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VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 17.01.2013 - M 11 K 12.30599 - asyl.net: M21240
https://www.asyl.net/rsdb/M21240
Leitsatz:

Einer vorverfolgt ausgereisten Angehörigen der Minderheit der Bajuni droht bei einer Rückkehr nach Somalia mit hoher Wahrscheinlichkeit individuelle Verfolgung.

Schlagwörter: Somalia, Bajuni, geschlechtsspezifische Verfolgung, Sprachgutachten, Sprachanalyse, interne Fluchtalternative, interner Schutz, al Shabab, al Shabaab, ethnische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Beklagte ist verpflichtet festzustellen, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen. Soweit der angefochtene Bescheid in Ziff. 2 dieser Verpflichtung entgegensteht, ist er aufzuheben (§ 113 Abs. 1, 5 VwGO). [...]

Die Klägerin stammt nach Überzeugung des Gerichts aus ... und ist vor ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsland als Angehörige der ethnischen Minderheit der Bajuni von Somali vergewaltigt worden und damit einer individuellen Verfolgung durch Somali ausgesetzt gewesen. Im Falle ihrer Rückkehr würde ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit eine weitere Verfolgung drohen.

Der Vortrag der Klägerin, die ihr Schicksal wie viele Asylbewerber nicht durch andere Beweismittel nachweisen konnte, ist gemäß dem Gebot der freien richterlichen Beweiswürdigung zu würdigen (§ 108 Abs. 1 VwGO). Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es muss dabei von dem behaupteten individuellen Schicksal und die vom Asylsuchenden dargelegte Verfolgung überzeugt sein. Eine bloße Glaubhaftmachung im Sinne von § 294 ZPO genügt nicht. Die freie richterliche Beweiswürdigung bindet das Gericht nicht an starre Regeln, sondern ermöglicht ihm, den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles gerecht zu werden. Das Gericht muss aber von der Wahrheit der klägerischen Behauptung eines individuellen Verfolgungsschicksals und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit die volle Überzeugung gewinnen. Das Gericht darf hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig auszuschließen sind (vgl. BVerwG vom 16.4.1985, BVerwGE 71, 180 ff.).

Das Sprachgutachten ist nach Auffassung des Gerichts nicht schlüssig, insoweit wird auf die Gründe des Beschlusses vom 9. Juli 2012 (Az.: M 11 S 12.30600) verwiesen.

Der Gutachter verweist auf die örtlichen Detailkenntnisse, die nur jemand haben kann, der die Verhältnisse aus eigener Anschauung kennt. Ihrer Sprache nach soll die Klägerin aus dem Gebiet der kenianischen Küste stammen. Dies hat die Klägerin schlüssig und nachvollziehbar in der mündlichen Verhandlung vom 17. Januar 2013 bzw. in ihrem Schriftsatz vom 16. Januar 2013 damit erklärt, dass ihre Mutter als kleines Kind mit ihren Eltern nach Kenia gereist ist und erst nach ihrer Heirat wieder nach ... zurückgekehrt ist. Wie der Sprachgutachter in seiner Stellungnahme zum Eilbeschluss selbst angab, findet die Sprachsozialisierung bis etwa zum 8. Lebensjahr im sozialen Umfeld statt. Demnach hat die Mutter also nicht ihr Bajuni zugunsten von Swahili aufgegeben, vielmehr hat sie als kleines Kind von vorneherein den kenianischen Dialekt flüssig erlernt und später an ihre Tochter weitergegeben. Die Klägerin hat nach Überzeugung des Gerichts daher die vom Sprachgutachter angegebenen örtlichen Detailkenntnisse nicht durch Coaching, sondern aus eigener Anschauung, weil sie dort gelebt hat, erlangt.

Somalia ist spätestens seit Beginn des Bürgerkriegs 1991 ohne effektive Staatsgewalt. Es kommt zu Kämpfen zwischen verschiedenen islamistischen und/oder nach Clan-Gesichtspunkten organisierten "Warlords" und ihren Milizen sowie zwischen Kräften, die der amtierenden Übergangsregierung (Transitional Federal Government, TFG) gegenüber loyal sind, und solchen, die sie bekämpfen. Über weite Teile Süd- und Zentralsomalias herrschen radikal-islamistische Gruppen (al-Shabaab u.a.) vor. Im somalischen Bürgerkrieg sind nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes von 2007 bis 2010 etwa 20.000 Zivilisten zu Tode gekommen, davon der größte Teil in Süd- und Zentralsomalia. Im ersten Halbjahr 2011 sind allein in Mogadischu 1.400 Zivilisten getötet worden; nach Schätzungen soll sich die Zahl bis zum Jahresende 2011 verdoppelt haben. Außerdem hat es mindestens 8.400 Verletzte gegeben. In Gebieten, die von islamistischen Gruppen beherrscht werden, werden regelmäßig sehr harte Strafen verhängt. Das Recht auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit wird genauso massenhaft und regelmäßig verletzt wie das Recht auf Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und auf Freiheit der Religionsausübung. Extralegale Tötungen sowie willkürliche Verhaftungen durch Milizen und Banden sind unter den chaotischen und weitgehend rechtsfreien Bedingungen weit verbreitet (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 23.3.2012).

Nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (vgl. "Update: Aktuelle Entwicklungen Januar 2009 bis Juli 2010" vom 4. August 2010) werden in Süd- und Zentralsomalia Mitglieder des TFG und ihre Angehörigen regelmäßig von al Shabaab, Hizbul Islam und anderen Oppositionsgruppen gezielt angegriffen. Darüber hinaus würden auch Zivilisten, welche Beziehungen mit dem TFG unterhalten würden oder mit den äthiopischen Truppen bis zu deren Abzug unterhalten hätten, von den islamistischen Gruppierungen gezielt angegangen. In Süd- und Zentralsomalia würden Menschen, welche von den durch die islamistischen Gruppierungen auferlegten religiösen Normen abweichen würden, unter einem objektiv beträchtlichen Risiko an Leib und Leben stehen. Angehörige von Minderheitsclans seien in diesem Gebiet einem erhöhten Risiko ausgesetzt und würden kontinuierlich Opfer von Diebstahl, Vergewaltigungen, Entführungen oder Mord, ohne dass diese Verbrechen jemals gesühnt würden. Verbrechen gegen Minderheitsclans könnten deshalb unter absoluter Straflosigkeit verübt werden, was deren Angehörigen auch einem täglichen Risiko an Leib und Leben aussetzen würde. Die Zwangsrekrutierung von jungen Männern und sogar Kindern sei in den letzten Jahren von allen Konfliktparteien betrieben worden.

Nach Einschätzung des UNHCR (vgl. zusammenfassende Übersetzung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs somalischer Asylsuchender vom Juli 2010) ist innerhalb von Süd- und Zentralsomalia keine inländische Fluchtalternative vorhanden. Ob eine solche Fluchtalternative in Puntland oder Somaliland existiere, hänge von den Umständen des Einzelfalls ab. Weder Puntland noch Somaliland würden ein Recht auf Rückkehr oder Aufenthalt in ihrem Gebiet für Personen akzeptieren, die nicht beweisen könnten, dass sie aus diesem Gebiet stammen würden, was überwiegend durch Zugehörigkeit zu einem Clan mit Ursprung in diesen Gebieten festgestellt werde. Personen, welche zur TFG gehörten oder in irgendeiner Weise mit der TFG und/oder den äthiopischen Streitkräften (ENDF) in Verbindung gebracht würden oder die der TFG, den ENDF oder den Peacekeeping-Kräften der Mission der Afrikanischen Union in Somalia (AMISOM) Unterstützung gewährt hätten, seien in Gefahr, auf der Basis ihrer (vermeintlichen) politischen Gesinnung verfolgt zu werden, mit Ethnie/Rasse und Religion als möglichen zusätzlichen Verfolgungsgründen. Es werde berichtet, dass viele Somalier in Süd- und Zentralsomalia in der ständigen Angst lebten, als Personen wahrgenommen zu werden, welche die Dekrete von Al-Shabaab nicht einhalten würden. Al-Shabaab habe Scharia-Gerichtshöfe eingerichtet und Dekrete erlassen, um soziales Verhalten zu unterbinden, welches ihrer Ansicht nach den islamischen Gesetzen zuwiderlaufe. Scharia-Gerichtsverfahren seien generell hart und inkonsistent, z.B. würden Amputationen als Bestrafung für Diebstahl angeordnet. Minderheiten-Clans in Süd- und Zentralsomalia seien gefährdet, da sie keine militärischen Kapazitäten zu ihrer Verteidigung hätten und generell nicht vom Schutz durch Warlords oder durch Milizen von größeren Clans profitieren würden. Sie seien daher einem erhöhten Risiko ausgesetzt, Opfer von Vergewaltigungen, Übergriffen und Entführungen zu werden. Zudem bestehe die Gefahr, dass ihnen ihr Grundbesitz oder persönliches bewegliches Eigentum in der rechtlosen Atmosphäre Süd- und Zentralsomalias enteignet werde. Binnenvertriebene, welche Angehörige von Minderheiten-Clans seien, würden täglich mit Misshandlungen wie z.B. Tötungen, physischen Angriffen, Diebstahl und Vergewaltigung konfrontiert, ohne rechtlich dagegen vorgehen zu können - sei es durch die formale Justiz oder das gewohnheitsrechtliche Justizsystem - was dazu führe, dass sie praktisch ungestraft misshandelt werden könnten. UNHCR ist deshalb der Ansicht, dass Angehörige von Minderheitenclans in Süd- und Zentralsomalia (insbesondere die kastenlosen Clans) aufgrund ihrer Ethnie/Rasse gefährdet sind. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe schätzt die Lage ähnlich ein (vgl. "Update: Aktuelle Entwicklungen Januar 2009 bis Juli 2010" vom 4. August 2010, S. 16 ff.). Das Auswärtige Amt gab bereits am 19. Juni 2002 zu einer Anfrage des VG Oldenburg eine Stellungnahme ab, wonach die Bajuni ein nichtbewaffneter Clan sind und daher bei der im Süden Somalias herrschenden Anarchie und politisch instabilen Lage prinzipiell einer höheren Gefährdung ausgesetzt sind. Eine gefahrlose Rückkehrmöglichkeit sei nicht gegeben.

Nach den dem Gericht vorliegenden Informationen zur aktuellen Lage in Somalia sind im Einzelfall alle für eine Verfolgung aufgrund asylrelevanter persönlicher Merkmale relevanten Umstände unter Berücksichtigung der allgemeinen Situation der Clans und Minderheiten zu würdigen (vgl. ACCORD, Clans in Somalia, Bericht zum Vortrag von Dr. Joakim Gundel beim COI-Workshop in Wien am 15.5.2009, Fassung vom Dezember 2009, dort Ziffer 4, Seite 16). Die Clan-Zugehörigkeit stellt ein Kriterium dar, das für die Gefährdungsprognose von Bedeutung ist.

Vor diesem allgemeinen Hintergrund ist das Gericht davon überzeugt, dass die von der Klägerin geschilderten Überfälle der von der Küste stammenden Somali auf die Leute auf den Bajuni-Inseln auch tatsächlich stattfinden, da sich die Bajuni und die Somali aufgrund ihrer ethnischen Unterschiede nicht verstehen. Insoweit ist die Aussage, dass die Somali sagen, dass die Bajunis keine Somali sind, nachvollziehbar. Es ist daher auch glaubhaft, dass ihre Eltern bei einem Raubüberfall getötet und sie selbst bei Überfällen mehrfach vergewaltigt wurde. Dies geschah, weil sie der ethnischen Minderheit der Bajuni angehört. Wenn sie wieder in ihre Heimat zurückkehrt, muss sie damit rechnen, dass sie wieder verfolgt wird.

Die Klägerin gab in ihrer Befragung an, dass sie den Schleusern kein Geld gegeben hat, dass diese aber angedeutet haben, dass sie, wenn sie in Deutschland ist, wiederkommen und sie dann bezahlen soll. Es sei dann aber niemand mehr gekommen. Zwar ist dies sehr ungewöhnlich, aber möglich. Im Hinblick auf die Vorgeschichte, nämlich dass die Klägerin mit einem Nachbarn geschlafen hat, um auf Mdoa zu überleben, dürfte aber wohl der Vortrag der Bevollmächtigten in ihrem Schriftsatz vom 16. Januar 2013 zutreffen, dass die Klägerin im Hinblick auf die Befundberichte von Refugio ihre Flucht durch Geschlechtsverkehr mit den Schleusern "bezahlt" hat. Bei der Schilderung der Überfälle und ihrer Überlebensstrategie, gegen Versorgung mit dem Nachbarn zu schlafen, war die Klägerin sehr betroffen und hat viel geweint. Im Hinblick auf die Befundberichte von Refugio hat das Gericht daher auf die weitere Befragung, wie sie die Flucht finanziert haben könnte, verzichtet. Dass diese Frage ungeklärt bleibt, ändert aber nichts an der Überzeugung des Gerichts, dass die Klägerin im Hinblick auf ihre Herkunft und ihre Verfolgungsgeschichte die Wahrheit gesagt hat.

Eine inländische Fluchtalternative für die aus Mdoa stammende und stets dort lebende Klägerin besteht nicht. Insbesondere ist davon auszugehen, dass es ihr schwierig oder gar unmöglich sein würde, relativ sichere Zufluchtsgebiete in nördlichen Landesteilen zu erreichen und dort Aufnahme zu finden (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 23.3.2012, dort unter Ziff. II. 3.). [...]