VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 16.05.2002 - VG 21 A 443.99 - asyl.net: M2112
https://www.asyl.net/rsdb/M2112
Leitsatz:

Ausweisungsgrund gem. § 47 Abs. 2 Nr. 3 AuslG setzt eine Versammlung i.S. von Art. 5 Abs.1 GG voraus, die tatsächlich verboten oder aufgelöst war; bloße "Zusammenrottungen" genügen nicht; keine Umdeutung einer rechtswidrigen Regelausweisung in Ermessenausweisung, wenn nicht hilfsweise Ermessenserwägungen angestellt worden sind.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Türken, Kurden, Jugendliche, Straftäter, Ausweisung, Regelausweisung, Landfriedensbruch, Versammlungsauflösung, Besetzungsaktion, PKK, Sympathisanten, Strafverfahren, Ermessen, Ermessensausweisung, Umdeutung, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: AuslG § 47 Abs. 2 Nr. 3; AuslG § 48 Abs. 1; AuslG § 48 Abs. 3 Nr. 1; StGB § 125; VereinsG § 15 Abs. 3
Auszüge:

 

Der angefochtene Ausweisungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Tatbestand einer Regelausweisung nach § 47 Abs. 2 Nr. 3 AuslG ist nicht erfüllt.

Wie bereits im Prozesskostenhilfebeschluss ausgeführt, setzt der Regelausweisungsgrund des § 47 Abs. 2 Nr. 3 AuslG nicht nur die Tatbestandsvoraussetzungen eines Landfriedensbruches voraus (Beteiligung an Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden). Dieser muss zusätzlich "im Rahmen einer verbotenen oder aufgelösten öffentlichen Versammlung oder eines verbotenen oder aufgelösten Aufzuges" stattfinden. Unstreitig hat eine ausdrückliche Versammlungs- oder Aufzugsauflösung an den beiden fraglichen Tagen nicht stattgefunden. Diese zusätzliche Tatbestandsvoraussetzung besteht unabhängig davon, ob der betreffende Personenkreis unter den Schutz der Versammlungsfreiheit nach § 1 Abs. 1 Versammlungsgesetz fällt. Überdies folgt aus § 1 Abs. 2 Nr. 4 Versammlungsgesetz (kein Versammlungsrecht für eine Vereinigung, die nach Art. 9 Abs. 2 GG verboten ist) nicht, dass eine solche Versammlung nicht aufgelöst werden müsste. Nach § 15 Abs. 3 Versammlungsgesetz sind vielmehr (auch) verbotene Veranstaltungen aufzulösen.

Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 47 Abs. 2 Nr. 3 AuslG haben ferner nichts mit der Frage zu tun, ob das Versammlungsgesetz polizeilichen Maßnahmen bei sogenannten Zusammenrottungen ohne vorherige ausdrückliche Versammlungsauflösung entgegenstehen könnte. Die sogenannte Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts hat mit Sinn und Zweck der Nr. 3 des § 47 Abs. 2 AuslG nichts zu tun: Der besondere Ausweisungsgrund, der den Gesetzgeber zur Regelausweisung auch ohne strafgerichtliche Verurteilung bewogen hat - bzw. bei § 47 Abs. 1 Nr. 2 AuslG zu einer zwingenden Ausweisung bei einer strafgerichtlichen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von weniger als den sonst geforderten 3 Jahren - ist gerade der Umstand, dass der Landfriedensbruch im Rahmen einer verbotenen oder aufgelösten öffentlichen Versammlung stattgefunden hat. Bloßes Zusammenrotten allein soll nicht ausreichen (vgl. BT -Drucks. 13/4948: "Die Regelbeispiele für besonders schwere Fälle des Landfriedensbruchs - erweitert um einfachen Landfriedensbruch, der im Zusammenhang mit einer verbotenen öffentlichen Versammlung oder eines verbotenen Aufzugs begangen, werden deshalb in diese Vorschrift eingestellt").

Dem Gesetz liegt die Erwägung zu Grunde, dass die im Vergleich zu § 47 Abs. 1 Nr. 1 erleichterte Ausweisung bei strafgerichtlicher Verurteilung ihre Rechtfertigung darin findet, dass der Ausländer nicht nur eine Straftat im Sinne des § 125 StGB begangen, sondern sich in diesem Zusammenhang auch über das an die Versammlungsteilnehmer gerichtete Verbot der Versammlung hinweggesetzt hat (so zutreffend GK-AuslR, St. Dez. 1997, § 47 Rdnr. 48).

Weiter kann hier von einer konkludenten Auflösung der Versammlung aus rechtlichen und auch tatsächlichen Gründen nicht ausgegangen werden. Zum einen setzen § 47 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 3 AuslG voraus, dass eine Versammlung stattgefunden hat. Nicht jede Ansammlung oder Zusammenrottung ist eine Versammlung. Im Unterschied zu einer Ansammlung ist im Versammlungsrecht eine Versammlung dadurch gekennzeichnet, dass eine Verbindung zwischen den Personen besteht (BVerwGE 82, 34, 38 mit Nachweisen). Zum anderen liegt die besondere Ausweisungswürdigkeit des § 47 Abs. 1 Nr. 2 , bzw. Abs. 2 Nr. 3 AuslG gerade in dem Verstoß gegen die Entfernungspflicht nach Auflösung der Versammlung. Die zusätzliche Gefahr zeigt sich darin, dass der Betreffende Widerstand gegen den Vollstreckungsbeamten leistet, der das Verbot oder die Auslösung durchsetzen will (so treffend Hailbronner, AuslR, Stand: September 2001, § 47 Rdnr. 14 k). Nach Versammlungsrecht muss eine Versammlungsauflösung tatsächlich ausgesprochen worden sein, so dass Verbots- oder Auflösungsgründe allein nicht ausreichen (ebenso GK-AuslR § 47 Rdnr. 72). Die Auflösungsverfügung muss darüber hinaus ausdrücklich und eindeutig erklärt sein (vgl. z. B. Lisken/Denninger-Kniesel, Handbuch des Polizeirechts, H 494, 539 ff. m. w. N.; GK-AuslR a.a.O. mit Bezug auf VG Hamburg, NVwZ 1987, 829, 831, Hamburger Kessel). Solche eindeutigen Versammlungsauflösungen haben im konkreten Fall nicht stattgefunden.

Die Ausweisung des Beklagten kann nicht in eine Ermessensausweisung umgedeutet werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann eine Ausländerbehörde zwar das Vorliegen eines zwingenden Versagungsgrundes dahingestellt lassen oder sich darauf berufen, gleichwohl jedoch darlegen, dass der Antrag auch nach Ermessen abgelehnt werde (BVerwGE 65, 188, 189; 66, 268, 269). Gleiches gilt nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. November 1996 - 1 C 25.94 - (InfAuslR 1997, 152 ff. = Buchholz 402.42 § 47 AuslG 1990 Nr. 11 S. 11 ff.) auch im Falle einer Regelausweisung. Ggf. kann die Ausländerbehörde hilfsweise von einem Ausnahmefall ausgehen und aus Ermessensgründen die Ausweisung verfügen. Entsprechendes muss für die vorliegende Fallkonstellation gelten, in der bereits der Tatbestand des Regelausweisungsgrundes fraglich ist. Solche hilfsweisen Ermessenserwägungen erfordern jedoch, dass die Behörde (ausdrücklich) hilfsweise von ihrem hauptsächlich vertretenen Standpunkt abrücken und erkennbar Ermessenserwägungen anstellen muss. Es genügt nicht, dass im Ausweisungsbescheid Gesichtspunkte erwähnt und gewürdigt werden, die auch bei einer Ermessensentscheidung zu beachten sind, insbesondere die nach § 45 Abs. 2 AuslG bei einer Ermessensentscheidung zwingend zu berücksichtigenden Umstände.

Der Rechtsfehler der Behörde ist auch nicht deshalb unbeachtlich, weil eine Ausweisungsentscheidung nach § 45 Abs. 1, Abs. 2 i. V. m. § 46 Nr. 2 AuslG keine andere Entscheidung zuließe, als den Kläger auszuweisen ("Ermessensreduzierung auf Null" zu Lasten des Betroffenen). Die Ausweisung ist hier bereits deshalb nicht rechtlich zwingend geboten, weil der Kläger zu den Tatzeiten noch Jugendlicher war und strafrechtlich soweit ersichtlich (nur) eine Jugendstrafe auf Bewährung zu erwarten hat.