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BGH

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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 30.10.2013 - V ZB 69/13 (= ASYLMAGAZIN 4/2014, S. 138) - asyl.net: M21351
https://www.asyl.net/rsdb/M21351
Leitsatz:

Ergeben sich nach Anordnung der Haft für das Gericht hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzungen der Freiheitsentziehung nicht (mehr) vorliegen, hat es im Hinblick auf § 426 FamFG gem. § 26 FamFG den Sachverhalt aufzuklären. Unterlässt es das Gericht, in die gebotene Sachaufklärung einzutreten, verletzt die weitere Freiheitsentziehung den Betroffenen in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.

Schlagwörter: Freiheitsentziehung, Abschiebungshaft, Sicherungshaft, Haftfähigkeit, Sachaufklärungspflicht, Inhaftierung, Krankheit, haftunfähig, Haftunfähigkeit,
Normen: FamFG § 426 Abs. 1 S. 1, FamFG § 26, GG Art. 2 Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

2. Der Fortbestand der angeordneten Freiheitsentziehungsmaßnahme ist aber noch am selben Tag rechtswidrig geworden, da das Amtsgericht den sich im unmittelbaren Anschluss an die Haftanordnung ergebenden Hinweisen für eine mögliche Haftunfähigkeit der Betroffenen nicht nachgegangen ist.

Nach § 426 Abs. 1 Satz 1 FamFG ist der Beschluss, durch den eine Freiheitsentziehung angeordnet wird, von Amts wegen aufzuheben, wenn der Grund für die Freiheitsentziehung weggefallen ist. Ergeben sich nach Anordnung der Haft für das Gericht hinreichende Anhaltspunkte, dass die Voraussetzungen der Freiheitsentziehung möglicherweise nicht mehr vorliegen, hat es im Hinblick auf § 426 FamFG gemäß § 26 FamFG den Sachverhalt aufzuklären (vgl. Keidel/Budde, FamFG, 17. Aufl., § 426 Rn. 8). Unterlässt es das Gericht, in die gebotene Sachaufklärung einzutreten, verletzt die weitere Freiheitsentziehung den Betroffenen in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Die Aufklärungspflicht erstreckt sich auch auf die Frage der Haftfähigkeit des Betroffenen, wenn hinreichend konkrete Anhaltspunkte für eine mögliche Haftunfähigkeit vorliegen. Denn die Inhaftierung oder Aufrechterhaltung der Haft eines erkennbar haftunfähigen Betroffenen ist rechtswidrig (Senat, Beschluss vom 12. Mai 2011 - V ZB 299/10, juris Rn. 8).

Vor diesem Hintergrund hätte das Amtsgericht prüfen müssen, ob die Haftanordnung gemäß § 426 Abs. 1 Satz 1 FamFG wieder aufzuheben ist. Denn in direktem zeitlichem Anschluss an deren Erlass ergaben sich hier hinreichend konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Betroffene möglicherweise nicht haftfähig ist und damit die Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung nicht vorlagen. Ihr Ehemann, der unmittelbar nach Erlass der Haftanordnung in einem Parallelverfahren von demselben Haftrichter angehört wurde, gab als Grund für die gemeinsame Einreise an, dass seine Frau sterbenskrank sei und ihr in Frankreich lebender Sohn sie abgeholt habe, um sie in Europa operieren zu lassen. Dieser Hinweis hätte das Amtsgericht veranlassen müssen, der Frage der Haftfähigkeit der Betroffenen nachzugehen.

3. Aufgrund dieser Verletzung der Amtsermittlungspflicht ist der Beschluss vom 8. März 2013 über die Verlängerung der Abschiebungshaft ebenfalls rechtswidrig. Hier hätte der Richter zudem weiteren Anlass für eine Aufklärung der Haftfähigkeit der Betroffenen gehabt, da er unmittelbar vor der Anordnung der Haftverlängerung von dem Ehemann der Betroffenen - im Rahmen des Parallelverfahrens - erneut auf eine bestehende Krebserkrankung seiner Ehefrau hingewiesen worden war. [...]