OVG Mecklenburg-Vorpommern

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Zitieren als:
OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 19.07.2013 - 1 L 76/09 - asyl.net: M21539
https://www.asyl.net/rsdb/M21539
Leitsatz:

1. Zur Frage eines gewöhnlichen Aufenthalts i.S.v. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I von Asylbewerbern und ihren minderjährigen Kindern in einer zugewiesenen Gemeinschaftsunterkunft.

2. Zum Erfordernis der Einrede bei Anwendung der Verjährungsregelung in § 113 Abs. 1 SGB X.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: gewöhnlicher Aufenthalt, Asylbewerber, Gemeinschaftsunterkunft, Aufnahmeeinrichtung, Verjährung, Erstattungsanspruch, Kosten,
Normen: SGB I § 30 Abs. 3 S. 2, SGB X § 113 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Rüge der fehlerhaften Annahme des Verwaltungsgerichts bezüglich des gewöhnlichen Aufenthalts der Eltern des Kindes und des Kindes selbst im Zuständigkeitsbereich der Beklagten vermag keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu wecken. Maßgeblich ist insoweit § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I, der mangels abweichender Vorschriften auch für den Bereich der Sozialhilfe gilt (§ 37 SGB I). Danach hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass Personen, die in einer zugewiesenen Gemeinschaftsunterkunft leben, dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben können. Das Bundesverwaltungsgericht hat für den Fall eines Spätaussiedlers entschieden, dass auch in einem Übergangswohnheim ein gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne eines Aufenthalts "bis auf weiteres" begründet werden kann. Der Umstand, dass ein Spätaussiedler nicht die Absicht hat, im Übergangswohnheim, einer Notunterkunft, "zunächst auf Dauer" bzw. "bis auf weiteres" zu verbleiben, sondern bestrebt ist, das Übergangswohnheim sobald wie möglich zu verlassen, sowie der Umstand der beengten und fehlenden Räumlichkeiten, die nicht als Wohnung oder Dauerunterkunft angesehen werden können, sind danach vielleicht durchgreifend, wenn - etwa bei einer Unterbringung in einer Turnhalle - abgeschlossene Räumlichkeiten fehlen und die Unterkunft zur Begründung eines vorläufigen Lebensmittelpunktes ersichtlich nicht bestimmt und geeignet ist. Von derartigen Besonderheiten abgesehen steht jedoch der Umstand, dass ein Übergangswohnheim nicht zum dauernden Verbleib bestimmt ist und dem Aufenthalt die Merkmale einer selbstbestimmten, auf Dauer eingerichteten Häuslichkeit fehlen, der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne eines zukunftsoffenen Aufenthalts "bis auf weiteres" nicht entgegen (BVerwG, Urt. v. 18.03.1999 - 5 C 11/98 -, NVwZ-RR 1999, 583, zit. n. juris). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts schließen dabei Zwang und Unfreiwilligkeit einen gewöhnlichen Aufenthalt nicht aus. Der Grund für den Zwang und die Unfreiwilligkeit ist für die Frage nach dem gewöhnlichen Aufenthalt ohne Bedeutung, weil es bei den Umständen im Sinne des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I nicht auf deren Ursachen, sondern allein darauf ankommt, dass sie ein nicht nur vorübergehendes Verweilen erkennen lassen (BVerwG, Beschl. v. 08.12.2006 - 5 B 65/06 -, zit. n. juris). Das Bundesverwaltungsgericht hat auch entschieden, dass zur Begründung eines "gewöhnlichen Aufenthalts" ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt nicht erforderlich ist, es vielmehr genügt, dass der Betreffende sich an dem Ort oder in dem Gebiet "bis auf weiteres" im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat, und dass dies auch für Kinder und Jugendliche gilt, die einen von ihren Eltern oder einem Elternteil abweichenden gewöhnlichen Aufenthalt haben können. Der Grundsatz, dass ein minderjähriges Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt grundsätzlich bei dem Elternteil hat, der das Personensorgerecht ausübt und bei dem es sich tatsächlich aufhält, ist danach eine Regel für die nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I erforderliche eigenständige Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eines minderjährigen Kindes und steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Regel an dem Ort hat, an dem er seine Erziehung erhält, wobei es bei einer Unterbringung außerhalb der Familie darauf ankommt, ob sie nur vorübergehend oder auf Dauer erfolgen soll. Dabei ist notwendige Voraussetzung für die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts, dass sich die Person, die an einem Ort einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen will, zumindest kurzfristig auch tatsächlich dort aufhält. Auch wenn zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt nicht erforderlich ist, ist nach dem Wortlaut des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I eine Mindestdauer eines tatsächlichen Aufenthalts unverzichtbar. Der tatsächliche Aufenthalt ist zwar nicht hinreichende, aber notwendige Bedingung für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts. Diese Voraussetzung kann auch bei Kindern nicht durch den bloßen Willen eines personensorgeberechtigten Elternteils, an diesem Ort einen gewöhnlichen Aufenthalt für das Kind zu begründen, oder entsprechende objektive Vorbereitungshandlungen (etwa Anmietung und Einrichtung einer Wohnung; melderechtliche Anmeldung) ersetzt werden (BVerwG, Urt. v. 26.09.2002 - 5 C 46/01 -, NVwZ 2003, 616, zit. n. juris). Dementsprechend hat das Bundesverwaltungsgericht die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts einer Asylbewerberin in einer zugewiesenen Gemeinschaftsunterkunft verneint, weil sich die Asylbewerberin zu keinem Zeitpunkt tatsächlich dort aufgehalten hatte (BVerwG, Urt. v. 07.07.2005 - 5 C 9/04 -, NVwZ 2006, 97, zit. n. juris). Der Bayerische VGH hat anknüpfend an die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. März 1999, aaO., entschieden, dass ein noch nicht bestandskräftig anerkannter Asylbewerber, der in einer zugewiesenen Gemeinschaftsunterkunft lebt, dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt i. S. v. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat (BayVGH, Urt. v. 25.10.2001 - 12 B 00.2312 -, zit. n. juris). Der Senat hat bereits entschieden, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt bei Kindern in der Regel, wenn keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der minderjährige Hilfeempfänger einen davon abweichenden gewöhnlichen Aufenthalt oder einen abweichenden tatsächlichen Aufenthalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.09.2002 - 5 C 46.01 -, NVwZ 2003, 616, zit. n. juris) genommen hat, zunächst nach dem Aufenthalt der Eltern bzw. nach dem Aufenthalt des mit dem Kind zusammenlebenden Elternteils bestimmt. Auch ansonsten kommt es grundsätzlich für die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts von Kindern auf den Willen der Eltern bzw. des Aufenthaltsbestimmungsberechtigten an, soweit der Ausführung des Willens nicht objektive Umstände entgegenstehen (OVG M-V, Urt. v. 28.08.2007 - 1 L 300/05 -, zit. n. juris). An dieser Auffassung hält der Senat fest und schließt sich auch im Übrigen der oben dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen VGH an. Danach hat das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, dass sowohl die Eltern des Kindes, die sich ca. 10 Monate in der Gemeinschaftsunterkunft in Schwerin aufgehalten hatten, als auch deren behindertes Kind jedenfalls bis zum Wegzug der Eltern dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt i.S.v. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hatten. Nichts anderes folgt aus dem Umstand, dass sich das Kind tatsächlich nur einige Wochen in der Gemeinschaftsunterkunft befunden und die überwiegende Zeit im Krankenhaus verbracht hatte. Aus diesem Umstand kann nicht geschlossen werden, dass sich das Kind nur vorübergehend gleichsam zu Besuch bei seinen Eltern aufgehalten hatte. Für eine solche Annahme spricht insbesondere auch nicht, dass die Eltern das Kind bereits zu der Zeit des Aufenthalts in der Gemeinschaftsunterkunft nicht gewollt hätten, wie der Beklagte behauptet, und es später in Schwerin in der Klinik zurückgelassen haben. Abgesehen davon, dass über die wahre Motivlage der Eltern nichts bekannt ist, spielt dies auch keine Rolle. Entscheidend ist, dass die Eltern ihr Kind tatsächlich in der ihnen zugewiesenen Gemeinschaftsunterkunft aufgenommen hatten und es dort, wenn auch nur jeweils für relativ kurze Zeiträume, betreut hatten. Die durch die Behinderungen und Erkrankungen des Kindes erforderlichen Klinikaufenthalte ändern daran nichts. Hinweise darauf, dass die Eltern den Aufenthalt ihres Kindes außerhalb der Klinikzeiten abweichend von ihrem eigenen gewöhnlichen Aufenthalt bestimmt hätten, sind weder vorgetragen noch sonst erkennbar. Dabei ist nicht von Bedeutung, ob die Eltern ihr Kind in der Unterkunft "wollten". Entscheidend ist, dass die Eltern das Kind – ihrer elterlichen Sorgepflicht folgend – tatsächlich aufgenommen und betreut hatten.

Zwar endete der anzunehmende gewöhnliche Aufenthalt des Kindes mit dem Wegzug seiner Eltern aus Schwerin und seiner Aufnahme in das Kinderheim Zippendorf/Schwerin im Anschluss an die Entlassung aus der Klinik am 12. Mai 1993, weil in einer solchen Einrichtung ein gewöhnlicher Aufenthalt nach den zum damaligen Zeitpunkt geltenden §§ 109, 103 Abs. 4 BSHG i.d.F. d.B. vom 10. Januar 1991 – BSHG a.F. - (BGBl. I 1991, 94) nicht begründet werden konnte. Dies ändert aber im Ergebnis nichts an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Zum Zeitpunkt der Aufnahme des Kindes aus dem Kinderheim in Zippendorf/Schwerin in die Pflegefamilie im August 1993 bestimmte § 103 Abs. 1 Satz 2 BSHG a.F. für den Fall eines Übertritts eines Hilfeempfängers aus einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung in eine andere Einrichtung oder von dort in weitere Einrichtungen den zur Kostenerstattung verpflichteten Träger nach dem gewöhnlichen Aufenthalt, der für die erste Einrichtung maßgebend war. Maßgeblich für die erste Einrichtung, das Kinderheim in Zippendorf/Schwerin, war die Beklagte wegen des vor der Unterbringung in dem Kinderheim bestehenden gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in der Gemeinschaftsunterkunft in Schwerin.

Auch der weitere Einwand der Beklagten, ein Teil des Erstattungsanspruchs für die Jahre 1997 bis 1999 sei entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts bei Klageerhebung bereits nach § 113 Abs. 1 SGB X verjährt gewesen, kann nicht zur Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils führen. Insoweit verweist die Klägerin zutreffend darauf, dass die Beklagte die auch in den Fällen des § 113 Abs. 1 SGB X notwendige Einrede der Verjährung im erstinstanzlichen Klageverfahren nicht erhoben hat. Dies wäre nach der Rechtsprechung des Senats jedoch – den Eintritt der Verjährung unterstellt – Voraussetzung dafür gewesen, dass das Verwaltungsgericht den Anspruch der Klägerin teilweise hätte abweisen müssen (vgl. OVG M-V, Urt. v. 28.08.2007 - 1 L 59/05 -, zit. n. juris). Ohne eine solche Einrede durfte das Verwaltungsgericht dem geltend gemachten Anspruch nicht dessen (behauptete) teilweise Verjährung entgegenhalten. [...]