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VG Bayreuth

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Zitieren als:
VG Bayreuth, Urteil vom 29.07.2013 - B 3 K 12.30117 - asyl.net: M21300
https://www.asyl.net/rsdb/M21300
Leitsatz:

Die Situation der Sufi im Iran erfüllt derzeit nicht die Anforderungen an eine Gruppenverfolgung.

Schlagwörter: Iran, Sufi, Sufi-Orden, Derwisch,Gonabadi, Sufis, Sufismus, Gruppenverfolgung, religiöse Verfolgung, Religionsgemeinschaft,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Es kann dahinstehen, ob der Kläger seinen Beitritt zu einem Sufi-Orden glaubhaft gemacht hat; es besteht jedenfalls unter Gesichtspunkt einer unmittelbar oder mittelbar staatlichen oder nichtstaatlichen Gruppenverfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Sufi-Orden kein Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung. Eine diesbezügliche Verfolgung drohte weder im Zeitpunkt der Ausreise noch droht sie derzeit weder unmittelbar noch war oder ist sie beachtlich wahrscheinlich.

Die Annahme einer Gruppenverfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG setzt voraus, dass eine die Regelvermutung eigener Verfolgungsbetroffenheit rechtfertigende Verfolgungsdichte anzunehmen ist. Hierfür ist eine so große Anzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl von einzelnen Übergriffen handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder abzielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr der eigenen Betroffenheit entsteht (BVerwG vom 05.07.1994, Az. 9 C 158.94; BVerwG vom 18.07.2006, Az. 1 C 15.05, juris RdNr. 20). Auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG ist an diesen für die Gruppenverfolgung entwickelten Maßstäben festzuhalten (BVerwG vom 21.04.2009, Az. 10 C 11.08, juris RdNr. 16), wobei die für eine unmittelbare und mittelbare staatliche Verfolgung entwickelten Grundsätze auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar sind (BVerwG vom 18.07.2006, Az. 1 C 15.05, juris, RdNr. 21).

Diese Anforderungen an eine Gruppenverfolgung erfüllt die Lage der Sufi im Iran derzeit nicht.

Den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Auskünften und Medienberichten ist zwar zu entnehmen, dass in den letzten vier Jahren Sufi (speziell Gonabadi-Derwische des Nematollahi-Ordens) im Iran verstärkter Unterdrückung ausgesetzt waren und es eine besorgniserregende Tendenz gebe, die Glaubensrichtung der islamischen Sufi-Gemeinschaft zu kriminalisieren (Amnesty-International, Auskunft an VG Hannover vom 21.08.2009). So sind im September 2011 im Kavar und Teheran rund 100 Gonabadi-Derwische (nach dem Lagebericht vom 08.10.2012 waren es 60 Derwische) festgenommen worden. Mindestens 11 Personen befanden sich Ende 2011 noch in Gewahrsam; die meisten hatten keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand oder zu ihren Familien (Amnesty Report Iran 2012). Das Auswärtige Amt teilt in seinem Lagebericht vom 08.10.2012 mit, dass am 18.02.2009 in Isfahan mindestens 27 Angehörige des Nematollahi-Ordens verhaftet und ihr Heiligtum zerstört wurde. Einige Derwische wurden verhaftet, allerdings nach ein paar Stunden wieder freigelassen (vgl. Brocks, Gutachten an des VG Hannover vom 27.05.2009). Mehrere hundert Sufi wurden wenige Tage darauf in Teheran verhaftet, als sie vor dem Parlament gegen diese Zerstörung protestieren wollten. Nachdem der Nematollahi-Orden im Präsidentschaftswahlkampf 2009 den unterlegenen Kandidaten Mehdi Karrubi unterstützt hatte, sahen sich Angehörige des Ordens nach der Wahl stärkeren Repressionen ausgesetzt (Lagebericht vom 08.10.2012).

Im März 2012 wurden erneut zwei Derwische des Gonabadi-Ordens verhaftet (VG Ansbach, Urteil vom 21.03.2013, Az. AN 3 K 12.30342). Sie sind derzeit in Evin inhaftiert. Ebenso wurden ihre Verteidiger festgenommen, die man zuvor ins Büro des örtlichen Gouverneurs zu Verhandlungen über die Freilassungen gebeten hatte. In diesem Zusammenhang ist ein Derwisch angeschossen worden, der später seinen Verletzungen erlag. Die Vorwürfe lauteten auf Gefährdung der nationalen Sicherheit und Beleidigung des Revolutionsführers. Iranische Medien veröffentlichen gelegentlich Artikel, die gegen Sufi gerichtet sind und diese als Teufelsanbeter stigmatisieren. Mehrere Menschenrechtsaktivisten berichteten, dass die Sufi auf Grund ihres Glaubens von Universitäten exmatrikuliert wurden. Am 10. und 11. November 2007 räumten die Bassidj Sufi-Gotteshäuser in der südwestiranischen Stadt Borudscherd. Dabei wurden 80 Personen verletzt. Bei der Räumung kamen Molotowcocktails und Bulldozer zum Einsatz (VG Ansbach a.a.O.). Die weltoffene Auslegung des Korans durch die Derwische, verbunden mit Tanz und Musik, lasse die Bewegung unter jungen Leuten in Iran zunehmend Anhänger finden (VG Ansbach a.a.O.). Brocks (a.a.O.) geht davon aus, dass Sufi sich im Allgemeinen ungestört entfalten konnten, solange sie die Geltung des religiösen Gesetzes und den staatlichen Alleinherrschaftsanspruch der Mullahs nicht in Frage stellten. Mit letzterem hätten die Sufi keine Probleme gehabt, da die Ebene der politischen Parteinahme, des Parteienhaders und des gesellschaftlich-politischen Kampfes um inhaltlich-ideologische Positionen nicht Sache der Sufi sei, sondern diese sich in ihrer eigenen und traditionellen Weise um ihre Riten, Gebräuche und spirituellen Zielsetzungen kümmerten. Die Sufi mischten sich nach seiner Darstellung deshalb nicht in die politischen Geschäfte der staatstragenden Mullahs, weit sie diese Geschäfte für unterhalb und außerhalb ihrer Interessen hielten; freilich bezeuge diese Desinteressiertheit an der staatlich-obrigkeitlichen schiitischen Geistlichkeit auch stets eine immanente Opposition, weil die Negierung des absoluten Machtanspruches der Mullahs in dieser Haltung inbegriffen sei.

Geht man mit Wikipedia (http//de.wikipedia.org/wiki/Nimatullahiyya) - andere Angaben waren nicht zu ermitteln - von einer Zahl der Anhänger nur des Ordens der Nematollahi von 50.000 bis 350.000 Personen aus, so erreicht die bekannte Anzahl der Übergriffe nicht die vom Bundesverwaltungsgericht erforderliche Verfolgungsdichte. Nach den seit 2009 bekannten Übergriffen gegen Sufi, unabhängig von ihrer Ordenszugehörigkeit, kann man hochgerechnet zugunsten des Klägers von etwa 500 - 700 Eingriffshandlungen ausgehen. Daraus errechnet sich eine Anschlagsdichte bei einer zugunsten des Klägers nur angenommenen Mindest-Gruppengröße von 50.000 Menschen von höchstens 1,4:100. Diese Anschlagsdichte lässt eine Regelvermutung, dass jedes Mitglied eines Sufi-Ordens verfolgt wird, nicht zu. Das Bundesverwaltungsgericht hat eine Verfolgungsdichte von etwa einem Drittel als ausreichend angesehen, um eine Regelvermutung für eine eigene Verfolgung anzunehmen Eine solche muss jedoch auf entsprechender Tatsachengrundlage konkret belegt werden (BVerwG vom 30. April 1996, Az. 9 C 170.95). Selbst wenn eine größere Dunkelziffer von Übergriffen unterstellt wird, würde diese erforderliche Größenordnung nicht erreicht, zumal die Anzahl von bekennenden Sufi insgesamt im Iran viel größer sein dürfte.

Insofern stellt das Auswärtige Amt nachvollziehbar fest, dass Sufi vereinzelt durch gewaltsame Übergriffe oder Verhaftungen an ihrer Religionsausübung gehindert werden (Lagebericht a.a.O.) bzw. dass Sufi ihre Lehren und Riten unbehelligt praktizieren können (Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 22.08.2012). [...]