VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Beschluss vom 19.07.2013 - 10 L 675/13 - asyl.net: M20976
https://www.asyl.net/rsdb/M20976
Leitsatz:

Für einen Minderheitenangehörigen aus dem Kosovo ist vor dem Hintergrund des Besuchs einer Schule für Lernbehinderte das Vorliegen besonderer Umstände des Einzelfalls, aufgrund derer das Verlassen des Bundesgebiets eine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG darstellen kann, besonders zu berücksichtigen.

Schlagwörter: Kosovo, Minderheit, ethnische Minderheit, außergewöhnliche Härte, Förderschule, Förderschule Lernen, Lernbehinderung, Lernstörung, Behinderung,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 4 S. 2,
Auszüge:

[...]

Der von dem Antragsgegner hinsichtlich des Antragstellers zu 3. geprüfte Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG ist von dem Antragsgegner abgelehnt worden, weil aus dessen Sicht besondere Umstände des Einzelfalles, die das Verlassen des Bundesgebiets für den Ausländer eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde, nicht vorliegen. Insoweit trifft der Hinweis darauf, dass dahingehende Umstände "nicht vorgebracht" und "aus der Ausländerakte auch nicht zu ersehen" seien (Bl. 2 des Ausgangsbescheides , 6. Absatz - Bl. 21 GA), nicht zu, weil mit dieser Argumentation die von dem Antragsgegner offenbar selbst bei der damaligen Schule ... - Förderschule Lernen des Landkreises Saarlouis, ..., des Antragstellers zu 3. angeforderte Information (vgl. das Schreiben der Schule vom 30.11.2009, Bl. 163 f. VA) und die mit Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Antragsteller vom 19.09.2012 (Bl. 185 ff. VA), mit dem er sich ausdrücklich auf die schulischen Umstände, denen der Antragsteller zu 3. im Kosovo ausgesetzt sein werde, beruft, vorgelegten Unterlagen der ...-Schule - Förderschule Lernen, …, mit anderen Worten also einer Schule für Lernbehinderte, übergangen werden. Hiervon ausgehend bedurfte es der Bewertung dieser Unterlagen und der Aufklärung der voraussichtlichen schulischen Umstände, die der Antragsteller zu 3. im Kosovo erwarten wird, durch weitere Sachaufklärung (Auskünfte des BAMF, der Deutschen Botschaft o.ä.), die den Rahmen des vorliegenden Verfahrens sprengt und im Widerspruchsverfahren erfolgen kann. Daher ist die Hauptsache diesbezüglich als offen zu bewerten.

Die dazu von dem Antragsgegner im angefochtenen Bescheid weiter getroffenen Überlegungen (Bl. 9 oben des Ausgangsbescheides, Bl. 20 GA) lassen jedenfalls weder eine ausreichende Begründung des Fehlens einer außergewöhnlichen Härte noch eine dem pflichtgemäßen Ermessen genügende Abwägung der im Falle des Antragstellers zu 3. vorliegenden Umstände erkennen. Einerseits wird darauf abgestellt, dass es bei dem im Bundesgebiet geborenen Antragsteller zu 3. zu einem gewissen Grad zwangsläufig zu einer Verwurzelung in die hiesigen Lebensverhältnisse - etwa durch den Kindergarten- und Schulbesuch und die sich daraus ergebenden altersentsprechenden Kenntnisse der deutschen Sprache - gekommen sei, indes aber keine so weitgehende Integration in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland erfolgt sei, dass ihm die weitere Lebensplanung und -führung im Schutze der Familie auch in dem gemeinsamen Herkunftsland nicht fortführbar wäre. Andererseits wird nicht verkannt, dass ihm nach einer Ausreise bzw. Abschiebung in das Kosovo möglicherweise eine nicht ganz einfache Phase der "Wiedereingewöhnung nach mehrjähriger Abwesenheit aus dem Kosovo" bevorstehe. Letztgenannte Überlegungen weisen schon einen Bewertungsfehler insoweit auf, als für die Wiedereingewöhnung auf eine mehrjährige Abwesenheit aus dem Kosovo abgestellt wird, obgleich der Antragsteller zu 3. sich bisher niemals im Kosovo, sondern seit Geburt im Bundesgebiet aufgehalten hat. Daher kann von einer Wiedereingewöhnung keine Rede sein. Vielmehr handelt es sich für den Antragsteller zu 3. um die erstmalige Konfrontation mit den Lebensverhältnissen in seinem Herkunftsland. Bei dieser Bewertung der Ermessenserwägungen des Antragsgegners geht die Kammer davon aus, dass sich nach der unmittelbaren Ansprache des Antragstellers zu 3. im entsprechenden Begründungsteil auf Seite 9 des angefochtenen Bescheides, 1. Absatz, 1. Satz ("Bei Ihnen, Herr ..."), auch der nachfolgende Satz zur "Wiedereingewöhnung nach mehrjähriger Abwesenheit" bei der durch das Personalpronomen "Ihnen" an den vorangegangenen Satz unmittelbar anknüpft, sich – wie auch der folgende 2. Satz - auf den Antragsteller zu 3. bezieht. Dafür spricht auch, dass im nachfolgenden 3. Satz dieses Abschnittes ausdrücklich die Antragsteller zu 1. und 2. ("Sie, Herr und Frau ...") angesprochen werden. Aber auch dann, wenn die fragliche, auf den Antragsteller zu 3. bezogene Wertung entgegen seiner alleinigen konkreten Ansprache auf sämtliche Antragsteller bezogen sein sollte, was der durchgehend von unmittelbarer persönlicher Ansprache der unterschiedlichen Antragsteller geprägten Abfassung und der Begründung des angefochtenen Bescheides, die diesen "sperrig" erscheinen lässt, entspricht, hat der Antragsgegner die Situation, auf die der Antragsteller zu 3. bei einer Rückkehr und Aufenthaltnahme zusammen mit seiner in den Kosovo zurückkehrenden engeren Familie treffen wird, nicht umfassend gewürdigt. Dabei ist insbesondere von Bedeutung, dass in dem Bescheid die schulische Situation des Antragstellers zu 3., wie sie aus den im Verwaltungsverfahren vorgelegten Bescheinigungen (Bl. 138, 163, 164, 191 und 192 ff.) hervorgeht, keine genügende Berücksichtigung gefunden hat. Aus den Bescheinigungen wird insbesondere deutlich, dass sich der Antragsteller zu 3. in einer Förderschule Lernen befindet und besonderen Förderbedarf im Bereich Lernen hat, mit der Folge, dass er aufgrund seiner individuellen Lernausgangslage mit den Lehrern und dem Lernen an der Regelschule nicht zurecht kommt und er einen Anspruch auf eine besondere, individuelle Förderung hat, wie dies aus dem Bericht über die pädagogische Situation des Antragstellers zu 3. der ...-Schule, ... vom 28.08.2012 hervorgeht. Diese Lernbehinderung findet in den Erwägungen des Antragsgegners keinen Ausdruck. In den Darlegungen im Schriftsatz vom 29.04.2013 kann insoweit keine ergänzende Bewertung gesehen werden, da diesbezüglichen Ausführungen keine fundierte Auseinandersetzung mit der Situation des Antragstellers zu 3. und der schulischen Situation, in die er bei einer Aufenthaltsnahme im Kosovo kommen wird, darstellen. Es kommt nämlich nicht darauf an, dass er genügende Sprachkenntnisse besitzt, sondern auf die Frage, ob er sich in seinem Herkunftsland in einem normalen Schulsystem überhaupt und ohne Nachteile, die eine außergewöhnliche Härte für ihn bedeuten, zurecht finden kann. Soweit der Antragsgegner dabei weiter ergänzend darauf hinweist, dass im Falle einer gemeinsamen Rückkehr der Antragsteller in das Herkunftsland es auch denkbar sei, dass bei dem Antragsteller zu 3. sowohl die ständig mitschwingende Angst vor einer Abschiebung als auch die große Verantwortung In daraus resultierende Drucksituation wegfallen und er sich im Heimatland auf schulische Inhalte konzentrieren könnte, zumal dieser gute schulische Leistungen erbringen könne, wenn ihm der Verantwortungsdruck genommen werde, ersetzen diese bloßen Spekulationen keine fundierte Beurteilung, zumal es ebenso sein kann, dass die dem Antragsteller zu 3. attestierte Drucksituation im Bundesgebiet dort durch eine neue Drucksituation, mit der er nicht ohne Weiteres mit Hilfe seiner Familie fertig werden kann, ersetzt wird. Schließlich findet eine Auseinandersetzung mit der rechtlichen Problematik und der einschlägigen Rechtsprechung zu dieser Frage (vgl. etwa OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.03.2012, 7 A 1141/11, und BayVGH, Beschluss vom 12.03.2013, 10 CE 12.2697, 10 C 12.2700 - jeweils zitiert nach juris) nicht statt.

Nach allem können die Erfolgsaussichten des Widerspruchsverfahrens von der Kammer zum Entscheidungszeitpunkt nicht beurteilt werden.

Die dann vorzunehmende hauptsacheoffene Interessenabwägung fällt zugunsten des Antragstellers zu 3. aus. Maßgebend hierfür ist, dass die Folgen, die der Antragsteller zu 3. bei einer Aufenthaltsnahme im Kosovo zu gewärtigen hätte, das öffentliche Interesse an der sofortigen Aufenthaltsbeendigung vor Ablauf des eingeleiteten Rechtsmittelverfahrens eindeutig überwiegen, zumal sich der Antragsteller zu 3. seit seiner Geburt zusammen mit seinen Eltern, den Antragstellern zu 1. und 2., in der Bundesrepublik Deutschland aufhält.

Der Anspruch der Antragsteller zu 1. und 2. auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ergibt sich, wie dargelegt, in Anknüpfung an die dem minderjährigen Sohn, dem Antragsteller zu 3., zugesprochene Anordnung der aufschiebenden Wirkung auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 GG, ohne dass es einer weiteren Prüfung des Vorliegens hinreichender Erfolgsaussichten ihres Widerspruchs bedarf. [...]