anhand dieser nicht zu beanstanden.
Dass diese Traumatisierung ihren Ursprung in Sierra-Leone hat, wird nachvollziehbar aus den Intrusionen und dem Vermeidungsverhalten des Klägers geschlossen (Uni ..., Bl. 117).
Der Kläger hat von Beginn seines Asylverfahrens an die gesundheitlichen Probleme offenbart und thematisiert. c) Nicht zur Beurteilung herangezogen werden die im Übrigen vorgelegten Stellungnahmen (psychotherapeutischen Bestätigung vom 30.7.2012 und Psychodiagnostischer Befund vom 12.10.2012 eines Dipl. Primärtherapeuten und Heilpraktikers; ärztliches Attest eines Allgemeinmediziners vom 5.9.2012, Bl. 25 der Akte;), da das Gericht Bedenken hat, ob diese Stellungnahmen aufgrund der Fachkunde der behandelnden Personen überhaupt geeignet sind, das Vorliegen bzw. die Behandlungsbedürftigkeit einer psychischen Erkrankung nachzuweisen oder glaubhaft zu machen. (vgl. VG Augsburg, U.v. 15.6.2012 – Au 7 K 12.30023 – juris).
3. Bei Rückkehr droht dem Kläger in seiner Heimat Sierra-Leone wegen seiner Erkrankung auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr, welche die oben dargestellten Anforderungen erfüllt.
Die Gutachterin der Uni ... sieht nahvollziehbar aufgrund ihrer Diagnose bei dem Kläger erheblich intensive gesundheitliche Beeinträchtigungen wie Kopfschmerz, Schlaflosigkeit, suizidale Tendenzen, Interessenverlust und Energielosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und psychosomatische Beschwerden (Uni ..., Bl. 117/119). Es besteht bei dem Kläger eine erhöhte körperliche Morbidität und Mortalität.
Dem Gutachten der Uni ... zufolge ist eine spezielle traumafokusierte Psychotherapie und eine abgestimmte Medikation erforderlich. Weiter sei es insbesondere wichtig, dem Kläger stabile, ressourcenstärkende Lebensumstände zu geben. Das soziale Umfeld sollte gestärkt werden, eine psychosoziale und psychiatrische Überwachung wird empfohlen.
Als Folge des Abbruchs bzw. einer Vorenthaltung einer fachärztlichen psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung wäre bei weiteren "Stressoren oder Belastungen" mit "höchster Wahrscheinlichkeit" zu erwarten, dass sich der Zustand des Klägers erneut destabilisieren würde, es zu suizidalen Handlungen kommen würde und sich der Gesundheitszustand des jungen Klägers "akut lebensbedrohlich" verändern und schwächen würde (Uni ..., Bl. 120).
Durch diese Ausführungen sieht es das Gericht als belegt an, dass sich der Kläger bei einer Rückkehr nach Sierra-Leone in einer aussichtslosen Lage befände. Dabei geht die Beurteilung von der Situation aus, die den Kläger in seiner Heimat erwarten würde. Nur solche zielstaatsbezogenen Umstände sind bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen.
Eine Verschlimmerung tritt vorliegend nicht nur wegen des Wegfalls der bereits eingeleiteten Behandlung ein, sondern vor allem wegen des Fehlens von Halt gewährenden Strukturen, mit denen er in Sierra-Leone nicht rechnen kann. Die Rückkehr nach Sierra-Leone würde zweifelsohne eine solche "Belastung" darstellen. Es würde aus einer erlebten und erinnerten Bedrohung für den Kläger eine reale Bedrohung werden. Der Kläger würde dort unmittelbar an seine Kindheitserlebnisse erinnert werden und auf sich alleine gestellt sein. Im Falle des Klägers ist zwar zu sehen, dass er eine gewisse Zeit trotz der psychischen Belastungen in Sierra-Leone hat leben können. Dies ist jedoch vor allem auf sein soziales Umfeld – seine Großmutter – zurückzuführen. Der Kläger betont immer wieder und sehr deutlich, welch wichtige Rolle diese in seinem Leben nach den Erlebnissen der Kindheit gespielt hat und welchen Halt diese ihm gegeben hat. Diese Schilderungen vor Gericht und den Betreuern sind glaubhaft und nachvollziehbar. Eine Rückkehr zum Vater erscheint ausgeschlossen, zumal bereits fraglich ist, ob dieser aufgrund seines Alters für den Kläger sorgen könnte. Hinsichtlich Sierra-Leones ist dabei von einer hohen Bedeutung familiärer Unterstützung bereits für gesunde Personen auszugehen, da im ganzen Land die Möglichkeiten zur Sicherung des eigenen Lebensunterhalts sehr eingeschränkt sind. In Ermangelung staatlicher oder nichtstaatlicher finanzieller Fördermöglichkeiten (Sozial- oder Arbeitslosenhilfe existieren nicht) sind Erwerbslose, Kranke, Behinderte und ältere Menschen ganz besonders auf Unterstützung der traditionellen Großfamilien angewiesen. Auch nichtstaatliche oder internationale Hilfsorganisationen bieten in der Regel keine konkreten Hilfen zum Lebensunterhalt, auch dann nicht, wenn der Betroffene keine Familienangehörigen mehr hat. Bei jüngeren Personen ist grundsätzlich keine abweichende Beurteilung geboten. Viele der erwerbslosen Jugendlichen, die nicht in einen Familienverband integriert sind, zieht es in die größeren Städte, v.a. in die Hauptstadt ..., wo sie mit Hilfsjobs, Betteln oder sonstigen Geschäften eine ärmliche Existenz führen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an VG Aachen vom 14.11.2005). Eine Versorgung ist (nur) auf geringstem Niveau möglich (vgl. BayVGH, U.v. 21.7.2006 – 25 B 05.31119 – juris; OVG NRW, B.v. 6.9.2007 – 11 A 633/05.A – juris). Ungeachtet der Frage, ob in Sierra-Leone eine fachkundige Behandlung überhaupt möglich wäre, würde somit allein die Tatsache, dass der Kläger in der Heimat keine Strukturen finden würde, die ihm Sicherheit vermitteln könnten, zu einer Retraumatisierung sowie einer lebensbedrohlichen Situation, in der seine Symptome nicht mehr kontrollierbar wären, führen.
Zudem kann in Sierra-Leone aus finanziellen Gründen und mangels ausreichenden qualifizierten Personals eine entsprechende Behandlung nicht durchgeführt werden (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Aachen vom 21.2.2007).
Nach allem liegt ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. [...]