VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Beschluss vom 05.06.2013 - 11 K 496/13 (= ASYLMAGAZIN 9/2013, S. 310 f.) - asyl.net: M20897
https://www.asyl.net/rsdb/M20897
Leitsatz:

1. Die international übliche Entlassungsbedingung des Erreichens der Volljährigkeit ist eine abstrakt zumutbare Entlassungsbedingung.

2. Die abstrakt zumutbare Entlassungsbedingung des Erreichens der Volljährigkeit kann bei Hinzutreten besonderer Umstände im konkreten Einzelfall unzumutbar sein.

3. Im Rahmen der gebotenen Zumutbarkeitsprüfung sind sämtliche öffentliche und private Belange zu berücksichtigen und abzuwägen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Einbürgerung, türkische Staatsangehörige, Entlassung aus der Staatsangehörigkeit, Entlassung aus der Staatsbürgerschaft, Aufgabe der Staatsangehörigkeit, Entlassungsbedingung, Volljährigkeit, Zumutbarkeit, besondere Umstände, Hinnahme von Mehrstaatigkeit, Kindeswohl, Familieneinheit,
Normen: StAG § 10, StAG § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 Alt. 2, StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen für eine Einbürgerung nach § 10 StAG derzeit nicht. Nach Aktenlage liegt eine unterschriebene Bekenntnis- und Loyalitätserklärung der mittlerweile handlungsfähigen (vgl. § 80 Abs. 1 AufenthG) Klägerin nicht vor, so dass schon die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StAG nicht gegeben sind. Darüber hinaus hat die Klägerin bislang nicht nachgewiesen, dass sie mit einer Einbürgerung in den deutschen Staatsverband ihre bisherige türkische Staatsangehörigkeit aufgibt oder verliert (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG).

Die Klägerin ist seit ihrer Geburt türkische Staatsangehörige. Diese Staatsangehörigkeit hat sie nach Art. 1 türk. Staatsangehörigkeitsgesetz Nr. 403 (vom 11.02.1964) erworben. Danach sind die in oder außerhalb der Türkei von einem türkischen Vater gezeugten oder von einer türkischen Mutter geborenen Kinder von Geburt an türkische Staatsangehörige.

Einen automatischen Verlust der türkischen Staatsangehörigkeit im Falle des Erwerbs einer anderen Staatsangehörigkeit sieht das neue türkische Staatsangehörigkeitsgesetz Nr. 5901 (vom 29.05.2009) nicht vor. Nach Art. 25 türk. Staatsangehörigkeitsgesetz (vom 29.05.2009) kann Personen, welche die Genehmigung für die Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit beantragen, vom Ministerium eine Genehmigungs- oder Entlassungsurkunde ausgehändigt werden, wenn sie volljährig und urteilsfähig sind, die Staatsangehörigkeit eines fremden Staates erworben haben oder glaubhafte Indizien für den Erwerb darlegen, nicht wegen einer Straftat oder wegen des Militärdienstes gesucht werden und keinen finanziellen und strafrechtlichen Beschränkungen unterliegen. Hieraus folgt, dass die minderjährige Klägerin nach türkischem Recht bis zum Eintritt der Volljährigkeit im Alter von 18 Jahren nicht allein aus der türkischen Staatsangehörigkeit entlassen werden kann. Eine Entlassung Minderjähriger aus der türkischen Staatsangehörigkeit ist lediglich im Zusammenhang mit der Entlassung ihrer Eltern oder eines Elternteils nach Art. 27 Abs. 2 Satz 2 türk. Staatsangehörigkeitsgesetz möglich.

Eine Einbürgerung unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit kann die Klägerin zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beanspruchen. Denn der allein in Betracht zu ziehende Ausnahmetatbestand des § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Alt. 2 StAG liegt aktuell nicht vor.

Das Verlangen der Volljährigkeit einer Person, die die Entlassung begehrt, ist eine abstrakt zumutbare Entlassungsbedingung. Auch das deutsche Recht geht in § 19 StAG davon aus, dass Minderjährige nur unter besonderen Voraussetzungen aus der deutschen Staatsangehörigkeit entlassen werden können. Die durchaus international übliche Entlassungsbedingung des Erreichens der Volljährigkeit verfolgt das sachgerechte Ziel, einen Gleichklang zwischen den staatsangehörigkeitsrechtlichen Verhältnissen der Eltern und derjenigen der Kinder herzustellen (vgl. HTK-StAR / § 12 StAG / zu Abs. 1 S. 1 Nr. 3 Alt. 2 05/2013 Nr. 4.4).

Ob die Entlassungsvoraussetzung des Erreichens der Volljährigkeit grundsätzlich auch eine konkret-individuell zumutbare Entlassungsvoraussetzung darstellt (so BVerwG, Urt. v. 21.02.2013 - 5 C 9/12 - juris -), kann dahingestellt bleiben. Auch unter Zugrundelegung der bisher herrschenden Meinung, wonach die abstrakt zumutbare Entlassungsvoraussetzung des Erreichens der Volljährigkeit bei Hinzutreten besonderer Umstände im konkreten Einzelfall unzumutbar werden kann, liegen die Voraussetzungen des § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Alt. 2 StAG nicht vor. Denn im vorliegenden Fall ist das Entlassungserfordernis "Erreichen der Volljährigkeit" nicht eine konkret-individuell unzumutbare Bedingung.

Im Rahmen der gebotenen Zumutbarkeitsprüfung sind sämtliche öffentliche und private Belange zu berücksichtigen und abzuwägen. In diese Abwägung ist auch das Kindeswohl als allgemeines Prinzip (§ 1697a BGB) einzustellen, ohne dass es der Feststellung einer Gefährdung des kindlichen Wohls bedarf. Weiter ist von Bedeutung, ob der minderjährige Einbürgerungsbewerber im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen und von der Volljährigkeitsgrenze noch einige Jahre entfernt ist und Bindungen an den Herkunftsstaat seiner Eltern hat. Im Bereich der öffentlichen Belange ist zu beachten, dass der Gesetzgeber den im Bundesgebiet geborenen Kindern ausländischer Eltern nur unter den Voraussetzungen des § 4 Abs. 3 StAG die deutsche Staatsangehörigkeit zuerkennt und diese zudem durch die Optionspflicht nach § 29 Abs. 1 StAG belastet sind. Schließlich ist auch der Gedanke der staatsangehörigkeitsrechtlichen Familieneinheit von Bedeutung. Sind bereits beide Elternteile in den deutschen Staatsverband eingebürgert, ist dies ein starkes Indiz für die Annahme einer unzumutbaren Bedingung, um den Gleichklang zwischen den staatsangehörigkeitsrechtlichen Verhältnissen der Eltern und ihrem Kind herzustellen. Umgekehrt spricht vieles dafür, dass die abstrakt zumutbare Entlassungsvoraussetzung des Erreichens der Volljährigkeit im konkreten Einzelfall nicht unzumutbar ist, wenn kein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt; denn in diesem Fall würde ein Gleichklang zwischen den staatsangehörigkeitsrechtlichen Verhältnisse der Eltern und derjenigen des minderjährigen Einbürgerungsbewerbers durch die begehrte Einbürgerung gerade nicht erreicht. Ist lediglich ein Elternteil deutscher Staatsangehöriger, so ist zu prüfen und zu gewichten, warum nicht auch der andere Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt (vgl. zum Ganzen HTK-StAR / § 12 StAG / zu Abs. 1 S. 2 Nr. 3 Alt. 2 05/2013 Nr. 4.4).

In Anwendung dieser Grundsätze stellt das Entlassungserfordernis "Erreichen der Volljährigkeit" im Falle der Klägerin keine konkret-individuell unzumutbare Bedingung dar. Denn weder die Eltern noch die Geschwister der Klägerin sind im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit, so dass der bislang bestehende Gleichklang zwischen den staatsangehörigkeitsrechtlichen Verhältnissen der Eltern, der Klägerin und ihrer Geschwister durch eine alleinige Einbürgerung der Klägerin verloren ginge. Außerdem ist die Klägerin nur einige Monate von der Volljährigkeitsgrenze entfernt, so dass ihr zumutbar ist, die Volljährigkeit abzuwarten. Zwar ist die Klägerin im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen und in das deutsche Gesellschaftsleben voll integriert. Dies allein reicht indes für die Annahme einer konkret-individuell unzumutbaren Bedingung des Entlassungserfordernisses "Erreichen der Volljährigkeit" nicht. [...]