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OLG München

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Zitieren als:
OLG München, Urteil vom 22.08.2013 - 1 U 1488/13 - asyl.net: M21078
https://www.asyl.net/rsdb/M21078
Leitsatz:

1. Gem. Art. 5 Abs. 5 EMRK kann jeder, der entgegen Art. 5 Abs. 1 bis 4 EMRK rechtswidrig inhaftiert wird, einen verschuldensunabhängigen Schadenseratzanspruch, der auch immaterielle Schäden umfasst, geltend machen.

2. Für eine Klage ist derjenige Hoheitsträger passivlegitimiert, in dessen Kompetenzbereich die Rechtsverletzung eingetreten ist. Da bei Zurückschiebungshaft die Ausländerbehörde die Herrin des Verfahrens ist, ist die Trägerin der Ausländerbehörde auch passivlegitmiert.

 

3. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sind die Umstände des Einzelfalles maßgeblich. Als Orientierungspunkt kann § 7 Abs. 3 StrEG dienen, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich dies auf die Entschädigung für rechtmäßige Haft bezieht.

Schlagwörter: verschuldungsunabhängiger Schadensersatzanspruch, Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Zurückschiebungshaft, Passivlegitimation, Haft, Freiheitsentziehung, Ausländerbehörde, Schmerzensgeld, Entschädigung, Haftentschädigung, rechtmäßige Haft, rechtswidrige Haft,
Normen: BGB § 839, GG Art. 34, EMRK Art. 5 Abs. 1 bis 4, StrEG § 7 Abs. 3, EMRK Art. 5 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

1. Mangels Verschuldens haftet die Beklagte nicht aus § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG.

2. Die Beklagte haftet dem Kläger jedoch aus Art. 5 Abs. 5 EMRK. Nach dieser Vorschrift, die in Deutschland als bundesgesetzliche Anspruchsnorm unmittelbare Rechtsgeltung hat, kann jeder, der entgegen Art. 5 Abs. 1 bis 4 EMRK rechtswidrig inhaftiert wird, einen verschuldensunabhängigen Schadensersatzanspruch, der auch immaterielle Schäden umfasst, geltend machen (BGH, Urteil vom 31.01.1966, 111 ZR 118/64).

a) Der Kläger war vom 15.06.2011 bis zum 18.07.2011 rechtswidrig in Haft (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstaben b u. f EMRK).

Dies ergibt sich schon aus der Bindungswirkung des Beschlusses des Landgerichts München I vom 25.07.2011 (vgl. den gleichgelagerten, vom BGH mit Urteil vom 31.01.1966, III ZR 118/64, entschiedenen Fall). Das Landgericht hat im Tenor festgestellt, dass der Haftverlängerungsbeschluss des Amtsgerichts München vom 16.06.2011 den Kläger in seinen Rechten verletzt hat. An diese Entscheidung ist der Senat gebunden (vgl. BGH Urteil vom 18.05.2006, III ZR 183/05).

Außerdem ist die Entscheidung des Landgerichts vom 25.07.2011 auch in der Sache richtig. Zurückschiebungshaft ist nur zur Sicherung der Zurückschiebung zulässig. Wenn die Zurückschiebung scheitert, wird zwangsläufig auch die Zurückschiebungshaft unzulässig. Die Zurückschiebung des Klägers war jedoch mit der Mitteilung der niederländischen Behörden vom 14.06.2011 gescheitert.

Damit war die Haft ab 15.06.2011 rechtswidrig im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstaben b u. f EMRK.

Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass sie von der Mitteilung der niederländischen Behörden vom 14.06.2011 (ohne ihr Verschulden) erst am 07.07.2011 Kenntnis erlangt hat. Art. 5 Abs. 5 EMRK statuiert eine vom Verschulden des Hoheitsträgers unabhängige Gefährdungshaftung für objektiv rechtswidrige Haft (BGH, Urteil vom 31.01.1966, 111 ZR 118/64).

b) Entgegen der Einschätzung des Landgerichts (und der Beklagten) ist die Beklagte passivlegitimiert.

Die europäische Menschenrechtskonvention überlässt die Frage der Passivlegitimation der Ausgestaltung durch die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen.

Eine ausdrückliche Regelung, welcher deutsche Hoheitsträger im Rahmen von Art. 5 Abs. 5 EMRK passivlegitimiert ist, enthält die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht. Deshalb ist nach allgemeinen Grundsätzen derjenige Hoheitsträger passivlegitimiert, in dessen Kompetenzbereich die Rechtsverletzung eingetreten ist. Es kommt also darauf an, welcher deutsche Hoheitsträger der "Verletzer", d. h. der Inhaftierende ist.

Das Landgericht hat sich im Anschluss an das OLG Koblenz (Beschluss vom 01.08.2006, 1 U 724/06) auf den Standpunkt gestellt, dass die staatlichen Gerichte die Haftentscheidung autonom treffen und deshalb der hier nicht verklagte Freistaat Bayern der einzige richtige Beklagte wäre. Das Landgericht argumentiert jedoch zu einseitig und lässt völlig die maßgebliche verfahrensrechtliche Stellung der Ausländerbehörde außer Betracht. Die Zurückschiebungshaft gemäß §§ 57, 62 Abs. 2 AufenthG darf zum einen vom Gericht nur auf Antrag der Ausländerbehörde angeordnet werden (§§ 415, 416, 417 FamFG i.V.m. § 71 AufenthG). Zum anderen vollzieht die Ausländerbehörde nach § 422 Abs. 3 FamFG die Haft. Die Ausländerbehörde entscheidet also zunächst einmal, ob der Betroffene die angeordnete Haft auch antreten muss. Sie kann zudem den Betroffenen jederzeit, ohne dass sie dazu der Zustimmung des Gerichts bedürfte, aus der Haftentlassen (Keidel, FamFG, 17. Aufl., Rdnr. 2 zu § 426 FamFG). Die Ausländerbehörde ist also die Herrin des Haftverfahrens. Deshalb muss die Ausländerbehörde nach der einschlägigen Verwaltungsvorschrift auch ständig prüfen, ob die Voraussetzungen der Haft noch bestehen. Die Haft selbst wurde ausschließlich als Mittel zum Zweck einer ausländerrechtlichen Maßnahme (Zurückschiebung) angeordnet.

Faktisch hält die Ausländerbehörde, mit Ausnahme der von Art. 104 Abs. 2 GG geforderten gerichtlichen Entscheidung über den Freiheitsentzug, alle Fäden in der Hand. Die Haft dient ausschließlich der Erfüllung der Aufgaben der Ausländerbehörde. Dies lässt es geboten erscheinen, die Beklagte als Trägerin der Ausländerbehörde jedenfalls als auch passivlegitimiert anzusehen.

Die zwischen den Parteien diskutierte Frage der haftungsbegründenden Kausalität stellt sich, da die Haftung nach Art. 5 Abs. 5 EMRK nur an die rechtswidrige Haft geknüpft ist, nicht.

c) Der Höhe nach sind dem Kläger pro Hafttag 30 €, insgesamt also 990 €, immaterieller Schadensersatz zuzusprechen.

Bei Bemessung des Schmerzensgeldes sind die Umstände des Einzelfalles maßgeblich. Als Orientierungspunkt kann § 7 Abs. 3 StrEG dienen, wonach jeder Tag Haft mit 25,- € zu entschädigen ist. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass § 7 Abs. 3 StrEG eine Entschädigung für rechtmäßige Haft gewährt, während Art. 5 Abs. 5 EMRK eine Entschädigung für rechtswidrige Haft zubilligt. Deshalb erhöht der Senat den Entschädigungsbetrag auf 30 €.

Soweit der Kläger im Hinblick auf reduzierte Besuchszeiten und Kommunikationsmöglichkeiten und den Umstand, dass er nicht arbeiten konnte und auch eine Freizeitbeschäftigung nur in begrenztem Umfang bestanden hätte, er unter Schlaf- und Appetitlosigkeit gelitten habe, eine höhere Entschädigung verlangt, handelt es weitgehend um typische negative Begleitumstände einer Inhaftierung, die bereits über den Grundbetrag abgegolten sind. Eine Erhöhung des Entschädigungsbetrages von 30 € vermögen diese Umstände auch deshalb nicht zu tragen, weil auch nicht unerhebliche, die Beklagte entlastende Umstände zu berücksichtigen sind. Zum einen wäre der Kläger, selbst wenn er niederländischer Staatsangehöriger war, ohne gültigen Ausweis nach Deutschland eingereist und hätte damit leichtfertig die eingetretenen Komplikationen selbst mit heraufbeschworen. Wenn der Kläger, was nach Sachlage deutlich näher liegt, nicht niederländischer Staatsangehöriger ist, fiele ihm sogar eine Straftat der unerlaubten Einreise und des unerlaubten Aufenthalts (§§ 95 Abs. 1 Nrn. 1 und 3 AufenthG i.V.m. §§ 3, 4, 14 AufenthG) zur Last.

Entgegen der Einschätzung der Beklagten ist der Anspruch des Klägers nicht deshalb zu mindern, weil der Kläger nicht an der Herbeiführung seiner Ausreise in die Dominikanische Republik mitgewirkt hat. Der Senat hat schon Zweifel daran, ob der Kläger von Rechts wegen gehalten war, seine Ausreise in die Dominikanische Republik zu fördern. Da der Kläger augenscheinlich schon langjährig seinen Aufenthalt in den Niederlanden genommen hatte und er auch weiterhin dort bleiben wollte, mag es letztlich der Wahrnehmung seiner berechtigten Interessen entsprechen, sich dorthin zurückschieben zu lassen. Außerdem kann die Beklagte ohnehin nicht beweisen, dass dem Kläger, wenn er am 01.06.2011 die von der Beklagten gewünschten Erklärungen abgegeben und den Passersatzantrag ausgefüllt hätte, dadurch in nennenswertem Umfang Haft erspart geblieben wäre. Über die Dauer der Bewerkstelligung einer Ausreise des Klägers in die Dominikanische Republik kann nur spekuliert werden. Zuverlässige Erkenntnisse darüber hat augenscheinlich auch die darlegungs- und beweispflichtige Beklagte nicht. Sie ist folglich über die unsubstantiierte allgemeine Behauptung, dass solche Verfahren erfahrungsgemäß 14 Tage bis 1,5 Monate dauern, nicht hinausgekommen. Abgesehen davon hätte eine Dauer von 1,5 Monaten ohnehin nicht zu einer wesentlichen Haftverkürzung geführt.