VG Saarland

Merkliste
Zitieren als:
VG Saarland, Beschluss vom 13.09.2013 - 10 L 1195/13 - asyl.net: M21532
https://www.asyl.net/rsdb/M21532
Leitsatz:

1. Ein inlandbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Form einer Reiseunfähigkeit ist vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes von Leben und körperlicher Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) nur dann anzunehmen, wenn die Gesundheit eines abzuschiebenden Ausländers so angegriffen ist, dass das ernsthafte Risiko besteht, dass sein Gesundheitszustand unmittelbar durch den Abschiebungsvorgang wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert wird, sofern nicht einzelfallbezogen effektive Schutzmaßnahmen durch die Ausländerbehörde ergriffen werden.

2. Auch eine akute und ernsthafte Suizidgefahr steht einer Abschiebung grundsätzlich dann nicht entgegen und begründet keine Reiseunfähigkeit, wenn durch die Ausländerbehörde die für die Abschiebung insoweit konkret erforderlichen Schutzmaßnahmen getroffen werden.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, rechtliche Unmöglichkeit, Abschiebung, Gesundheitszustand, Suizidgefahr, Reisefähigkeit, Reiseunfähigkeit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Eine Reiseunfähigkeit als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung i.S.v. § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes von Leben und körperlicher Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) nur dann anzunehmen, wenn die Gesundheit eines abzuschiebenden Ausländers so angegriffen ist, dass das ernsthafte Risiko besteht, dass sein Gesundheitszustand unmittelbar durch den Abschiebungsvorgang wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert wird, sofern nicht einzelfallbezogen effektive Schutzmaßnahmen durch die Ausländerbehörde ergriffen werden (vgl. dazu OVG des Saarlandes, Beschlüsse vom 10.05.2013, 2 A 205/12, vom 13.02.2012, 2 B 415/11, vom 29.03.2012, 2 B 39/12, und vom 14.09.2010, 2 B 210/10, m.w.N.).

Davon, dass der Antragsteller zu 1) reiseunfähig in diesem Sinne ist und damit eine vorläufige Untersagung seiner Abschiebung beanspruchen kann, ist nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand indes nicht auszugehen.

Zwar belegt der von den Antragstellern vorgelegte Zwischenbericht der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des St. N. Hospitals W. vom 08.11.2012, in der sich der Antragsteller zu 1) wegen massiver dissoziativer Phänomene mit selbstverletzendem, fremdagressivem und suizidalem Verhalten seit April 2010 in vollstationärer, teilstationärer sowie weiterführender ambulanter psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung befindet, dass dieser unter einer schweren, als posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1) mit zeitweisem massiv dissoziativem, aber auch zeitweise psychotischem Erleben (ICD-10: F 44.7; F 23.0) diagnostizierten psychischen Erkrankung leidet. Auch ist der Antragsteller zu 1), wie dem Zwischenbericht weiter zu entnehmen ist, aus psychiatrischer Sicht zum jetzigen Zeitpunkt und auf absehbare Zeit nicht reisefähig bezüglich seines Heimatlandes Türkei. Dazu wird dort dargelegt, zusätzliche äußere Belastungen führten bei dem Antragsteller zu 1) zu erheblichen vital gefährdenden Dekompensationen und eine Zunahme der beschriebenen Symptomatik sei unter höherer äußerer Anspannung dringend zu erwarten. Demgegenüber liegt nach dem Inhalt der von dem Antragsgegner im Rahmen der Überprüfung der Reisefähigkeit des Antragstellers zu 1) eingeholten Stellungnahmen des Amtsarztes beim Gesundheitsamt des Landkreises Saarlouis vom 07.06. und 15.07.2013 keine generelle Reiseunfähigkeit im Fall des Antragstellers zu 1) vor, sondern wird dessen Reisefähigkeit derzeit lediglich als eingeschränkt angesehen. Hierzu hat der Amtsarzt der Einschätzung des den Antragsteller zu 1) zusätzlich begutachtenden Psychiaters folgend dargelegt, dass er eine Abschiebung des Antragstellers zu 1) deshalb für problematisch halte, weil eine dauerhafte Behandlung des als chronifizierte reaktiv begonnene Depression angesehenen Krankheitsbildes des Antragstellers zu 1) auch noch längerfristig, d.h. über zwölf Monate oder 24 Monate hinaus erforderlich sei und auch Impulsdurchbrüche unter der schweren Belastung weiterhin zu erwarten seien, so dass eine Suizidalität nach wie vor gegeben sei, wobei diese nicht lediglich für den Transport bestehe, sondern für den Antragsteller zu 1) der einzige Ausweg aus seiner derartigen Lebenssituation wäre. Auch in Anbetracht der sowohl in dem Zwischenbericht der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des St. N. Hospitals W. vom 08.11.2012 als auch in den amtsärztlichen Stellungnahmen vom 07.06. und 15.07.2013 aufgezeigten Suizidgefahr im Falle einer Abschiebung des Antragstellers zu 1) in die Türkei ist ein rechtliches Abschiebungshindernis in Form eines inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisses gleichwohl nicht annehmbar. Eine auch akute und ernsthafte Suizidgefahr steht einer Abschiebung nämlich grundsätzlich dann nicht entgegen und begründet keine Reiseunfähigkeit, wenn durch die Ausländerbehörde für die Abschiebung insoweit die konkret erforderlichen Schutzmaßnahmen getroffen werden (vgl. OVG des Saarlandes, Beschlüsse vom 21.09.2011, 2 A 3/11, vom 16.02.2011, 2 A 259/10, und vom 14.09.2010, 2 B 210/10, m.w.N.).

Die Ausländerbehörde hat daher bei ernsthaften Selbstmordabsichten eines abzuschiebenden Ausländers je nach den Gegebenheiten des Falles geeignete Vorkehrungen zu treffen, um sicherzustellen, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers nicht unmittelbar durch den Abschiebungsvorgang wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert. Dafür, dass seitens des Antragsgegners im Zeitpunkt der Aufenthaltsbeendigung die im Fall des Antragstellers zu 1) erforderlichen Schutzmaßnahmen nicht getroffen würden, hat die Kammer keinen Anhalt. Im Gegenteil hat der Antragsgegner vor dem Hintergrund der von ihm zur Reisefähigkeit des Antragstellers zu 1) eingeholten amtsärztlichen Stellungnahmen vom 07.06. und 15.07.2013 in dem Bescheid vom 28.08.2013, auf den er auch im vorliegenden Verfahren Bezug genommen hat, ausdrücklich eine durchgehende ärztliche Beaufsichtigung des Antragstellers zu 1) während der gesamten Dauer der Abschiebemaßnahme zugesichert und weiter erklärt, dass neben einer zusätzlichen ärztlichen Untersuchung der Reisefähigkeit des Antragstellers zu 1) am Abschiebetag eine Sicherheitsbegleitung durch Polizeibeamte erfolgen werde, um jegliche Gefährdungen während des Fluges auszuschließen. Zudem werde sichergestellt, dass der Antragsteller zu 1) bei der Ankunft am Zielflughafen an einen entsprechenden Facharzt übergeben und erforderlichenfalls in eine Psychiatrische Klinik aufgenommen werde, wo er so lange verbleiben könne, bis die medizinische Anschlussversorgung greife. Dafür, dass ungeachtet dieser Schutzmaßnahmen, die der Antragsgegner in seinem Abschlussvermerk vom 04.09.2013 (vgl. Bl. 277 ff. der Ausländerakte des Antragstellers zu 1)) dahingehend konkretisiert hat, dass der die Rückführung des Antragstellers zu 1) begleitende Arzt vollumfänglich über dessen Krankheitsbild, insbesondere auch über die bei dem Antragsteller zu 1) bestehende akute Suizidgefahr unterrichtet sei, einer Suizidgefahr nicht wirksam begegnet werden könnte oder dem Antragsteller zu 1) ansonsten eine wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes durch den Abschiebungsvorgang selbst drohen könnte, spricht vorliegend nichts, zumal die Aufenthaltsbeendigung gerade nicht zum Abbruch einer zwingend erforderlichen medizinischen Behandlung des Antragstellers zu 1) führt und dieser nach der Rückkehr in sein Heimatland nicht sich selbst überlassen bleibt, sondern, sofern erforderlich, in fachkundige Obhut übergeben wird (vgl zu den im Einzellfall auch im Vorfeld der Abschiebung erforderlichen Schutzmaßnahmen Urteil der Kammer vom 28.11.2012, 10 K 330/12).

Dies gilt auch unabhängig von der in dem vorgelegten Zwischenbericht der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des St. N.-Hospitals W. vom 08.11.2012 enthaltenen psychiatrischen Einschätzung, dass eine evtl. Abschiebung des Antragstellers zu 1) in sein Heimatland zu einer langfristigen massiven Verschlechterung seines Gesundheitszustandes führen würde, weil dort wegen der erlebten Traumatisierung durch staatsnahe Organe aus psychiatrischer Sicht eine sinnvolle Weiterbehandlung nicht möglich sei und nur zu einer erneuten Retraumatisierung führen würde. Bei solchen aus fachärztlicher Sicht angeblich nicht sinnvollen oder ansonsten unzureichenden medizinischen Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland handelt es sich um zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, die von dem Antragsgegner als Ausländerbehörde im Falle des Antragstellers zu 1) als ehemaligem Asylbewerber ohne positive Feststellung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge wegen der Bindungswirkungen nach § 42 Satz 1 AsylVfG an dessen negativen Entscheidungen in dem Asylverfahren nicht berücksichtigt werden können (vgl. dazu OVG des Saarlandes, Beschlüsse vom 21.09.2011, 2 A 3/11, und vom 01.12.2010, 2 B 286/10; ferner OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.07.2006, 18 B 586/06, zitiert nach juris). [...]