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VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 11.07.2013 - 5 K 1316/12.GI.A - asyl.net: M21011
https://www.asyl.net/rsdb/M21011
Leitsatz:

Ahmadis, für die das Praktizieren ihres Glaubens in der Öffentlichkeit und gegebenenfalls auch das Werben für den Glauben identitätsbestimmend und daher unverzichtbar ist, droht in Pakistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung.

Die vom Bundesverwaltungsgericht geforderte Relationsbetrachtung (vgl. Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 21.12 -, juris), die der Plausibilisierung des Verfolgungsrisikos dienen soll, erscheint faktisch unmöglich (wie VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.06.2013 - A 11 S 757/13 -, juris).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ahmadiyya, Ahmadis, Pakistan, Religionsgemeinschaft, religiöse Verfolgung, Relationsbetrachtung,
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 8,
Auszüge:

[...]

Nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnisquellen besteht für diejenigen Ahmadis, die ihren Glauben in einer verfolgungsrelevanten Weise praktizieren und das Bekenntnis aktiv in die Öffentlichkeit tragen, in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko, wenn sie ihren Glauben öffentlich leben und bekennen (würden). Bei dieser wertenden Betrachtung ist insbesondere das erhebliche Risiko für Leib und Leben durch die Gefahr einer jahrelangen Inhaftierung mit Folter bzw. unmenschlichen Haftbedingungen und von Attentaten bzw. gravierenden Übergriffen privater Akteure zu berücksichtigen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.06.2013, a.a.O.). Eine besondere und zusätzliche Relationsbetrachtung (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.06.2013, a.a.O.), die der Plausibilisierung des Verfolgungsrisikos dienen soll, erscheint faktisch unmöglich. Wie bereits ausgeführt, lässt sich der in diesem Zusammenhang einzusetzende Faktor der Zahl derjenigen Ahmadis, die trotz aller Verbote, Strafandrohungen, Strafverfahren, verhängter Strafen sowie Leib oder Leben gefährdender Angriffe privater Akteure weiter öffentlichkeitswirksam agieren, nicht annähernd zuverlässig ermitteln. Scheitert bereits an dieser Tatsache eine Relationsbetrachtung, dürfen diese faktischen Grenzen der Ermittlungsmöglichkeiten nicht zu Lasten der Schutzsuchenden und Schutzbedürftigen gehen. Wenn sich wie hier aus anderen Erkenntnisquellen plausible Schlussfolgerungen ziehen lassen, die noch hinreichend verlässlich sind, gebietet es im Interesse eines wirksamen und menschenrechtsfreundlichen Flüchtlingsschutzes der unionsrechtliche Grundsatz des "effet utile", damit sein Bewenden haben zu lassen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.06.2013, a.a.O.).

Darüber hinaus stellt auch der erzwungene Verzicht auf öffentlichkeitsbezogenes Glaubensleben bei dem hier in den Blick zu nehmenden Personenkreis eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach Art. 9 Abs. 1 QRL dar, die für sich betrachtet bereits die maßgebliche Verfolgung im Sinne dieser Vorschrift bedeutet (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.06.2013, a.a.O.). Selbst wenn der auf die dargestellte Art und Weise verursachte Verzicht auf jede öffentliche Glaubensbetätigung allein noch nicht die Qualität eines relevanten Verfolgungseingriffs hätte, ergibt sich ein solcher jedenfalls aus einer wertenden Zusammenschau dieses Aspekts mit den oben beschriebenen vielfältigen Diskriminierungen und Einschränkungen, die für sich betrachtet entweder noch keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im konkreten Einzelfall begründen bzw. nicht die erforderliche Schwere aufweisen mögen. Wegen dieser letztlich maßgeblichen Gesamtschau liegt im Falle eines erzwungenen Verzichts auf eine öffentliche Glaubensbetätigung ebenfalls eine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b QRL vor (ebenso VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.06.2013, a.a.O.).

Einem seinem Glauben innerlich verbundenem Ahmadi steht auch kein interner Schutz im Sinne des Art. 8 QRL in Pakistan offen. Es gibt keinen Landesteil, in dem er in zumutbarer Weise und ungefährdet seinen Glauben öffentlich leben kann. Was die dem pakistanischen Staat unmittelbar zuzurechnenden Eingriffe angeht, sind die rechtlichen Rahmenbedingungen landesweit die gleichen. Hinsichtlich der Aktionen privater Akteure bietet nach den vorliegenden Erkenntnisquellen auch die Stadt Rabwah Ahmadis keine ausreichende Verfolgungssicherheit (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.06.2013, a.a.O.).

Aufgrund des durch die informatorische Befragung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 11.07.2013 gewonnenen Eindrucks und des Ergebnisses der Beweisaufnahme handelt es sich bei ihr um eine ihrem Glauben eng verbundene und von diesem stark geprägte Angehörige der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft.

Die Klägerin, die ausweislich der Bescheinigung des Ahmadiyya-Muslim-Jamaat e.V. vom 19.11.2012 seit ihrer Geburt der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft angehört, hat sich bei ihrer informatorischen Befragung in der mündlichen Verhandlung als in früheren Jahren in ihrem Heimatland sehr aktives Mitglied der Ahmadiyya-Gemeinde dargestellt. Sie hat dargelegt, sie habe in Karachi in dem Stadtteil Gurumandir gelebt.

Die nächstgelegene Ahmadiyya-Moschee habe man recht gut zu Fuß erreichen können. In ihrem Wohngebiet habe es früher noch viele Ahmadi-Familien gegeben. Sie selbst habe in der örtlichen Gemeinde die Funktion der Vorsitzenden der Frauengruppe begleitet. Ihre Hauptaufgabe sei es gewesen, mit den Frauen den Koran zu lesen und über dessen Inhalt zu sprechen. Außerdem habe sie die religiösen Programme organisiert. Die Frauen hätten sich damals ein- bis zweimal monatlich getroffen. Die Klägerin hat sich zum damaligen Zeitpunkt aber nicht nur auf diese gemeindeinterne Tätigkeit beschränkt. Sie hat nach ihren auch insoweit glaubhaften Angaben auch missioniert, indem sie zu den von ihr organisierten religiösen Treffen auch Nicht-Ahmadifrauen aus der Nachbarschaft eingeladen hat, um mit ihnen über den Glauben der Ahmadis zu sprechen. Diese auch öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten musste die Klägerin entgegen ihrer inneren Überzeugung einstellen, nachdem ihr Ehemann im Jahre 2007 verstorben war und nach ihrer anschaulichen Schilderung sich immer mehr Ahmadi-Familien aus ihrem Wohngebiet zurückzogen und sich an ihrer Stelle orthodoxe Muslime dort ansiedelten. Die Klägerin war nun in einem für sie feindlichen Umfeld geradezu isoliert und gezwungen, von einer öffentlichen Glaubensbetätigung Abstand zu nehmen. Der Kontakt zu ihrer örtlichen Ahmadiyya-Gemeinde beschränkte sich in telefonischen Nachfragen nach ihrem Befinden. Ein persönlicher Kontakt durch regelmäßige Besuche von Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinde wäre aus Sicht der Klägerin für diese "sehr gefährlich" gewesen. Die aggressive und feindliche Haltung der orthodoxen Muslime gegen die Klägerin findet eine Erklärung nicht nur in ihren früheren persönlichen Aktivitäten für die Ahmadiyya-Gemeinde, sondern auch in den von ihrem Ehemann ausgeübten Funktionen. Wie der in der mündlichen Verhandlung vernommene Zeuge B. F. A. glaubhaft erläutert hat, handelte es sich bei dem Ehemann der Klägerin um eine herausgehobene Persönlichkeit in der Ahmadiyya-Gemeinde in Karachi. Dieser sei als Sekretär für die Heiratsangelegenheiten zuständig gewesen, das heißt er habe die Formalitäten vor der Eheschließung erledigt. Darüber hinaus habe er die Funktion des Vorsitzenden der örtlichen Ahmadiyya-Gemeinde inne gehabt.

Die Bindung der Klägerin an ihren Glauben ist auch nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ungebrochen. Auf die in der mündlichen Verhandlung gestellte Frage, welche Bedeutung der Glauben in ihrem Leben habe, hat sie erwidert, er sei ein sehr wichtiger Teil ihres Lebens. Weil sie gesundheitlich angeschlagen sei, verrichte sie nur die Freitagsgebete in der Moschee in A-Stadt. Im Übrigen bete sie zu Hause. Wenn es ihr gut gehe, gehe sie auch zwischendurch mal in die Moschee und nehme an den religiösen Treffen teil. Sie sei jetzt mit "Allahs Segen" hier und könne anders als in Pakistan, wo es für sie sehr viele Probleme gegeben habe, ihren Glauben in Ruhe praktizieren. Diese Angaben hat der Zeuge A., der Vorsitzende der Ahmadiyya-Gemeinde A-Stadt, bestätigt. Er hat ausgeführt, die Klägerin habe eine sehr tiefe Bindung zur Gemeinde und zu ihrem Glauben, könne diesen aber nicht wie eine junge Frau in die Öffentlichkeit tragen. Sie verrichte ihre Gebete zu Hause und komme zu den Freitagsgebeten in die Moschee. Ansonsten sei sie aufgrund ihres Alters und ihrer gesundheitlichen Probleme nicht in der Lage, größere Aktivitäten zu entfalten.

Aufgrund des gewonnenen persönlichen Eindrucks von der Klägerin, ihren glaubhaften und vom Zeugen A. bestätigten Angaben, ist das Gericht von der engen Verbundenheit der Klägerin mit ihrem Glauben und ihrer inneren Verpflichtung überzeugt, diesen im Rahmen der aufgrund ihres Alters und ihres Gesundheitszustandes nur noch begrenzten Möglichkeiten auch in die Öffentlichkeit zu tragen. Als alte und kranke Frau müsste die Klägerin in Pakistan in flüchtlingsschutzrelevanter Weise auf jegliches öffentliches Glaubensbekenntnis verzichten. [...]