Berichtet ein Asylsuchender aus Afghanistan aus Scham gegenüber weiblichen Bediensteten der zuständigen Behörden des Aufnahmestaates nicht von seiner Homosexualität und findet die Anhörung darüber hinaus in einer Haftanstalt in entsprechend einschüchternder Atmosphäre statt, so hat er es ohne grobes Verschulden i.S.d. § 51 Abs. 2 VwVfG versäumt, seine Fluchtgründe anzugeben.
[...]
Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling nach § 60 Abs. 1 AufenthG, so dass der Bescheid insoweit rechtswidrig und daher aufzuheben war.
1. Im vorliegenden Fall handelt es sich um einen Zweitantrag nach § 71a AsylVfG. Danach ist, wenn der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat, für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag) stellt, ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen.
a) Die Bundesrepublik Deutschland ist für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Zwar hat der Kläger bereits in Großbritannien ein Asylverfahren durchlaufen. Nach Art. 16 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II VO) ist die Zuständigkeit von Großbritannien jedoch erloschen, weil Großbritannien nach der Ablehnung des Antrags die notwendigen Vorkehrungen getroffen und tatsächlich umgesetzt hat, damit der Drittstaatsangehörige in sein Herkunftsland zurückkehrt. Der Kläger wurde ausweislich der Grenzübertrittsbescheinigung von Großbritannien vom 4. April 2012 nach Afghanistan abgeschoben (vgl. Bl. 87 der Behördenakte).
b) Es liegen auch die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vor. Zum einen war er ohne grobes Verschulden außer Stande, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren geltend zu machen (vgl. aa). Zum anderen liegt auch eine Sachlage vor, die sich nachträglich zu Gunsten des Betroffenen geändert hat (vgl. bb).
aa) Zwar bestand die Verfolgungsgefahr in Afghanistan wegen der homosexuellen Veranlagung des Klägers bereits vor seiner erstmaligen Ausreise aus Afghanistan und somit bereits während des ersten Asylverfahrens in Großbritannien. Der Kläger war jedoch ohne grobes Verschulden (§ 51 Abs. 2 VwVfG) außer Stande, die Verfolgungsgefahr wegen seiner homosexuellen Veranlagung in Großbritannien geltend zu machen. Grobes Verschulden im Sinne dieser Vorschrift meint jede Schuldform von der groben Fahrlässigkeit an bis zum Vorsatz. Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerwiegender Weise außer Acht lässt. Bei der entsprechenden Bewertung des Verhaltens oder Unterlassens eines Beteiligten können auch subjektive Merkmale berücksichtigt werden (VGH BW, U.v. 11.10.1985 - 5 S 1368/85 - juris; VG Frankfurt, U.v. 23.11.2010 - 7 K 2790/10.F.A - juris Rn. 12; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 12. Aufl. 2011, § 51 Rn. 45).
Auf Grund der vom Kläger geschilderten Umstände und des persönlichen Eindrucks, den sich das Gericht von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung verschaffen konnte, steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger es aus bis zum Zeitpunkt des Stellens seines Zweitantrags nicht überwindbaren Schamgefühle unterlassen hatte, eine Verfolgungsgefahr in Afghanistan wegen seiner homosexuellen Veranlagung geltend zu machen. Er hat überzeugend dargelegt, dass er seine sexuelle Orientierung gegenüber seinen Familienmitgliedern wie auch seine mit gleichgeschlechtlichen Partnern geführten Beziehungen verleugnen musste, um nicht aus der Familie und der Gesellschaft ausgestoßen zu werden. So habe er in Afghanistan niemanden von seiner Homosexualität erzählt. In der Öffentlichkeit sei dies nicht möglich gewesen. Jeder habe Angst, seine Eltern hätten ihn umgebracht (vgl. Niederschrift über die Anhörung, Bl. 34, 35 der Behördenakte). Es ist nachvollziehbar, dass er in Großbritannien diese Verfolgungsgefahr nicht geltend gemacht hat. Seine Anhörung fand zum einen im Gefängnis in der entsprechenden, einschüchternden Atmosphäre und zum anderen von einer weiblichen Anhörerin mit einer weiblichen Dolmetscherin statt. Auf Grund seiner kulturellen Prägung ist es glaubhaft, dass er Frauen von seinen Problemen nichts erzählen wollte. So hat er beispielsweise auch geschildert, dass er in Afghanistan mehrere Meter hinter seiner Mutter hergehen musste. Zu berücksichtigen ist auch die besondere Situation des Klägers, der in Großbritannien im Gefängnis eingesperrt war. Er wusste nicht, wie dieser Staat auf seine homosexuelle Veranlagung reagieren würde und wurde zudem noch von einem Mithäftling falsch beraten, der ihm sagte, er solle davon besser nichts erzählen. Dass er sich diesem anvertraut hat und diesem vertraut hat, ist verständlich, da dieser auch homosexuell war. [...]
Dass der Kläger aus nicht überwindbarem Schamgefühl nicht in der Lage war, sein Verfolgungsschicksal bereits im ersten Verfahren geltend zu machen, deckt sich auch mit dem Ablauf bei der Anhörung durch das Bundesamt. In der Niederschrift ist festgehalten, dass der Anhörer sogar explizit nachgefragt habe, ob der Kläger homosexuell sei. Dies hat er zuerst verneint (Bl. 29 der Behördenakte). Erst am Ende der Anhörung wandte er sich in englischer Sprache an den Anhörer und gab an, dass er noch ein Problem habe. Er könne jedoch nicht frei vor dem Dolmetscher sprechen, denn er schäme sich. Niemand dürfe davon erfahren. Auf ausdrückliche Nachfrage des Unterzeichners gab er an, er sei homosexuell. Schon seit seiner Kindheit sei er homosexuell. In England habe er das nicht erwähnen können, denn er sei durch eine Frau angehört worden und da habe er sich geschämt (Bl. 34 der Behördenakte). Dieser Ablauf verdeutlicht eindrücklich, dass der Kläger offensichtlich eine große Hemmschwelle überwinden musste, um seine homosexuelle Veranlagung mitzuteilen. Dies wird umso deutlicher, als bei der Anhörung in der Bundesrepublik Deutschland sowohl Anhörer als auch Dolmetscher männlich waren. Wenn er selbst vor diesen offensichtlich größte Probleme hatte, seine sexuelle Orientierung darzulegen, ist es erst recht glaubhaft, dass ihm dies aus Scham in Großbritannien vor weiblichen Personen nicht möglich gewesen war. Überzeugend ist das Verhalten des Klägers auch deshalb, weil er nach seinem Aufenthalt in Großbritannien wieder einige Monate in Afghanistan war und ihm dort nochmals die Gefahr wegen seiner sexuellen Orientierung vor Augen geführt worden ist. Es ist insoweit nachvollziehbar, dass die Schamgrenze bei seinem zweiten Verfahren in der Bundesrepublik Deutschland niedriger war, da ihm nun noch deutlicher bewusst war, dass er sein Verfolgungsschicksal schildern muss, um Schutz zu erhalten.
Ein grobes Verschulden im Sinne des § 51 Abs. 2 VwVfG kann ihm daher nicht entgegengehalten werden.
bb) Zum anderen hat sich auch die Sachlage zu Gunsten des Klägers nachträglich verändert. Der vorliegende Fall unterscheidet sich von den sonst üblichen Fällen eines Folge- bzw. Zweitverfahrens dadurch, dass der Kläger zwischen den beiden Verfahren wieder in seinem Heimatland war und dort eine neue Bedrohungssituation erfahren hat. Er ist weiterhin seinen homosexuellen Neigungen nachgegangen und berichtete glaubhaft von zwei Beziehungen, die zu gefährlichen Situationen geführt haben. Nachvollziehbar ist auch, dass er nach seiner Rückkehr aus Großbritannien verstärkt im Fokus der Aufmerksamkeit der Gesellschaft stand. Somit war auch die Gefahr erhöht, entdeckt zu werden. Des Weiteren hat er auch von einer konkreten Bedrohung berichtet, wonach er einen Anruf erhalten habe, in dem ein Jugendlicher ihn wegen seiner Homosexualität beleidigt und bedroht habe. Zwar hat er dieses Ereignis nicht ausdrücklich bei der Anhörung beim Bundesamt erwähnt, er hat jedoch auch davon berichtet, dass die Leute ihn beschimpft hätten und er vermute, von einem seiner Sexpartner verraten worden zu sein.
c) Da demnach die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 71a AsylVfG erfüllt sind, kommt es nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, ob diese Vorschrift mit der Asylverfahrensrichtlinie 2005/85/EG vereinbar ist. Des Weiteren kommt es nicht darauf an, ob durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 5. September 2012 (C-91/11- juris) eine Änderung der Rechtsprechung auch zu der Frage der Verfolgungsgefahr wegen Homosexualität und insoweit auch von einer Änderung der Rechtslage ausgegangen werden kann.
2. Unstrittig zwischen den Parteien ist dann, dass der Kläger somit auch die Voraussetzungen erfüllt, um ihm die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen. Nicht bestritten wird von der Beklagten zum einen, dass der Kläger homosexuell ist. Dies deckt sich auch mit dem persönlichen Eindruck, den das Gericht vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewinnen konnte. Aus diesem hat die Beklagte ihm auch Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 AufenthG gewährt. Der Kläger muss des Weiteren befürchten, bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner seine Persönlichkeit prägenden homosexuellen Veranlagung in flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahmen zu geraten. Nach der Erkenntnislage droht homosexuell veranlagten Personen dem Grunde nach in Afghanistan eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungssituation bis hin zur Todesstrafe (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Homosexualität, Gesetze, Rechts- und Alltagspraxis, 12.9.2006). Wenn vielleicht auch die Todesstrafe nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe derzeit nicht (mehr) vollstreckt wird, werden Homosexuelle in Afghanistan jedenfalls sozial diskriminiert und abgelehnt (Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan vom 10.1.2012, S. 23; VG Frankfurt, U.v. 23.11.2010 - 7 K 2790/10.F.A - juris Rn. 13; zur vergleichbaren Situation Homosexueller in einem islamischen Land (Nigeria): VGH BW, U.v. 7.3.2013 - A 9 S 1873/12 - juris).
Unstrittig ist auch, dass nicht davon auszugehen ist, dass der afghanische Staat in der Lage sein wird, den Kläger vor möglichen Misshandlungen ausreichend zu schützen (vgl. strittiger Bescheid vom 29.4.2013, S. 4). [...]