LG München I

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Zitieren als:
LG München I, Beschluss vom 31.07.2013 - 13 T 16164/13 - asyl.net: M21006
https://www.asyl.net/rsdb/M21006
Leitsatz:

Bei Feststellung der Voraussetzungen der Abschiebungshaft ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Allein der Tatbestand des illegalen Grenzübertritts reicht nicht für die Annahme einer Entziehungsabsicht aus. Vielmehr muss die Rückübernahme durch den Drittstaat wahrscheinlich und die Entziehungsabsicht im konkreten Fall erkennbar sein. Allgemeine Vermutungen reichen dazu nicht aus, es ist die Feststellung konkreter Umstände erforderlich.

Schlagwörter: Verhältnismäßigkeit, illegaler Grenzübertritt, unerlaubte Einreise, unerlaubte Einreise, Zurückschiebung, Entziehungsabsicht, Untertauchen, Abschiebungshaft, Freiheitsentziehung, Zurückschiebungshaft, Dublinverfahren,
Normen: AufenthG § 15 Abs. 5 S. 2, AufenthG § 57 Abs. 3, AufenthG § 62, AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

1. Auf die Fälle der Inhaftierung zur Sicherung der Zurüchschiebung finden nach §§ 15 Abs. 5 S. 2, 57 Abs. 3 die Bestimmungen des § 62 AufenthG Anwendung. Zwar liegen die Voraussetzungen des § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 AufenthG hier vor. Bei Feststellung der Haftvoraussetzungen ist jedoch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Alleine der Tatbestand des illegalen Grenzübertritts reicht dafür nicht aus (vgl. BVerfG. EZAR 048 Nr. 13 = InfAuslR 1994, 342), sondern es müssen die Rückübernahme durch den Drittstaat wahrscheinlich sein und im konkreten Einzelfall die Entziehungsabsicht erkennbar sein. Allgemeine Vermutungen reichen nicht aus, es ist die Feststellung konkreter Umstände erforderlich.

Der Betroffene wollte mit seiner Familie zwar unbedingt nach Deutschleid und hat dafür eine erhebliche Zahlung an Schleuser bezahlt, damit seine Familie sicher ist und seine Kinder auf eine Schule gehen dürfen. Dieses Ziel ist jedoch durch ein illegales Untertauchen nicht zu erreichen, so dass es keinen Anhaltspunkt für eine Entziehungsabsicht bietet. Er gab in seiner Anhörung vor dem Amtsgericht an, zusammen mit seiner Familie abgeschoben zu werden, was keinen Anhaltspunkt für eine Entziehungsabsicht bietet. Auch die Annahme der Antragstellerin, dass der Betroffene in Gelsenkirchen, wo er 5 Jahre gelebt hat eventuell Anlaufadressen hat und es ihm somit leichter fallen dürfte, dort unterzutauchen, ist zum einen nicht belegt. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Aufenthalt bereits 13 Jahre zurückliegt. Der Betroffene gab in der Anhörung an, nicht zu wissen, ob die damaligen Bekannten noch da sind. Dies dürfte nach der langen Zeit auch sehr fraglich sein. Ein begründeter Verdacht, dass sich der Betroffene einer geplanten Zurückschiebung entziehen könnte, kann daraus nicht hergeleitet werden.

Gegen eine Entziehungsabsicht spricht ferner, dass sich der Betroffene in Ungarn selbst der Polizei gestellt hat und eine Flüchtlingsunterkunft in Anspruch genommen hat. Seine Aussage, dass er auch in Deutschland mit seiner Familie eine Asyl- oder Flüchtlingsunterkunft aufsuchen und sich melden wollte, ist insoweit glaubhaft. Auch die Tatsache, den er von Österreich einen grenzüberschreitenden ICE gewählt hat, wo stets mit polizeilichen Kontrollen zu rechnen ist, spricht gegen eine Entziehungsabsicht.

Schließlich steht dem begründeten Verdacht einer Entziehungsabsicht entgegen, dass der Betroffene mit seiner Frau und 2 Kindern, eines davon ein Kleinkind, nach Deutschland gekommen ist und hier mit der Familie ein sicheres Leben führen möchte. Nachdem er die Strapazen der Flucht mit der Familie auf sich genommen hat, um mit dieser in Sicherheit zu leben, kann nicht davon ausgegangen werden, dass er diese im Stich lässt und alleine untertaucht. Ein Untertauchen mit der ganzen Familie erscheint jedoch als sehr unwahrscheinlich.

Damit ist auch der Haftgrund des § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 AufenthG nicht gegeben.

2. Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muss der Grundrechtseingriff zudem geboten sein. Es hat eine Interessenabwägung zu erfolgen und es bedarf der sorgfältigen Prüfung milderer Mittel. Nachdem der Betroffene mit seiner Frau und seinen kleinen Kindern gemeinsam nach Deutschland gekommen ist, muss im Rahmen der Interessenabwägung auch das Grundrecht auf Ehe und Familie, Art. 6 GG berücksichtigt werden. Es kann an der Verhältnismäßigkeit der Haft fehlen, wenn zwischen dem Ausländer und seiner Lebensgefährtin eine Beistandsgemeinschaft besteht und sie und die gemeinsamen Kinder auf die Unterstützung durch den Ausländer angewiesen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 06.12.2012 - V ZB 218/11). Hiervon ist hier auszugehen, da lediglich der Betroffene Erfahrungen in Deutschland hat und über gewisse Deutschkenntnisse verfügt. Zudem sind die Kinder noch sehr klein. Gerade nach den Strapazen der Flucht und der damit verbundenen psychischen Belastung, sind die Frau und die Kinder auf die - auch psychische - Unterstützung des Betroffen angewiesen. Der Betroffene kann nach seinen Angaben nur 5 Minuten in der Woche telefonieren, so dass der Kontakt zur Familie weitgehend abgeschnitten ist. Auch wenn die Antragstellerin beabsichtigt, den Betroffenen und seine Familie gemeinsam nach Ungarn zurück zu schieben, ist die Haft des Betroffenen hier nach Auffassung der Kammer nicht verhältnismäßig.

3. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Betroffene zwischenzeitlich am 24.07.2013 einen Wiederaufnahmeantrag und noch Angaben des Verfahrensbevollmächtigten ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beabsichtigt ist, der bei zu erwartendem Erfolg zur Unverhältnismäßigkeit der Haft führen würde bzw. ein einem baldigen Vollzug des Zurückschiebungsbescheids entgegenstehendes Hindernis nach § 62 Abs. 2 S. 4AufenthG begründen würde (vgl. BGH, Beschluss vom 15.07.2010, Az. V ZB 10/10). Nach zwei aktuellen Entscheidung des VG München vom 03.07.2013 (Az. M 10 S 13.30613) und vom 19.07.2013 (Az. M 1 K 13.30169) wäre mit Erfolgsaussichten eines einstweiligen Rechtsschutzes im hier vorliegenden Falle einer Zurückschiebung zu rechnen. In den Gründen der Entscheidung vom 03.07.2013 heißt es: "Das Gericht geht derzeit davon aus, dass ein rechtsstaatliches Asylverfahren In Ungarn in Zweifel steht. Das Schutzniveau, welches die Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004) insbesondere in Art. 28 (Sozialleistungen) und in Art. 31 (Zugang zu Wohnraum) festlegt, kann dort ebenso wenig gewährleistet werden wie ein richtlinienkonformes Asylverfahren nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 16.02.2003. Ferner wird gegen die Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2011) zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern verstoßen. ... Insbesondere aus dem UNHCR-Positionspapier vom April 2012 und dem Bericht von Pro Asyl vom 15.03.2012 ergibt sich, dass die Unterbringungsmöglichkeiten insbesondere bei Minderjährigen in Ungarn europäischen Standards nicht entsprechen. Misshandlungen in der Haft und Ruhigstellung renitenter Flüchtlinge mittels Medikamenten seien regelmäßig zu beobachten."

Damit wäre auch die Absicht der Antragstellerin, den Betroffenen und seine Familie gemeinsam nach Ungarn zurückzuschieben, nicht durchführbar. Die nach gemäß § 57 Abs. 3 i.V.m. § 82 Abs. 2 S. 4 AufenthG erforderliche Prognose, ob die Abschiebung bei realistischer Betrachtung innerhalb der angeordneten Haftdauer erfolgen kann, kann daher bei der geplanten und gebotenen gemeinsamen Zurückschiebung der Familie nicht mit der erforderlichen Sicherheit getroffen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 11.05.2011, V ZB 285/10).

Es ist davon auszugehen, dass mildere Mittel, wie die Unterbringung des Betroffenen mit seiner Familie in einer Gemeinschaftsunterkunft verbunden mit Meldeauflagen hier sowie ggf. räumliche Beschränkungen hier ausreichend sind. [...]