LSG Bayern

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Zitieren als:
LSG Bayern, Urteil vom 19.06.2013 - L 16 AS 847/12 - asyl.net: M21165
https://www.asyl.net/rsdb/M21165
Leitsatz:

1. Der Leistungsausschluss für Arbeit suchende EU-Bürger in § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 ist nicht von Art 24 Abs 2 Freizügigkeits-RL 2004/38 gedeckt, weil es sich bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II nicht um Sozialhilfeleistungen handelt.

2. Der Leistungsausschluss verstößt bei Personen, die vom persönlichen Anwendungsbereich der EGV 883/2004 erfasst sind, gegen Art 4 EGV 883/2004.

3. Ein italienischer Staatsangehöriger, der in der Vergangenheit Beiträge zur deutschen Rentenversicherung entrichtet hat, kann daher auch nach einem mehrjährigem Aufenthalt in Italien und Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland nicht wirksam von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen werden.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: SGB II, Leistungsausschluss, Gleichheitsgrundsatz, Gleichbehandlungsgrundsatz, Sozialhilfe, Sozialleistungen, beitragsunabhängige Leistungen, europarechtskonform, Unionsrecht, unionsrechtskonform, Unionsbürger, tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt,
Normen: RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2, VO 883/2004 Art. 4, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Der Kläger verfügte danach lediglich über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche. Ein anderweitiges Aufenthaltsrecht, das den Anwendungsbereich des Leistungsausschlusses von vornherein nicht eröffnen würde, ergibt sich in seinem Fall weder nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) noch nach den Regelungen des Aufenthaltsgesetztes (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R -).

Insbesondere ist er nicht als Arbeitnehmer, Selbstständiger oder Nicht-Erwerbstätiger freizügigkeitsberechtigt. Er war seit seiner erneuten Einreise in Deutschland nicht abhängig beschäftigt oder selbstständig erwerbstätig, sondern arbeitsuchend und verfügte nicht über ausreichende Existenzmittel. Aufgrund der bisherigen Dauer des aktuellen Aufenthalts hat er auch noch kein Daueraufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 7 i.V.m. § 4a FreizügG/EU erworben. Ein von seiner Schwester abgeleitetes Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger würde voraussetzen, dass es sich bei ihr um eine Verwandte absteigender oder aufsteigender Linie handelt, was bei Geschwistern nicht der Fall ist. Andere in Deutschland lebende Verwandte des Klägers sind von ihm nicht angegeben worden. Ein von der Arbeitsuche unabhängiges Aufenthaltsrecht des Klägers ergibt sich auch nicht aus seiner früheren Beschäftigung. Sowohl ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer (§ 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU) als auch ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU oder § 4a FreizügG/EU erlöschen spätestens nach einer Abwesenheit von mehr als zwei Jahren (§ 4a Abs. 7 FreizügG/EU). Der Kläger hat sich für einen Zeitraum von mindestens sieben Jahren (nach seinen Angaben sogar länger) in Italien und nicht in Deutschland aufgehalten. Darüber hinausgehende nachwirkende Aufenthaltsrechte ergeben sich weder aus der Freizügigkeits-RL 2004/38 (insbesondere Art. 16 Abs. 4) noch aus früheren nationalen Regelungen.

Auch Art. 21 AEUV (ex Art.18 EGV) gewährt kein von der Arbeitsuche unabhängiges Aufenthaltsrecht. Danach hat zwar jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Dieses Recht gilt aber nicht absolut, sondern nur vorbehaltlich der im Vertrag und den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen.

Eine solche Beschränkung ergibt sich aus Art. 7 Abs. 1 b Freizügigkeits-RL 2004/38. Danach gewähren die Mitgliedstaaten den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, denen das Aufenthaltsrecht nicht schon aufgrund anderer Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts zuerkannt ist, sowie deren Familienangehörigen das Aufenthaltsrecht nur unter der Bedingung, dass sie für sich und ihre Familienangehörigen über eine Krankenversicherung, die im Aufnahmemitgliedstaat alle Risiken abdeckt, sowie über ausreichende Existenzmittel verfügen, durch die sichergestellt ist, dass sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen (vgl. auch Urteil des EUGH vom 07.09.2004 - Trojani - Rs. C-456/02 - Slg 2004, I-07573). Im Ergebnis hat daher das Sozialgericht zu Recht festgestellt, dass der Kläger aus Art. 21 AEUV kein übergeordnetes Aufenthaltsrecht herleiten kann, das ihn ohne Prüfung weiterer gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen berechtigen würde, Leistungen nach dem SGB II zu beantragen.

5.2. Gleichwohl kann der Kläger nicht wirksam von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen werden.

Der generelle Leistungsausschluss ist nicht von der Ermächtigung in Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeits-RL 2004/38 gedeckt (vergleiche bereits die Bedenken im Beschluss des Senats vom 21.12.2010 - L 16 AS 767/10 B ER -). § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist europarechtskonform auszulegen mit der Folge, dass der Leistungsausschluss auf den Kläger nicht anwendbar ist, weil er im Fall des Klägers gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 4 VO (EG) 883/2004 verstößt, auf dessen Schutz sich der Kläger berufen kann. Der Kläger kann außerdem aus Art. 24 Abs. 1 Freizügigkeits-RL 2004/38 einen Anspruch darauf herleiten, Leistungen nach dem SGB II unter den gleichen Bedingungen zu erhalten wie deutsche Staatsangehörige. Ob daneben auch ein beachtlicher Verstoß gegen die Regelungen des europäischen Fürsorgeabkommens vom 11.12.1953 (EFA) vorliegt, braucht im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 nicht mehr geklärt zu werden. Ebenfalls nicht zu entscheiden ist über die Frage, ob der Kläger seinen Anspruch unabhängig vom gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot auch aus dem aus Art. 1 i.V.m. dem in Art 20 GG (Sozialstaatsprinzip) abgeleiteten Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums herleiten kann (vgl. Beschluss des Senats vom 14.08.2012, a.a.O.).

Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen EU-Bürger befristet oder zeitlich unbefristet von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen werden können, ist höchstrichterlich nach wie vor nicht entschieden. In den anhängigen Revisionsverfahren B 4 AS 9/13 R und B 14 AS 16/13 R (jeweils Sprungrevisionen des Sozialgerichts Berlin) ist noch keine Entscheidung ergangen. Das BSG hat in seinen Entscheidungen vom 19.10.2010 (a.a.O.) und 30.01.2013 (a.a.O.) jeweils Zweifel an der europarechtlichen Zulässigkeit des Ausschlusses geäußert, soweit dieser nicht nach dem Grad der Verbindung des arbeitsuchenden Unionsbürgers zum Arbeitsmarkt des Aufnahmestaats und seinem beruflich möglichen Zugang zum Arbeitsmarkt differenziere und arbeitsuchende Unionsbürger zeitlich unbefristet von SGB II-Leistungen ausschließe. Vor diesem Hintergrund sei § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II als Ausschlussregelung von existenzsichernden Sozialleistungen jedenfalls eng auszulegen. Es hat in den entschiedenen Fällen einen Anspruch anderweitig hergeleitet (im Urteil vom 19.10.2010 aus dem EFA, im Urteil vom 30.01.2013 und zuvor schon in einer Entscheidung vom 25.01.2012 (B 14 AS 138/11) aus einem anderweitigen Aufenthaltsrecht). Die obergerichtliche Rechtsprechung ist nach wie vor gespalten, wobei bezogen auf die aktuelle Rechtslage nach der Erklärung eines Vorbehalts durch die Bundesregierung (mit Wirkung zum 19.12.2011) bisher nur vorläufige Entscheidungen der Landessozialgerichte in Eilrechtssachen vorliegen. Aktuell haben sich der 5. Senat und der 31. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg der Auffassung der Vorinstanz angeschlossen, dass der Ausschluss als zulässig und wirksam anzusehen ist (vgl. insoweit die Beschlüsse vom 27.03.2013 - L 5 AS 273/13 B ER - und vom 25.03.2013 - L 31 AS 362/13 B ER, jeweils mit umfangreicher Rechtsprechungsübersicht; zur Gegenmeinung zuletzt Schleswig-Holsteinisches LSG im Beschluss vom 01.03.2013 (L 6 AS 29/13 B ER und L 6 AS 29/13 B ER PKH; veröffentlicht jeweils in juris).

5.2.1 Der Leistungsausschluss ist im vorliegenden Fall nach Überzeugung des Senats nicht durch Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeits-RL 2004/38 gerechtfertigt. Art. 24 Freizügigkeits-RL 2004/38 gewährleistet einerseits in Abs. 1 ein Recht auf Gleichbehandlung dahingehend, dass vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und dem abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats genießt. Andererseits ist gemäß Abs. 2 der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während eines längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren.

Bei den streitgegenständlichen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II handelt es sich aber nicht um Sozialhilfe im Sinne des Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeits-RL 2004/38, sondern um besondere beitragsunabhängige Leistungen gemäß Art. 3 Abs. 3 i.V.m. Art. 70 VO (EG) 883/2004, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen.

Die Frage, ob es sich bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II um Sozialhilfeleistungen handelt, kann nicht anhand des Fürsorgebegriffs des Europäischen Fürsorgeabkommens vom 11.12.1953 geklärt werden (so auch Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 01.03.2013, a.a.O.). Zwar handelt es sich bei den Leistungen zum Lebensunterhalt nach der Rechtsprechung des BSG um Fürsorgeleistungen im Sinne des EFA (Urteil vom 19.10.2010, a.a.O.). Allerdings ist der Begriff der Fürsorge wesentlich weiter gefasst als der der Sozialhilfe.

Ausweislich der Begriffsbestimmung in Art. 2 Abs. a Nr. i EFA meint "Fürsorge" im Sinne des Abkommens jede Fürsorge, die am Vertrag beteiligte Länder nach den in dem jeweiligen Teile ihres Gebietes geltenden Rechtsvorschriften gewähren und wonach Personen ohne ausreichende Mittel die Mittel für ihren Lebensbedarf sowie die Betreuung erhalten, die ihre Lage erfordert. Ausgenommen sind lediglich beitragsfreie Renten und Leistungen zugunsten der Kriegsopfer und der Besatzungsgeschädigten. Diese Voraussetzungen erfüllen neben der Sozialhilfe nach dem SGB XII auch die hier streitgegenständlichen Leistungen nach dem SGB II.

Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeits-RL 2004/38 ist nach der Rechtsprechung des EuGH als Ausnahme von dem in Art. 18 AEUV normierten Grundsatz der Gleichbehandlung, der in Art. 24 Abs. 1 Freizügigkeits-RL 2004/38 lediglich einen besonderen Ausdruck findet, eng und im Einklang mit den Vertragsbestimmungen, einschließlich der über die Unionsbürgerschaft und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer auszulegen (vgl. zuletzt Urteil des EuGH vom 21.02.2013 - C-46/12 - juris). Dies gilt ausdrücklich auch für den Begriff der Sozialhilfe. Der EuGH hat zwar in seinem Urteil vom 04.06.2009 (Vatsouras und Koupatantze - C-22/08 und C-23/08 - Slg. 2009, I-4585, Rdnr. 45f.) die Vereinbarkeit von Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeits-RL 2004/38 mit dem höherrangigen Gemeinschaftsrecht grundsätzlich bejaht, allerdings mit der Einschränkung, dass als "Sozialhilfeleistung" im Sinne von Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeits-RL 2004/38 nicht solche finanzielle Leistungen angesehen werden dürfen, die - unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem Recht - den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen. Ob die im deutschen Recht vorgesehenen Leistungen zur Grundsicherung nach dem SGB II Sozialhilfeleistungen im Sinne des Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeits-RL 2004/38 darstellen oder den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, hat der EuGH im Ergebnis zwar offen gelassen, weil dies zu prüfen Aufgabe der nationalen Behörden und gegebenenfalls der innerstaatlichen Gerichte sei (a.a.O., Rdnr. 41); er hat aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Tatsache, dass die Erwerbsfähigkeit eine Zugangsvoraussetzung für die Leistungen nach dem SGB II sei, ein Hinweis darauf sein könne, dass die Leistung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern solle (vgl. hierzu auch Spellbrink/G. Becker in Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 7, Rdnr. 54).

Auch das BSG hat die Frage, ob die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im Sinne der zitierten Rechtsprechung den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen oder Sozialhilfeleistungen darstellen, bisher nicht entschieden, wobei der 4. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 30.01.2013 inzwischen ausgeführt hat, dass die Einordnung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Sozialhilfeleistungen i.S. von Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeits-RL 2004/38 jedenfalls fraglich sei (a.a.O. Rdnr. 25).

Entscheidend ist nach Überzeugung des Senats, dass das Gemeinschaftsrecht selbst zwischen "Sozialhilfe" und "besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen" unterscheidet, wobei letztere Leistungen mit "Hybridcharakter" darstellen, die zwar insofern Merkmale der Sozialhilfe aufweisen, als sie beitragsunabhängig und bedarfsorientiert ein Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts garantieren. Zusätzlich gewähren sie aber einen Schutz gegen diejenigen Risiken, die von den in Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 genannten Zweigen der sozialen Sicherheit gedeckt sind. Dazu gehören auch Leistungen bei Arbeitslosigkeit.

Um eine solche Leistung handelt es sich bei den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II. Ziel der Leistungen ist nicht nur die Sicherung des Lebensunterhalts, sondern auch die Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit durch Eingliederung in Arbeit (§ 1 Abs. 3 Nr. 1 SGB II). Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können. Sie soll erwerbsfähige Leistungsberechtigte bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit unterstützen. Eine Trennung der Leistungen nach dem SGB II in Leistungen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (so LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.03.2013 - L 5 AS 273/13 B ER -, SG Nürnberg, Beschluss vom 04.07.2012 - S 10 AS 494/12 ER -) ist nicht möglich und würde der besonderen Zielsetzung der Leistungen nach dem SGB II nicht gerecht.

Schließlich hat der europäische Gesetzgeber den Begriff der beitragsunabhängigen Sonderleistungen in Kenntnis und neben den reinen Sozialhilfeleistungen eingeführt. Es handelt sich in jeder Hinsicht um ein aliud (Kador in: jurisPK-SGB I, 2. Aufl. 2011, Art. 70 VO (EG) 883/2004, Rdnr. 27; LSG Baden- Württemberg, Beschluss vom 01.10.2012 - L 7 AS 3836/12 B ER; Husmann in "Reaktionen in der Freizügigkeits-RL 2004/38 und dem deutschen Sozialleistungsrecht auf die Rechtsprechung des EuGH", NZS 12/2009,652; im Ergebnis offen Schreiber in Schreiber/Wunder/Dern, VO (EG) Nr. 883/2004, Art. 70, Rdnr. 1 und in Europäische Sozialrechtskoordinierung und Arbeitslosengeld II-Anspruch, NZS 17/2012, 647).

5.2.2. Der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist daher europarechtskonform auszulegen, wobei der Grundsatz der gemeinschaftskonformen Auslegung verlangt, "dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung ihrer Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der fraglichen Richtlinie zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, dass mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel übereinstimmt" (EuGH, Urteil vom 04.07.2006 - C 122/04 - Adeneler - Slg. 2006, I-06057, Rdnr. 111).

Auch das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV gebietet eine einschränkende europarechtskonforme Auslegung dahingehend, dass ein Mitgliedstaat Unionsbürgern Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, unter den gleichen Voraussetzungen zu gewähren hat wie Inländer. Dies ist der Fall, wenn der Unionsbürger in gleicher Weise wie der Inländer eine tatsächliche Verbindung mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates vorweisen kann (Kador in jurisPK-SGB I, 2. Aufl., Art. 70 VO (EG) 883/2004, Rdnr. 28). Es ist jedoch legitim, dass ein Mitgliedstaat eine solche Beihilfe erst gewährt, nachdem das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitsuchenden mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt wurde (Urteil vom 04.06.2009 - Vatsouras/Koupatantze - C-22/08, C-23/08 - juris Rdnr. 36 ff. unter Hinweis auf Urteile vom 15.09.2005 - C 258/04 - Ioannidis - Slg 2005, I-8275, Rdnr. 21, vom 23.03.2004 - C 138/02 - Collins - Slg 2004, I - 2703, und vom 11.07.2002 - C-224/98 - D Hoop - Slg. 2002, I-6191).

Danach ist der Leistungsausschluss im zu entscheidenden Fall wegen Verstoßes gegen Art. 4 der Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gewährleisteten Anspruchs auf Gleichbehandlung und aufgrund des in Art. 24 Abs. 1 Freizügigkeits-RL 2004/38 verankerten Gleichbehandlungsgrundsatzes auf den Kläger nicht anwendbar.

Die Verordnung (EG) 883/2004 ist mit ihrem Inkrafttreten am 01.05.2010 an die Stelle der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 über die Anwendung der sozialen System der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige getreten, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, getreten. Sie ist gemäß Art. 288 AEUV allgemein verbindlich und gilt in jedem Mitgliedstaat unmittelbar, ohne dass es eines innerstaatlichen Umsetzungsaktes bedarf. Ihre Regelungen gehen derjenigen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vor. Die VO (EG) 883/2004 bildet den Kern des europäischen koordinierenden Sozialrechts. Dieses beinhaltet verschiedene Grundprinzipien, denen das allgemeine Prinzip der Nichtdiskriminierung (bzw. Gleichbehandlung) zugrunde liegt (Art. 18 AEUV - ex Art.12 EGV -). Innerhalb der Verordnung ist dieses Prinzip in Art. 4 verankert. Danach haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie die Angehörigen dieses Mitgliedstaates. Der persönliche Anwendungsbereich ist gegenüber der VO (EWG) Nr. 1408/71 insofern erweitert, als er nicht mehr auf Arbeitnehmer, Selbständige, Studierende und deren Angehörige beschränkt ist (Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 bzw. Art. 1 Abs. 1 VO (EWG) Nr. 1408/71). Der sachliche Anwendungsbereich umfasst wie bereits unter Geltung der VO (EWG) Nr. 1408/71 neben den "klassischen" Zweigen der sozialen Sicherung (Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004) auch die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gemäß Art. 70 (Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004).

Der Kläger unterfällt als Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates (Italienische Republik) dem persönlichen Geltungsbereich der Verordnung (Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 883/2004). Auch der sachliche Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ist für ihn eröffnet. Für den Kläger galten bis zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland Ende 2003 und gelten mehrere der in Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 genannten Rechtsvorschriften. Er war damals aufgrund einer mehrjährigen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gegen Krankheit und Invalidität, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten versichert. Er hat Anwartschaften in den Leistungszweigen der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung erworben, die unmittelbar im Anschluss an den streitgegenständlichen Zeitraum zu der Bewilligung einer Rehabilitationsmaßnahme durch den Rentenversicherungsträger geführt haben.

Auf die Frage, ob auch eine abstrakte Unterworfenheit unter ein System der sozialen Sicherheit den persönlichen Anwendungsbereich und damit einen Rechtsanspruch auf beitragsunabhängige Sonderleistungen gemäß Art. 3 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 70 VO (EG) 883/2004 begründen könnte, kommt es in seinem Fall nicht an.

Der Senat teilt nicht die Auffassung der Vorinstanz, dass sich auch in den Fällen, in denen der persönliche Anwendungsbereich eröffnet ist, kein Anspruch auf Gewährung beitragsunabhängiger Geldleistungen ergebe, weil der Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 4 VO (EG) 883/2004 nur auf die in Art. 1 l) i.V.m. Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 genannten Rechtsvorschriften Bezug nimmt (wie hier Schreiber in Schreiber/ Wunder/Dern, VO (EG) Nr. 883/2004, Einleitung, Rdnr. 18).

Zwar gewährt auch Art. 4 VO (EG) 883/2004 nach seinem Wortlaut Gleichbehandlung nur aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates im Sinne der Verordnung, bezogen also auf Rechtsvorschriften im Sinne der Legaldefinition des Art. 1 l), was dafür sprechen könnte, den Anwendungsbereich von Art. 4 VO (EG) 883/2004 auch nur auf Leistungen der in Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 genannten Zweige der sozialen Sicherung zu begrenzen. Eine solche Auslegung wäre aber weder mit dem Wortlaut noch mit Sinn und Zweck der Regelung zu vereinbaren. Schließlich sprechen auch systematische und historische Überlegungen für eine Öffnung des Anwendungsbereichs des Art. 4 für die besonderen beitragsunabhängigen Leistungen gemäß Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 70 VO (EG) 883/2004.

Aus Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 selbst ergibt sich zunächst die (uneingeschränkte) Anwendbarkeit der gesamten Verordnung. Eine der Regelung in Art. 3 Abs. 5 VO (EG) 883/2004 vergleichbare Ausnahme für besondere beitragsunabhängige Geldleistungen enthält die Vorschrift nicht. Eine Auslegung dahingehend dass nur die Regelungen des Art. 70 VO (EG) 883/2004 anwendbar sein sollen, lässt sich dem Wortlaut nicht entnehmen. Auch Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 in Verbindung mit Art. 7 VO (EG) 883/2004 enthält ausdrücklich nur eine Regelung betreffend die Aufhebung des Exportverbots. Dass das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 auf Personen, die dem persönlichen Anwendungsbereich unterliegen, auch in Bezug auf die besonderen beitragsunabhängigen Leistungen anwendbar ist, kann daher bereits mit einem Umkehrschluss (vgl. Schreiber in NZS 17/2012, 647) aus Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 begründet werden (so auch Kador, a.a.O.). [...]