VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Beschluss vom 06.11.2013 - 2 B 848/13 - asyl.net: M21264
https://www.asyl.net/rsdb/M21264
Leitsatz:

Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung im Verfahren nach § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. erfolgt nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, sondern nach einer Äbwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses und des privaten Aussetzungsinteresses des Betroffenen. Eine Abschiebungsanordnung darf erst ergehen, wenn feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Zuvor hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote und inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse zu berücksichtigen.

Schlagwörter: Überstellung, Zurückschiebung, zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Schwerbehinderung, schwerbehindert, Reisefähigkeit, nicht reisefähig, Posttraumatische Belastungsstörung, Dublin II-VO, Dublinverfahren, Familieneinheit, Familienangehörige,
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 1 S. 1, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 1 Bst. d, EMRK Art. 8, GG Art. 6,
Auszüge:

[...]

Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG hängt unter anderem davon ab, ob die Überstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden Gründen rechtlich oder tatsächlich möglich ist. Eine Abschiebungsanordnung darf erst ergehen, sobald feststeht, dass die Abschiebung bzw. Überstellung durchgeführt werden kann. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 13. Senat - hat hierzu in seinem Beschluss vom 2. Mai 2012 - 13 MC 22/12 -, InfAuslR 2012 S. 298 ff., zit. nach juris Rn. 27, Folgendes ausgeführt:

"Bei Fällen, in denen der Asylbewerber in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, hat das Bundesamt vor Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG auch zu prüfen, ob Abschiebungshindernisse bzw. -verbote oder Duldungsgründe vorliegen. Anders als bei der Entscheidung über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG im Zusammenhang mit dem Erlass einer Abschiebungsandrohung (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383, und vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322) ist es nicht auf die Prüfung von sogenannten "zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen" beschränkt. § 34a AsylVfG bestimmt ausdrücklich, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann". Die Abschiebungsanordnung darf als Festsetzung eines Zwangsmittels erst dann ergehen, wenn alle Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung nach § 26a oder § 27a AsylVfG i.V.m. § 34a AsylVfG erfüllt sind. Das bedeutet, dass das Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsanordnung gegebenenfalls sowohl "zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse" als auch der Abschiebung entgegenstehende "inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse" zu berücksichtigen hat. Es ist in diesem Zusammenhang unter anderem verpflichtet zu prüfen, ob die Abschiebung in den Dritt- bzw. Mitgliedstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden und damit vom System der normativen Vergewisserung nicht erfassten Gründen - wenn auch nur vorübergehend - rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist (vgl. OVG NRW, Beschl, v. 30. August 2011 - 18 B 1060/11-, Juris; VGH BW, Beschl. v. 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 -, InfAuslR 2011, 310; Hamb. OVG, Beschl. v. 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, Juris; OVG MV, Beschl. v. 29. November 2004 - 2 M 299/04 -; Funke-Kaiser in GK AsylVfG, a.a.O., § 34a, Rdnr. 15; Hailbronner, AuslR, § 34a AsylVfG, Rdnm. 15 f, 43 ff., Loseblatt, Stand August 2006; jew. m.w.N.)."

Dieser Rechtsprechung schließt sich die erkennende Kammer an.

Ausweislich des von den Antragstellern vorgelegten Arztbriefes der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, vom 23. August 2013 sind bei dem 1-jährigen Antragsteller zu 5.) schwere Fehlbildungen im bzw. am Kopf (sog. Wasserkopf und Chiari Malformation Typ II) und im Bereich des Rückenmarks bzw. der Wirbelsäule diagnostiziert worden. Während eines ca. 3-monatigen Krankenhausaufenthaltes musste der Antragsteller mehrere Operationen u.a. am Kopf über sich ergehen lassen. Zum Zeitpunkt seiner Entlassung aus dem Krankenhaus am 23. August wurden verschiedene Nachsorgebehandlungen und Medikationen ärztlich verordnet. Der zuständige Sachbearbeiter des Bundesamtes - Außenstelle Friedland - hat in den Akten vermerkt, der Antragsteller zu 5.). sei schwerbehindert (vgl. Bl. 69 Beiakte A). Bei dieser Sachlage ist die Auffassung der Antragsteller, der Antragsteller zu 5.) sei derzeit nicht reisefähig, gegenwärtig nicht von der Hand zu weisen, sondern bedarf weiterer Sachverhaltsaufklärung. Diese muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Zwar hat sich die zuständige Ausländerbehörde - Landkreis Osterode am Harz - gegenüber dem Berichterstatter telefonisch bereiterklärt, zeitnah eine amtsärztliche Untersuchung des Antragstellers zu 5.) und seines Vaters, des Antragstellers zu 1.), der nach eigenen Angaben unter einer PTBS und einer depressiven Episode leidet, zur Aufklärung der Frage der Reisefähigkeit und der weiteren Behandlungsbedürftigkeit der geltend gemachten Erkrankungen bei deren Rückkehr nach Polen herbeizuführen. Sollten sich hierbei Einschränkungen der Reisefähigkeit (z.B. medizinisch begleitete Rückführung) oder eine fortdauernde Behandlungsbedürftigkeit der Antragsteller zu 1.) und 5.) ergeben, hat das Bundesamt hieran anknüpfend darzulegen, dass die zuständigen polnischen Stellen ggf. eine medizinisch begleitete Überstellung gewährleisten und/oder eine ggf. notwendige medizinische Weiterbehandlung den Antragstellern bei ihrer Rückkehr zukommen lassen werden. Dies gilt insbesondere in Ansehung des Umstandes, dass das Office for Foreigners of the Republic Poland, Department for Refugee Procedures, gegenüber dem Bundesamt mit Schreiben vom 26. September 2013 seine Zuständigkeit für die Antragsteller gem. Art. 16 Abs. 1 d) der Verordnung (EG) 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und des Verfahrens zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. EU L 50 vom 25. Februar 2003, S. 1) - sog. Dublin-II-Verordnung -, geändert durch VO (EG) 1103/2008 vom 22. Oktober 2008 (ABl. EU L 304 vom 14. November 2008, S. 80), erklärt hat, es demzufolge davon ausgeht, dass die Antragsteller ihren in Polen gestellten (ersten) Asylantrag zurückgenommen haben bzw. insoweit eine Rücknahmefiktion zu deren Lasten greift. Das Bundesamt kann sich diesbezüglich nicht auf allgemeine Auskünfte seiner Liaisonbeamtin in Warschau zur medizinischen Versorgung von Asylbewerbern beschränken und darauf verweisen, die polnischen Stellen würden ggf. eigene medizinischen Feststellungen zum weiteren Behandlungsbedarf der Antragsteller treffen, sodass eine dahingehende Zusage nicht erlangt werden könne.

Da die Antragsteller zu 1.) und 2.) die Eltern und die Antragsteller zu 3.) und 4.) die minderjährigen Geschwister des erkrankten Antragstellers zu 5.) sind, nehmen auch diese Antragsteller unter Berücksichtigung des Schutzes der Familieneinheit durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK - der Grundsatz der Familieneinheit ist zudem ein tragendes Prinzip der Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin-II-Verordnung, vgl. Art. 6 bis 8, 14 und 15 Abs. 1 und 2 EGV 343/2003, der ggf. eine Selbsteintrittspflicht der Antragsgegnerin zur Folge haben kann (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 4. Juli 2012 - 2 LB 163/10 -, InfAuslR 2012 S. 383 ff., zit. nach juris Rn. 42) - an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage teil. Die Trennung des ggf. nicht reisefähigen Antragstellers zu 5.) von seiner Familie ist unzumutbar; die Überstellung der übrigen Antragsteller nach Polen somit rechtlich unmöglich i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (vgl. VG München, Beschluss vom 26. März 2013 - M 1 S 13.30170 -, zit. nach juris Rn. 17; VG Aachen, Beschluss vom 15. April 2013 - 2 L 145/13.A -, zit. nach juris Rn. 17). [...]