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EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 19.09.2013 - C-140/12, Österreich gegen Brey (= ASYLMAGAZIN 3/2014, S. 80 ff.) - asyl.net: M21108
https://www.asyl.net/rsdb/M21108
Leitsatz:

Das Unionsrecht, wie es sich insbesondere aus den Art. 7 Abs. 1 Buchst. b, 8 Abs. 4 und 24 Abs. 1 und 2 der [Unionsbürgerrichtlinie] ergibt, ist dahin auszulegen, dass es einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, wonach selbst in der Zeit nach einem dreimonatigen Aufenthalt die Gewährung einer Leistung wie der Ausgleichszulage nach § 292 Abs. 1 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes in der durch das Budgetbegleitgesetz 2011 mit Geltung ab dem 1. Januar 2011 geänderten Fassung an einen wirtschaftlich nicht aktiven Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats unter allen Umständen und automatisch aufgrund der Tatsache ausgeschlossen ist, dass dieser, obwohl ihm eine Anmeldebescheinigung ausgestellt wurde, die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt für mehr als drei Monate im Hoheitsgebiet des ersten Staates deshalb nicht erfüllt, weil dieses Aufenthaltsrecht davon abhängt, dass dieser Staatsangehörige über ausreichende Existenzmittel verfügt, um diese Leistung nicht beantragen zu müssen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Vorabentscheidungsverfahren, Vorabentscheidungsersuchen, Aufenthalt, dreimonatiger Aufenthalt, Ausgleichszulage, Unionsbürger, nicht erwerbstätig, Erwerbstätigkeit, wirtschaftlich nicht aktiver Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaates, rechtmäßiger Aufenthalt, Anmeldung, Anmeldebescheinigung, Aufenthaltsrecht, Existenzmittel, ausreichende Existenzmittel, Sicherung des Lebensunterhalts, Gleichbehandlung, Sozialleistungen, gewöhnlicher Aufenthalt, Rente, Rentner, Sozialhilfe,
Normen: AEUV Art. 267, RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 1 Bst. b, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 1, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Zum Recht eines wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgers auf eine Leistung wie die im Ausgangsverfahren streitige im Aufnahmemitgliedstaat

33 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil Skalka entschieden hat, dass die Ausgleichszulage nach § 292 Abs. 1 ASVG in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fällt und folglich eine "beitragsunabhängige Sonderleistung" im Sinne von Art. 4 Abs. 2a in Verbindung mit Anhang IIa dieser Verordnung ist. Diese Leistung wird nach Art. 10a Abs. 1 dieser Verordnung vom zuständigen Träger des Wohnmitgliedstaats und zu seinen Lasten nach den Rechtsvorschriften dieses Staates gewährt.

34 Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang in Randnr. 26 des Urteils Skalka festgestellt, dass die österreichische Ausgleichszulage als eine "Sonderleistung" einzustufen ist, da diese Leistung eine Alters- oder Invaliditätsrente ergänzt, sie Sozialhilfecharakter hat, soweit sie dem Empfänger im Fall einer unzureichenden Rente ein Existenzminimum gewährleisten soll, und sie nach objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien gewährt wird.

35 Außerdem hat der Gerichtshof in den Randnrn. 29 und 30 dieses Urteils befunden, dass die Ausgleichszulage als "beitragsunabhängig" anzusehen ist, da zum einen die Ausgaben zunächst von einem sozialen Träger übernommen und diesem dann in voller Höhe vom betreffenden Bundesland erstattet werden, das die zur Finanzierung der Leistung erforderlichen Beträge aus dem Bundeshaushalt erhält, und zum anderen die Beiträge der Versicherten zu keiner Zeit in diese Finanzierung einbezogen werden.

36 Es steht fest, dass die entsprechenden Bestimmungen der Verordnung Nr. 883/2004, nämlich deren Art. 3 Abs. 3 und Art. 70 sowie Anhang X, die "besondere beitragsunabhängige Geldleistungen" betreffen, an dieser Beurteilung nichts ändern können.

37 Nach Ansicht der Europäischen Kommission ist aus diesen Bestimmungen abzuleiten, dass die Bedingung, wonach der Betreffende zur Inanspruchnahme der Ausgleichszulage über ein rechtmäßiges Aufenthaltsrecht für über drei Monate im Aufnahmemitgliedstaat verfügen müsse, nicht dem Unionsrecht entspreche. Jedermann, der wie Herr Brey als ein Pensionist, der keine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit mehr ausübe, in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 falle, habe nämlich nach Art. 70 Abs. 4 dieser Verordnung Anspruch auf Zahlung von besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen in seinem Wohnsitzmitgliedstaat. Nach Art. 1 Buchst. j dieser Verordnung entspreche der Wohnort einer Person aber dem Ort, an dem sie sich "gewöhnlich aufhält", ein Ausdruck, der den Mitgliedstaat bezeichne, in dem die betreffenden Personen gewöhnlich wohnten und in dem sich der gewöhnliche Mittelpunkt ihrer Interessen befinde. Daraus folge, dass die in § 292 Abs. 1 ASVG in Verbindung mit § 51 Abs. 1 NAG vorgesehene Voraussetzung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts eine gegen Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 verstoßende mittelbare Diskriminierung darstelle, da sie nur Unionsbürger betreffe, die nicht die österreichische Staatsangehörigkeit besäßen.

38 Es ist daher vorab zu prüfen, ob ein Mitgliedstaat die Gewährung einer Leistung, die in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 fällt, an einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats von der Bedingung abhängig machen darf, dass dieser die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt von über drei Monaten erfüllt. Denn nur, wenn diese Frage zu bejahen wäre, müsste geklärt werden, ob ein solches Aufenthaltsrecht der Bedingung unterworfen werden darf, dass der Betreffende über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass er diese Leistung nicht beantragen muss.

Zu dem Erfordernis, dass die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt von über drei Monaten erfüllt sein müssen

39 Es ist festzustellen, dass Art. 70 Abs. 4 der Verordnung Nr. 883/2004, auf den sich die Kommission stützt, eine "Kollisionsnorm" enthält, mit der die auf besondere beitragsunabhängige Geldleistungen anzuwendenden Rechtsvorschriften und die für die Zahlung der darin bezeichneten Leistungen zuständigen Träger bestimmt werden sollen.

40 Somit sollen mit dieser Vorschrift nicht nur die gleichzeitige Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden, sondern sie soll auch verhindern, dass Personen, die in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 fallen, der Schutz im Bereich der sozialen Sicherheit vorenthalten wird, weil keine Rechtsvorschriften auf sie anwendbar sind (vgl. entsprechend Urteile vom 11. Juni 1998, Kuusijärvi, C-275/96, Slg. 1998, I-3419, Randnr. 28, und vom 21. Februar 2013, Dumont de Chassart, C-619/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 38).

41 Dagegen soll diese Bestimmung als solche nicht die inhaltlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anspruchs auf besondere beitragsunabhängige Geldleistungen festlegen. Es ist grundsätzlich Sache der Rechtsvorschriften jedes Mitgliedstaats, diese Voraussetzungen festzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil Dumont de Chassart, Randnr. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42 Es kann daher aus Art. 70 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 nicht geschlossen werden, dass das Unionsrecht einer nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die den Anspruch auf eine besondere beitragsunabhängige Geldleistung davon abhängig macht, dass die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt in dem betreffenden Mitgliedstaat erfüllt sind.

43 Die Verordnung Nr. 883/2004 schafft nämlich kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit, sondern lässt unterschiedliche nationale Systeme bestehen und soll diese nur koordinieren. Sie lässt somit unterschiedliche Systeme bestehen, die zu unterschiedlichen Forderungen gegen unterschiedliche Träger führen, gegen die dem Leistungsberechtigten unmittelbare Ansprüche entweder allein nach dem nationalen Recht oder nach dem erforderlichenfalls durch Unionsrecht ergänzten nationalen Recht zustehen (Urteile vom 3. April 2008, Chuck, C-331/06, Slg. 2008, I-1957, Randnr. 27, und Dumont de Chassart, Randnr. 40).

44 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht aber hervor, dass grundsätzlich nichts dem entgegensteht, dass die Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, von dem Erfordernis abhängig gemacht wird, dass diese die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Mai 1998, Martínez Sala, C-85/96, Slg. 1998, I-2691, Randnrn. 61 bis 63, vom 20. September 2001, Grzelczyk, C-184/99, Slg. 2001, I-6193, Randnrn. 32 und 33, vom 7. September 2004, Trojani, C-456/02, Slg. 2004, I-7573, Randnrn. 42 und 43, vom 15. März 2005, Bidar, C-209/03, Slg. 2005, I-2119, Randnr. 37, und vom 18. November 2008, Förster, C-158/07, Slg. 2008, I-8507, Randnr. 39).

45 Es ist jedoch erforderlich, dass die Bedingungen, denen die Gewährung eines solchen Aufenthaltsrechts unterliegt – wie die im Ausgangsverfahren fragliche, dass ausreichende Existenzmittel zur Verfügung stehen müssen, so dass die Ausgleichszulage nicht beantragt wird –, selbst im Einklang mit dem Unionsrecht stehen.

Zu dem Erfordernis, dass ausreichende Existenzmittel zur Verfügung stehen müssen, so dass die Ausgleichszulage nicht beantragt wird

46 Es ist darauf hinzuweisen, dass das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufzuhalten, ohne dort einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis oder einer selbständigen Tätigkeit nachzugehen, nicht uneingeschränkt besteht. Nach Art. 21 Abs. 1 AEUV besteht nämlich das jedem Unionsbürger zustehende Recht, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufzuhalten, vorbehaltlich der im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen (vgl. in diesem Sinne Urteile Trojani, Randnrn. 31 und 32, vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C-200/02, Slg. 2004, I-9925, Randnr. 26, und vom 11. Dezember 2007, Eind, C-291/05, Slg. 2007, I-10719, Randnr. 28).

47 Hinsichtlich dieser Beschränkungen und Bedingungen ist Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 zu entnehmen, dass die Mitgliedstaaten verlangen können, dass die Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, die das Aufenthaltsrecht in ihrem Hoheitsgebiet für einen Zeitraum von über drei Monaten wahrnehmen wollen, ohne eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, für sich und ihre Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat und über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Februar 2010, Teixeira, C-480/08, Slg. 2010, I-1107, Randnr. 42).

48 Die Kommission ist im Unterschied zu allen Regierungen, die schriftliche Erklärungen abgegeben haben, der Ansicht, dass die Ausgleichszulage, da sie eine besondere beitragsunabhängige Geldleistung sei, die in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 falle, nicht als Leistung der "Sozialhilfe" im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 angesehen werden könne. Im Übrigen gehe aus der Begründung dieser Richtlinie (Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, KOM[2001] 257 endg.) hervor, dass die Leistungen der "Sozialhilfe" im Sinne dieser Bestimmung diejenigen seien, die zurzeit nicht von der Verordnung Nr. 883/2004 erfasst würden. Diese Auslegung werde dadurch bestätigt, dass nach dieser Begründung die Sozialhilfe im Sinne der Richtlinie 2004/38 die kostenlose medizinische Fürsorge umfasse, die durch Art. 3 Abs. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 vom Anwendungsbereich dieser Verordnung gerade ausgeschlossen sei.

49 In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sowohl aus den Anforderungen der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch aus dem Gleichheitsgrundsatz folgt, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontextes der Bestimmung und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (vgl. u. a. Urteile vom 14. Februar 2012, Flachglas Torgau, C-204/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 37, und vom 11. April 2013, Edwards und Pallikaropoulos, C-260/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 29).

50 Wie bereits aus den Randnrn. 33 bis 36 des vorliegenden Urteils hervorgeht, fällt eine Leistung wie die Ausgleichszulage in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004. Dieser Umstand kann jedoch als solcher für die Auslegung der Richtlinie 2004/38 nicht entscheidend sein. Denn wie von allen Regierungen, die schriftliche Erklärungen abgegeben haben, vorgetragen worden ist, verfolgt die Verordnung Nr. 883/2004 andere Ziele als diese Richtlinie.

51 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 883/2004 das in Art. 48 AEUV festgelegte Ziel dadurch zu erreichen sucht, dass mögliche nachteilige Wirkungen, die die Ausübung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer in Bezug auf den Genuss von Leistungen der sozialen Sicherheit durch sie und ihre Familienangehörigen haben könnte, verhindert werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Chuck, Randnr. 32).

52 Zur Erreichung dieses Ziels sieht diese Verordnung vorbehaltlich der Ausnahmen, die sie festlegt, den Grundsatz der Exportierbarkeit von Geldleistungen, die in ihren Anwendungsbereich fallen, in den Aufnahmemitgliedstaat durch die Aufhebung von Wohnortklauseln nach ihrem Art. 7 vor (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. November 1997, Snares, C-20/96, Slg. 1997, I-6057, Randnrn. 39 und 40).

53 Hingegen soll die Richtlinie 2004/38 zwar die Ausübung des jedem Unionsbürger unmittelbar aus dem Vertrag erwachsenden elementaren und persönlichen Rechts erleichtern und verstärken, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (vgl. Urteile vom 25. Juli 2008, Metock u. a., C-127/08, Slg. 2008, I-6241, Randnrn. 82 und 59, vom 7. Oktober 2010, Lassal, C-162/09, Slg. 2010, I-9217, Randnr. 30, und vom 5. Mai 2011, McCarthy, C-434/09, Slg. 2011, I-3375, Randnr. 28), doch soll sie auch – wie aus ihrem Art. 1 Buchst. a hervorgeht – näher die Bedingungen regeln, unter denen dieses Recht ausgeübt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile McCarthy, Randnr. 33, und vom 21. Dezember 2011, Ziolkowski und Szeja, C-424/10 und C-425/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 36 und 40), zu denen im Falle eines Aufenthalts von über drei Monaten die Bedingungen gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie gehören, wonach Unionsbürger, die die Arbeitnehmereigenschaft nicht oder nicht mehr besitzen, über ausreichende Existenzmittel verfügen müssen.

54 Insbesondere dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 ist zu entnehmen, dass diese Voraussetzung u. a. verhindern soll, dass diese Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen (Urteil Ziolkowski und Szeja, Randnr. 40).

55 Eine solche Bedingung beruht auf dem Gedanken, dass die Wahrnehmung des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger von der Wahrung der berechtigten Interessen der Mitgliedstaaten abhängig gemacht werden kann, im vorliegenden Fall dem Schutz ihrer öffentlichen Finanzen (vgl. entsprechend Urteile vom 17. September 2002, Baumbast und R, C-413/99, Slg. 2002, I-7091, Randnr. 90, Zhu und Chen, Randnr. 32, sowie vom 23. März 2006, Kommission/Belgien, C-408/03, Slg. 2006, I-2647, Randnrn. 37 und 41).

56 Unter dem gleichen Blickwinkel sieht Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 eine Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz vor, auf den sich andere Unionsbürger als Arbeitnehmer oder Selbständige, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihre Familienangehörigen, die sich im Hoheitsgebiet eines Aufnahmemitgliedstaats aufhalten, berufen können, indem dem Aufnahmemitgliedstaat erlaubt wird, insbesondere während der ersten drei Monate des Aufenthalts den Anspruch auf Sozialhilfe nicht zu gewähren (vgl. Urteil vom 4. Juni 2009, Vatsouras und Koupatantze, C-22/08 und C-23/08, Slg. 2009, I-4585, Randnrn. 34 und 35).

57 Daraus ergibt sich, dass die Verordnung Nr. 883/2004 zwar den Unionsbürgern, die von ihrem Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch gemacht haben, die Beibehaltung des Anspruchs auf bestimmte Leistungen der sozialen Sicherheit, die in ihrem Ursprungsmitgliedstaat gewährt wurden, garantieren soll, aber es die Richtlinie 2004/38 ihrerseits dem Aufnahmemitgliedstaat erlaubt, Unionsbürgern, wenn sie die Arbeitnehmereigenschaft nicht oder nicht mehr besitzen, rechtmäßige Beschränkungen in Bezug auf die Gewährung von Sozialleistungen aufzuerlegen, damit diese die Sozialhilfeleistungen dieses Staates nicht unangemessen in Anspruch nehmen.

58 Unter diesen Umständen kann der Begriff der "Sozialhilfeleistungen" in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 entgegen dem Vorbringen der Kommission nicht auf die sozialen Fürsorgeleistungen reduziert werden, die nach Art. 3 Abs. 5 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 nicht in deren Anwendungsbereich fallen.

59 Wie mehrere Regierungen, die Erklärungen eingereicht haben, ausgeführt haben, würde die gegenteilige Auslegung bewirken, dass die Mitgliedstaaten je nach der Organisationsweise ihrer nationalen Systeme der sozialen Sicherheit ungerechtfertigt unterschiedlich behandelt würden, weil die Qualifizierung einer Leistung wie der des Ausgangsverfahrens als eine "besondere" – und demnach ihre Einbeziehung in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 – insbesondere davon abhängt, ob die Gewährung dieser Leistung im nationalen Recht auf objektiven Kriterien oder ausschließlich auf der Bedürftigkeit des Betroffenen beruht.

60 Daraus folgt, dass der Begriff der "Sozialhilfeleistungen" im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 nicht anhand von formalen Kriterien, sondern anhand des mit dieser Bestimmung verfolgten Ziels zu bestimmen ist, wie es in den Randnrn. 53 bis 57 des vorliegenden Urteils dargelegt worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Vatsouras und Koupatantze, Randnrn. 41 und 42, sowie vom 24. April 2012, Kamberaj, C-571/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 90 bis 92).

61 Folglich ist dieser Begriff so zu verstehen, dass er sich auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme bezieht, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe haben kann, die dieser Staat gewähren kann (vgl. in diesem Sinne Urteile Bidar, Randnr. 56, Eind, Randnr. 29, und Förster, Randnr. 48, sowie entsprechend Urteile vom 4. März 2010, Chakroun, C-578/08, Slg. 2010, I-1839, Randnr. 46, und Kamberaj, Randnr. 91).

62 Was die im Ausgangsverfahren streitige Ausgleichszulage angeht, ergibt sich aus den Randnrn. 33 bis 36 des vorliegenden Urteils, dass eine solche Leistung als "Sozialhilfeleistung" des betreffenden Mitgliedstaats angesehen werden kann. Wie nämlich der Gerichtshof in den Randnrn. 29 und 30 des Urteils Skalka festgestellt hat, wird diese Leistung, die dem Empfänger im Fall einer unzureichenden Rente ein Existenzminimum gewährleisten soll, ohne jeden Beitrag der Versicherten vollständig durch die öffentliche Hand finanziert.

63 Daher kann der Umstand, dass ein wirtschaftlich nicht aktiver Angehöriger eines anderen Mitgliedstaats angesichts der geringen Höhe seiner Rente zum Bezug einer solchen Leistung berechtigt sein kann, einen Anhaltspunkt dafür darstellen, dass er nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt, um die Sozialhilfeleistungen dieses Staates nicht unangemessen im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 in Anspruch zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil Trojani, Randnrn. 35 und 36).

64 Die zuständigen nationalen Behörden können eine solche Schlussfolgerung jedoch nicht ziehen, ohne eine umfassende Beurteilung der Frage vorzunehmen, welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde.

65 Erstens ist nämlich hervorzuheben, dass die Richtlinie 2004/38 keineswegs die Möglichkeit ausschließt, im Aufnahmemitgliedstaat den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten Sozialleistungen zu gewähren (vgl. entsprechend Urteil Grzelczyk, Randnr. 39).

66 Vielmehr wird durch mehrere Bestimmungen dieser Richtlinie gerade vorgesehen, dass ihnen solche Leistungen gewährt werden können. Wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, geht aus dem Wortlaut von Art. 24 Abs. 2 dieser Richtlinie hervor, dass nur während der ersten drei Monate des Aufenthalts unter Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 24 Abs. 1 der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet ist, Unionsbürgern, die nicht oder nicht mehr die Arbeitnehmereigenschaft besitzen, einen Anspruch auf eine Sozialhilfeleistung zu gewähren. Zudem bestimmt Art. 14 Abs. 3 dieser Richtlinie, dass die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger oder einen seiner Familienangehörigen nicht automatisch zu einer Ausweisung führen darf.

67 Zweitens schreibt Art. 8 Abs. 4 Satz 1 der Richtlinie 2004/38 ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten keinen festen Betrag für die Existenzmittel festlegen dürfen, die sie als ausreichend betrachten, sondern die persönliche Situation des Betroffenen berücksichtigen müssen. Außerdem darf nach Art. 8 Abs. 4 Satz 2 dieser Betrag der ausreichenden Existenzmittel in keinem Fall über dem Schwellenbetrag, unter dem der Aufnahmemitgliedstaat seinen Staatsangehörigen Sozialhilfe gewährt, oder, wenn dieses Kriterium nicht anwendbar ist, über der Mindestrente der Sozialversicherung des Aufnahmemitgliedstaats liegen.

68 Demnach können die Mitgliedstaaten zwar einen bestimmten Betrag als Richtbetrag angeben, sie können aber nicht ein Mindesteinkommen vorgeben, unterhalb dessen ohne eine konkrete Prüfung der Situation des einzelnen Betroffenen angenommen würde, dass der Betroffene nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt (vgl. entsprechend Urteil Chakroun, Randnr. 48).

69 Außerdem geht aus dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 hervor, dass der Aufnahmemitgliedstaat zur Beurteilung der Frage, ob ein Sozialhilfeleistungsempfänger die Sozialhilfeleistungen dieses Staates unangemessen in Anspruch nimmt, zum einen zu prüfen hat, ob der Betreffende vorübergehende Schwierigkeiten hat, und zum anderen die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände des Betreffenden und den ihm gewährten Sozialhilfebetrag zu berücksichtigen hat, bevor er eine Ausweisung veranlasst.

70 Drittens sind, da das Recht auf Freizügigkeit als ein grundlegendes Prinzip des Unionsrechts die Grundregel darstellt, die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 festgelegten Voraussetzungen eng (vgl. entsprechend Urteile Kamberaj, Randnr. 86, und Chakroun, Randnr. 43) sowie unter Einhaltung der vom Unionsrecht gezogenen Grenzen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auszulegen (vgl. Urteile Baumbast und R, Randnr. 91, Zhu und Chen, Randnr. 32, sowie Kommission/Belgien, Randnr. 39).

71 Darüber hinaus darf der den Mitgliedstaaten eröffnete Handlungsspielraum von ihnen nicht in einer Weise genutzt werden, die das Ziel der Richtlinie 2004/38, das insbesondere darin besteht, die Wahrnehmung des Grundrechts der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zu erleichtern und zu verstärken, und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen würde (vgl. entsprechend Urteil Chakroun, Randnrn. 43 und 47).

72 Daher impliziert die Bestimmung des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38, indem sie das Aufenthaltsrecht für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten davon abhängig macht, dass der Betroffene das System der "Sozialhilfeleistungen" des Aufnahmemitgliedstaats nicht "unangemessen" in Anspruch nimmt, bei ihrer Auslegung im Licht des zehnten Erwägungsgrundes der Richtlinie, dass die zuständigen nationalen Behörden befugt sind, unter Berücksichtigung aller Faktoren und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Frage ihrer Beurteilung zu unterziehen, ob die Gewährung einer Sozialleistung eine Belastung für das gesamte Sozialhilfesystem dieses Mitgliedstaats darstellt. Die Richtlinie 2004/38 erkennt somit eine bestimmte finanzielle Solidarität der Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats mit denen der anderen Mitgliedstaaten an, insbesondere wenn die Schwierigkeiten, auf die der Aufenthaltsberechtigte stößt, nur vorübergehender Natur sind (vgl. entsprechend Urteile Grzelczyk, Randnr. 44, Bidar, Randnr. 56, sowie Förster, Randnr. 48).

73 Wie aus Nr. 74 der Schlussanträge des Generalanwalts hervorgeht, verweist zwar die deutsche Fassung von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 im Gegensatz zu den meisten anderen Sprachfassungen dieser Bestimmung nicht auf ein "System" der Sozialhilfe.

74 Nach ständiger Rechtsprechung kann jedoch die in einer der Sprachfassungen einer unionsrechtlichen Vorschrift verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder insoweit Vorrang vor den anderen sprachlichen Fassungen beanspruchen. Eine solche Vorgehensweise wäre mit dem Erfordernis einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts unvereinbar. Wenn die sprachlichen Fassungen voneinander abweichen, muss die betreffende Vorschrift nach dem allgemeinen Aufbau und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (vgl. Urteile vom 27. März 1990, Cricket St. Thomas, C-372/88, Slg. 1990, I-1345, Randnrn. 18 und 19, sowie vom 12. November 1998, Institute of the Motor Industry, C-149/97, Slg. 1998, I-7053, Randnr. 16).

75 Aus den Randnrn. 64 bis 72 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass der Umstand allein, dass ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats eine Sozialhilfeleistung bezieht, nicht als Beleg dafür ausreicht, dass er die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nimmt.

76 Hinsichtlich der hier fraglichen Regelung ergibt sich aus den Erläuterungen der österreichischen Regierung in der mündlichen Verhandlung, dass zwar die Höhe der Ausgleichszulage von der Vermögenssituation des Betreffenden in Bezug auf den für die Gewährung dieser Zulage festgelegten Richtsatz abhängt, aber bereits der bloße Umstand, dass ein wirtschaftlich nicht aktiver Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats sie beantragt, ausreichend ist, um ihn unabhängig von der Dauer des Aufenthalts, der Höhe dieser Leistung und dem Zeitraum ihrer Gewährung, und somit unabhängig von der aus dieser Leistung für das gesamte Sozialhilfesystem dieses Staates erwachsenden Belastung, von dem Bezug der Ausgleichszulage auszuschließen.

77 Es ist festzustellen, dass ein solcher automatischer Ausschluss der wirtschaftlich nicht aktiven Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten von der Gewährung einer bestimmten Sozialhilfeleistung durch den Aufnahmemitgliedstaat selbst für die in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 genannte Zeit nach einem dreimonatigen Aufenthalt es den zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats nicht erlaubt, im Einklang mit den Anforderungen, die sich insbesondere aus den Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und 8 Abs. 4 dieser Richtlinie sowie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, in Fällen, in denen die Existenzmittel des Betroffenen geringer sind als der Richtsatz für die Gewährung dieser Leistung, eine umfassende Beurteilung der Frage vorzunehmen, welche Belastung die Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der die Lage des Betroffenen kennzeichnenden individuellen Umstände konkret für das gesamte Sozialhilfesystem darstellen würde.

78 Insbesondere muss es in einem Fall, wie er dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, den zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats möglich sein, bei der Prüfung des Antrags eines wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgers, der sich in einer Lage wie der von Herrn Brey befindet, u. a. die Höhe und die Regelmäßigkeit der ihm verfügbaren Einkünfte, den Umstand, dass diese Einkünfte die nationalen Behörden zur Ausstellung einer Anmeldebescheinigung bewogen haben, und den Zeitraum zu berücksichtigen, in dem ihm die beantragte Leistung voraussichtlich gezahlt werden wird. Im Übrigen kann es – wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat – zur genaueren Beurteilung des Ausmaßes der Belastung, die eine solche Zahlung für das nationale Sozialhilfesystem darstellen würde, von Bedeutung sein, den Anteil derjenigen Empfänger dieser Leistung zu ermitteln, die Unionsbürger und Empfänger einer Altersrente in einem anderen Mitgliedstaat sind.

79 Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für die Beurteilung des Sachverhalts zuständig ist, unter Berücksichtigung insbesondere dieser Kriterien festzustellen, ob die Gewährung einer Leistung wie der Ausgleichszulage an eine Person in der Lage von Herrn Brey geeignet erscheint, eine unangemessene Belastung des nationalen Sozialhilfesystems darzustellen. [...]