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VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 30.07.2013 - W 1 K 12.30170 - asyl.net: M21174
https://www.asyl.net/rsdb/M21174
Leitsatz:

Personen, die im Verdacht stehen, die afghanische Regierung oder die internationalen Streitkräfte zu unterstützen, sind in Gefahr, gezielt verfolgt oder getötet zu werden. Es gehört zu den Grundsätzen der Taliban, sowohl die von ihnen als Gegner angesehenen Personen selbst als auch deren Angehörige zum Ziel von Angriffen zu machen.

Schlagwörter: Afghanistan, Flüchtlingsanerkennung, ISAF, ausländische Streitkräfte, Dolmetscher, Taliban, Berufsgruppe, Sippenhaft, nichtstaatliche Verfolgung, Familienangehörige,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

1.1 Der Kläger war unbestritten für die ISAF als Dolmetscher in Afghanistan tätig. Das Gericht hat an der Richtigkeit seines diesbezüglichen Vortrags angesichts der vorgelegten Dokumente, aufgrund des Eindrucks in der mündlichen Verhandlung sowie aufgrund der Angaben des Bruders des Klägers in dessen Anhörung und mündlicher Verhandlung (Az. W 1 K 12.30186) keine Zweifel. Nach der in das Verfahren eingeführten Erkenntnislage besteht für den Kläger deshalb eine konkrete Verfolgungsgefahr. Nach dem Jahresbericht 2010 der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) vom März 2011 sind in Afghanistan Personen, die in Verdacht stehen, die afghanische Regierung oder die internationalen Streitkräfte zu unterstützen, in Gefahr, gezielt verfolgt und getötet zu werden. Es steht fest, dass es zu einem Grundsatz der Taliban gehört, sowohl die von ihnen in ihrem politischem Kampf um die Macht in Afghanistan bekämpften Personen selbst als auch deren Angehörige zum Ziel von Angriffen zu machen. Aus diesem Kampf werden in der Regel nur ältere Personen und Kinder ausgenommen. Dies folgt auch aus eigenen Verlautbarungen der Taliban. Nach dem Taliban-Verhaltenskodex "Laiha" von 2010 soll die Todesstrafe gegen Personen verhängt und vollstreckt werden, die "Kollaborateure der Ungläubigen und ihres Marionetten-Regimes sind"; z.B. Spione und Angehörige des Geheimdienstes (vgl. BayVGH v. 20.01.2012 - 13a B 11.30427 - juris Rn. 25 mit Hinweis auf UNAMA, Midyear Report 2011, Methodology, Fußnote 17 und 18 sowie Jahresbericht 2010, S. 5, Fußnote 15; vgl. auch Midyear Report 2013, S. 18 ff.; vgl. speziell zu Dolmetschern auch Jacob, ZAR 2013, 229 m.w.N.). Für Dolmetscher der ISAF gilt nichts anderes (vgl. z.B. VG Augsburg v. 06.10.2011 - Au 6 K 11.30209 - juris Rn. 24).

Das Gericht glaubt aufgrund der mündlichen Verhandlung das Vorbringen des Klägers hinsichtlich der konkreten Verfolgung durch die Taliban wegen seiner Dolmetschertätigkeit für die ISAF. Danach waren der Kläger und seine Angehörigen das Ziel von Verfolgungsmaßnahmen der Taliban bzw. ähnlich agierender krimineller Gruppierungen, die den Vater und einen Bruder des Klägers ermordet haben. Die diesbezüglichen Schilderungen des Klägers beim Bundesamt sowie in der mündlichen Verhandlung stimmen in wesentlichen Punkten überein, Unklarheiten konnte dieser auf konkrete Nachfrage in der mündlichen Verhandlung entkräften. Des Weiteren stimmen seine Angaben mit den Angaben seines jüngeren Bruders in dessen Anhörung und mündlicher Verhandlung überein. Der Vortrag hinsichtlich der Bedrohung des Klägers bzw. seiner Angehörigen, der darauf folgenden Entführung und Ermordung zunächst seines Vaters und dann der Entführung und Ermordung seines anderen Bruders ist plausibel und in sich schlüssig. Es stellt bekanntlich ein übliches Druckmittel der Taliban und anderer in Afghanistan agierender krimineller Gruppierungen dar, nahe Angehörige nicht nur zu entführen, sondern auch zu töten, um die eigentliche Zielperson - hier den Kläger - zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen - hier sich selbst zum Zwecke seiner "Bestrafung" den Verfolgern zu stellen. Der vom Kläger und seinem Bruder geschilderte Geschehensablauf ist in sich nachvollziehbar und schlüssig. Es erscheint plausibel, dass zunächst die Angehörigen des Klägers mit Drohbriefen dazu gebracht werden sollten, den Aufenthaltsort des Klägers preiszugeben bzw. diesen dazu zu bewegen, sich selbst zu stellen. Da diese Drohungen nicht gefruchtet haben, wurde folgerichtig durch die Entführung und Ermordung des Vaters und schließlich durch die Entführung und Ermordung des in Jalalabad lebenden Bruders der Druck auf den Kläger bzw. seine Angehörigen weiter erhöht. Das Gericht hält es durchaus für möglich, dass die Urheber der Entführungen über Möglichkeiten verfügten, den Aufenthaltsort des anderen Bruders in Jalalabad herauszufinden. Denn zum einen dürfte dies im Heimatdorf bekannt gewesen sein, da es sich – eventuell im Gegensatz zur Dolmetschertätigkeit des Klägers – den Umständen nach nicht um eine besonders vertrauliche Tatsache handelte. Zum anderen ist ein Kaufmann mit einem eigenen Ladengeschäft leichter aufzufinden und anzutreffen als ein mit seinem Arbeitgeber umherreisender Dolmetscher. Deshalb ist es auch plausibel, dass die Erpresser zwar in der Lage waren, den Bruder in Jalalabad aufzufinden, aber nicht den Kläger selbst. Auch die näheren Umstände der Entführungen haben der Kläger und sein Bruder in den wesentlichen Punkten bei ihren getrennten und zeitlich versetzten Anhörungen durch das Bundesamt sowie durch das erkennende Gericht übereinstimmend geschildert. Ob es sich nun um drei oder nur zwei Drohbriefe handelte und ob einer der Drohbriefe sich bei der Leiche des ermordeten Bruders befand, wie der andere Bruder des Klägers angegeben hat, erscheint vor diesem Hintergrund nicht entscheidend. Zwar war es dem Kläger und seinem jüngeren Bruder trotz der zeitweisen räumlichen Trennung auch nach der Ankunft im Bundesgebiet möglich, telefonisch miteinander Kontakt aufzunehmen. Sie hätten daher eventuell auch ihre Angaben absprechen können. Sowohl der Kläger im vorliegenden Verfahren als auch sein Bruder haben jedoch auf das Gericht einen glaubwürdigen Eindruck gemacht, insbesondere konnten sie die Vorgänge anschaulich, detailreich und im Wesentlichen ohne Widersprüche vortragen und auf Nachfragen plausible Antworten geben.

1.2 Aufgrund dieser Feststellungen sind die Bedrohungen des Klägers und seiner Angehörigen durch die Taliban sowie die Entführung und Ermordung seines Vaters und seines Bruders mit dem Zweck, seiner Person habhaft zu werden, um an ihm weitere Rechtsgutsverletzungen bis hin zur Ermordung vornehmen zu können, als Verfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 AufenthG anzusehen.

Es kann offen bleiben, ob afghanische Dolmetscher der ISAF-Mission eine soziale Gruppe i.S.d. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darstellen und aus diesem Grunde jeder Angehörige dieser Gruppe unter Umständen schon aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Gruppe als verfolgt anzusehen ist (vgl. dazu Jacob, ZAR 2013, 229 m.w.N.). Denn der Kläger ist jedenfalls Opfer individueller Verfolgung geworden.

Für die Annahme einer Verfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist nicht entscheidend, ob die dort genannten Merkmale in der Person des Klägers tatsächlich erfüllt werden. Vielmehr kommt es darauf an, dass ihm diese Merkmale durch seine Verfolger zugeschrieben werden und die Verfolgungsmaßnahmen erkennbar daran anknüpfen. Aufgrund der genannten Erkenntnismittel, insbesondere der im Taliban-Verhaltenskodex enthaltenen Aussagen, und dem klägerischen Vortrag steht fest, dass die Verfolger dem Kläger als afghanischem Mitarbeiter der ISAF-Mission das Merkmal der politischen Gegnerschaft zugeschrieben haben. Es erscheint keine andere Deutung des Geschehens möglich als diejenige, dass er "bestraft" werden sollte, weil er wegen seiner Dolmetschertätigkeit für die ISAF-Streitkräfte als politischer Gegner der Taliban bzw. anderer regierungsfeindlicher krimineller Gruppierungen angesehen wurde. Diese Einschätzung wird bestätigt durch die sowohl vom Kläger als auch seinem Bruder in ihren mündlichen Verhandlungen im Wesentlichen übereinstimmend geschilderte Reaktion ihres Vaters auf die bzw. einen der Drohbriefe. Denn der Vater des Klägers hat (sinngemäß) in der Moschee, d.h. öffentlich geäußert, er habe Drohbriefe erhalten, die seinen als Dolmetscher für die ausländischen Streitkräfte tätigen Sohn beträfen, und er betrachte es als eine Ehre, dass sein Sohn dem Vaterland diene. Schon diese Äußerung erscheint ausreichend, um anzunehmen, dass dem Kläger bzw. seinen Angehörigen eine politische Gegnerschaft zu den Zielen der Taliban bzw. anderer regierungsfeindlicher krimineller Gruppierungen zugeschrieben wurde.

Da der Kläger somit individuell verfolgt wurde, kommt ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL zugute. Nach dieser Vorschrift ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird (vgl. BVerwG v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – juris Rn. 19). [...]