VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 20.06.2013 - 19 ZB 13.40 - asyl.net: M20955
https://www.asyl.net/rsdb/M20955
Leitsatz:

Ein Verstoß gegen die Pflicht, das mit Ausweisungen verbundene Einreiseverbot zu befristen, ist im Verfahren über die Zulassung des Rechtsmittels nur dann erheblich, wenn auch zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Zulassung noch kein Befristungsbescheid vorliegt.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Ausweisung, Einreiseverweigerung, Einreiseverbot, Befristung, Befristungsbescheid, maßgeblicher Zeitpunkt, Beurteilungszeitpunkt, Rückführungsrichtlinie,
Normen: AufenthG § 11,
Auszüge:

[...]

f) Die Klägerin rügt mit Schriftsatz vom 6. Juni 2013, das mit ihrer Ausweisung verbundene Einreiseverbot sei entgegen der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts weder von der Behörde noch vom Verwaltungsgericht mit einer Befristung versehen worden. Die Ausweisung sei daher rechtsfehlerhaft.

Der Senat befasst sich mit dieser Rüge, weil das Bundesverwaltungsgericht die von der Klägerin angesprochenen Rechtsprechungsgrundsätze beginnend mit dem Urteil vom 14. Februar 2012 (1 C 7/11 - BVerwGE 142,29 ff.) entwickelt hat, also nach dem Ablauf der Frist zur Begründung des Zulassungsantrags (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) im August 2011. Das diesbezügliche Vorbringen der Klägerin begründet jedoch keine ernsthaften Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Urteils.

aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben die Ausländerbehörden seit dem Inkrafttreten des § 11 AufenthG in der Fassung des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 Ausweisungen mit einer Befristung ihrer Sperrwirkungen (des Einreiseverbotes) zu versehen. Die Verwaltungsgerichte haben, wenn sie eine Ausweisung für rechtmäßig erachten, der Ausweisungsbescheid aber keine Befristung des Einreiseverbots (der Sperrwirkungen) enthält, auf den (jedenfalls konkludent gestellten) Hilfsantrag hin die Befristung herbeizuführen, also die Behörde zum Erlass eines Bescheides über die (vom Gericht festzulegende) Dauer des Einreiseverbots zu verpflichten (vgl. BVerwG, U.v. 14.2.2012 – 1 C 7/11 – BVerwGE 142,29 ff. Juris Rn. 28 ff., U.v. 10.7.2012 – 1 C 19/11 – BVerwGE 143,277 Juris Rn. 27 ff., U.v. 13.12.2012 – 1 C 14/12 – InfAuslR 2013,141 ff. Juris Rn. 11 ff., U.v. 13.12.2012 – 1 C 20/11 – InfAuslR 2013,169 ff. Juris Rn. 38 ff.). Durch diese Rechtsprechung trägt das Bundesverwaltungsgericht den Intentionen des Gesetzgebers bei der Neufassung des § 11 AufenthG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 und dem Regelungsmodell der Rückführungsrichtlinie Rechnung, zu dem die Verbindung der Rückkehrentscheidung nicht nur mit einem Einreiseverbot, sondern auch mit dessen Befristung gehört (BVerwG, U.v. 10.7.2012 a.a.O. Rn. 37 und v. 13.12.2012 – 1 C 14/12 – a.a.O. Rn. 11, jeweils unter Hinweis auf Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie).

Aus der Tatsache, dass Befristungen, die erst nach der Ausreise des Ausländers als Ergebnis eines eigenständigen Verwaltungsverfahrens vorgenommen werden, der Rückführungsrichtlinie und den im Hinblick auf sie vorgenommenen Rechtsänderungen nicht mehr entsprechen, ergibt sich aber nicht, dass die mit einem Einreiseverbot verbundene Ausweisung und dessen Befristung einen einheitlichen Streitgegenstand darstellen. Nach der gesetzlichen Systematik sind Ausweisung und Befristung nach wie vor zwei getrennte Verwaltungsakte; die Ausweisung "als solche" kann auch ohne Befristung des Einreiseverbots rechtmäßig sein; das Prozessrecht muss nur gewährleisten, dass der Ausländer gemäß § 11 Absatz 1 Satz 3 AufenthG n. F. nicht auf ein eigenständiges neues Verfahren verwiesen wird (vgl. BVerwG, U.v. 14.2.2012 a.a.O. Rn. 30, v. 10.7.2012 a.a.O. Rn. 39 und v. 13.12.2012 – 1 C 14/12 – a.a.O. Rn. 12). Ein in allen Einzelheiten gemeinsames Verfahren über beide Entscheidungen ist daher nicht zwingend; dem vom Bundesgesetzgeber umgesetzten Willen des Richtliniengebers ist vielmehr schon dann hinreichend Rechnung getragen, wenn die Behörde zu dem Zeitpunkt, zu dem die Ausweisung bestandskräftig wird (im Falle der Klageerhebung zum Zeitpunkt der Rechtskraft der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, die die Ausweisung bestätigt), dem Hilfsantrag auf Befristung der Ausweisung bereits nachgekommen ist. Bevor der Befristungsbescheid nicht erlassen ist, dürfen – worüber die Berufungsgerichte und das Bundesverwaltungsgericht wachen – Urteile im Klageverfahren und im Berufungsverfahren keine Rechtskraft erlangen. Aus all dem ergibt sich, dass ein verwaltungsgerichtliches Urteil nicht deshalb rechtswidrig ist, weil das Verwaltungsgericht gegen seine Verpflichtung verstoßen hat, über den (jedenfalls konkludent gestellten) Hilfsantrag auf nachträgliche Beifügung einer Befristung zu entscheiden, und einen Ausweisungsbescheid für rechtmäßig erachtet hat, der noch keine Befristung enthält; die Ausweisung ist nur dann rechtswidrig (d.h. ein Verstoß gegen die Rückführungsrichtlinie und die – auch auf der Grundlage des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 ergangenen – Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts), wenn eine Befristung auch zu dem Zeitpunkt noch nicht verfügt worden ist, zu dem die nicht weiter anfechtbare Entscheidung ergeht, die das Gerichtsverfahren abschließt (in diesem Sinn vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10/12 – NVwZ-RR 2013,435 ff. Juris Rn. 26 ff.). Die Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. März 2013 (1 B 17/12 – Juris Rn. 9 ff.) und vom 15. April 2013 (1 B 22/12 – Juris Rn. 26 ff.) gehen nur für den Fall des Fehlens einer Befristung bei Eintritt der Rechtskraft von einer Divergenz zur Rechtsprechung des BVerwG aus, für den gegenteiligen Fall aber von einem fehlenden (Zulassungsantrags-) Rechtschutzinteresse, und beschränken die Nutzbarkeit des Revisionsverfahrens für Befristungsanträge auf die Ausweisungsfälle, die ohnehin in der Revisionsinstanz anhängig sind (vergleiche die Schlussabschnitte der Gründe dieser beiden Beschlüsse des BVerwG).

Diese Sichtweise hat das Bundesverwaltungsgericht zwar nicht konsequent durchgehalten (so scheint das BVerwG in Rn. 46 des Urteils vom 10.7.2012 a.a.O. und in Rn. 18 des Urteils vom 13.12.2012 – 1 C 14/12 – a.a.O. jeweils trotz der Streitgegenständlichkeit von zwei Verwaltungsakten den einfachen Auffangstreitwert zu Grunde gelegt zu haben), trägt aber der Rückführungsrichtlinie sowie der anhand dieser Richtlinie auszulegenden Neufassung des § 11 Abs. 1 AufenthG in vollem Umfang Rechnung und ist auch sachgerecht. Es ist keine sachlicher Grund ersichtlich, der dafür spricht, im Rechtsmittelzulassungsverfahren ein verwaltungsgerichtliches Urteil zu beanstanden, das die Befristungsnotwendigkeit nicht berücksichtigt hat, wenn dieser Notwendigkeit zwischenzeitlich durch einen (ebenfalls der gerichtlichen Überprüfung unterliegenden) Befristungsbescheid Rechnung getragen worden ist. Eine solche Beanstandung ist auch nicht erforderlich, um eine richtliniengerechte Praxis herbeizuführen. Die derzeit noch anhängigen Ausweisungen ohne Befristung sind entweder vor den Rechtsänderungen aufgrund der Rückführungsrichtlinie und des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 oder vor der allgemeinen Verbreitung der durch diese Rechtsänderung ausgelösten Befristungsrechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erlassen worden. Der gleichzeitige Erlass von Ausweisungsbescheid und Befristungsbescheid liegt im behördlichen Interesse; separate Verfahren sind mit einem erhöhten Verwaltungsaufwand verbunden. Gegen eine Vernachlässigung der ausländerbehördlichen Befristungspflicht durch das Verwaltungsgericht spricht darüber hinaus, dass das Bundesverwaltungsgericht nach dem Abschluss der aufgrund des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 entstandenen Übergangsfälle seine Rechtsprechung ändern und einen strengeren Maßstab anlegen könnte.

bb) Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt, dass der Ausweisungsbescheid und das verwaltungsrechtliche Urteil auch unter dem Gesichtspunkt der Befristungspflicht nicht rechtswidrig sind. Das Verwaltungsgericht hat die Klage am 12. Mai 2011 abgewiesen, also zu einem Zeitpunkt, zu dem das Bundesverwaltungsgericht seine Grundsätze zur Befristungspflicht noch nicht entwickelt hatte. Aus den in Abschnitt aa) dargelegten Gründen wäre das verwaltungsgerichtliche Urteil auch dann nicht zu beanstanden gewesen, wenn es zu einem späteren Zeitpunkt ergangen wäre. Die Ausweisung ist nicht rechtswidrig, weil zum Zeitpunkt des hiesigen Beschlusses, durch den die Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils herbeigeführt wird (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO), das behördliche Befristungsverfahren abgeschlossen ist. Mit Ergänzungsbescheid vom 22. Mai 2013 hat die Beklagte die Wirkungen der mit Bescheid vom 21. Januar 2011 verfügten Ausweisung und einer eventuellen Abschiebung auf die Dauer von sieben Jahren ab der Ausreise/Abschiebung befristet. Damit ist den Anforderungen der Rückführungsrichtlinie und des § 11 AufenthG in der Fassung des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 Genüge geleistet. Einer Befassung mit den Ausführungen, die die Klägerin mit Schriftsatz vom 6. Juni 2013 gegen den Befristungsbescheid vom 22. Mai 2013 richtet, bedarf es im hiesigen Zulassungsantragsverfahren nicht, denn insoweit ist der Rechtsschutz der Klägerin wegen ihrer Befugnis zur Klage gegen den Befristungsbescheid gewährleistet. [...]