VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Beschluss vom 11.10.2013 - 2 B 806/13 - asyl.net: M21577
https://www.asyl.net/rsdb/M21577
Leitsatz:

1. Über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen eine Abschiebungsandrohung ist nach § 34a Abs. 2 AsylVfG in der ab 6. September 2013 geltenden Fassung im Wege einer reinen Interessenabwägung zu entscheiden.

2. Verlässt ein Asylbewerber innerhalb der gesetzten Ausreisefrist das Gebiet eines zuständigen Mitgliedsstaates und reist in den benachbarten Mitgliedsstaat unerlaubt ein, besteht die Wiederaufnahmepflicht des zuständigen Mitgliedsstaates nach Art. 16 Abs. 1 e) EGV 343/2003 fort.

3. Aufgrund einer routinemäßigen persönlichen Anhörung des Asylbewerbers zu den Gründen seiner Verfolgungsfurcht kann dieser regelmäßig nicht davon ausgehen, das Bundesamt übe dadurch sein Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 EGV 343/2003 aus.

4. Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens in Belgien liegen nicht vor.

5. Für Wiederaufnahmegesuche nach Art. 16 Abs. 1 e) i.V.m. Art. 20 EGV 343/2003 gilt die Frist des Art. 17 Abs. 1 EGV 343/2003 nicht. Lediglich bei unangemessen langer Verzögerung der Stellung des Wiederaufnahmegesuchs kann sich das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 EGV 343/2003 zu einer Selbsteintrittspflicht verdichten.

6. Eine fehlende oder mangehafte Übersetzung von Entscheidungsformel oder Rechtsbehelfsbelehnung des Bescheides des Bundesamtes hat keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung.

7. Bei unerlaubter Einreise eines Asylbewerbers aus dem zuständigen Mitgliedsstaat ist die Abschiebungsanordnung auch nach unionsrechtlichen Maßstäben regelmäßig nicht zu beanstanden.

8. Aus künftigen Verbesserungen oder Straffungen des sog. Dublin-Verfahrens gemäß der zwischenzeitlich in Kraft getretenen EGV 604/2013 können Asylbewerber für laufende Verfahren, die noch nach der EGV 343/2003 zu bearbeiten sind, keine rechtlichen Folgerungen herleiten.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: systemische Mängel, Asylverfahren, Aufnahmebedingungen, Übernahmeersuchen, Dublinverfahren, Dublin II-VO, Wiederaufnahme, Wiederaufnahmegesuch, Belgien, Verzögerung, Verfahrensdauer, Dauer, Rechtsmittelbelehrung, Rechtsbehelfsbelehrung, Übersetzung,
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 1 e), VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Die Antragsgegnerin ist auch nicht deshalb für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags der Antragsteller vom 24. Januar 2013 zuständig geworden, weil das Bundesamt nach Auffassung der Antragsteller die 3-Monats-Frist des Art. 17 Abs. 1 VO (EG) 343/2003 versäumt habe, indem es erst am 24. April 2013 um 14:23 Uhr gegenüber den belgischen Stellen das Wiederaufnahmeersuchen angebracht habe. Abgesehen davon, dass die Frist des Art. 17 Abs. 1 VO (EG) 343/2003 im vorliegenden Sachverhalt nach allgemeinen Grundsätzen zur Fristberechnung bei Ereignissen erst am 24. April 2013 um 24:00 Uhr abgelaufen wäre (vgl. § 188 Abs. 2 i.V.m. § 187 Abs. 1 BGB), das Bundesamt somit am letzten Tag der 3-Monats-Frist - mithin noch rechtzeitig - gehandelt hätte, verkennen die Antragsteller schon im Ansatz, dass für sie als in Belgien abgelehnte Asylbewerber die dortige Wiederaufnahme nach Art. 16 Abs. 1 e) i.V.m. Art. 20 VO (EG) 343/2003 erfolgt; für das Wiederaufnahmeverfahren nach Art. 20 VO (EG) 343/2003 existieren indes keine festen Ausschlussfristen, in denen das Wiederaufnahmegesuch bei dem anderen Mitgliedsstaat anzubringen ist (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., § 27a Rn. 242). Die Kammer hat hierzu in ihrem Urteil vom 25. Juli 2013 (a.a.O., zit. nach juris Rn. 26 ff.) bereits ausgeführt, dass die 3-Monats-Frist des Art. 17 Abs. 1 VO (EG) 343/2003 lediglich Aufnahmen gemäß Art. 16 Abs. 1 a) VO (EG) 343/2003 betrifft, die aus den in den Kapiteln III und IV der Dublin-II-Verordnung genannten Zuständigkeitskriterien erfolgen. Die Kammer hat allerdings auch entschieden (a.a.O.), dass das Bundesamt die Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs nach Art. 20 VO (EG) 343/2003 nicht unangemessen lange verzögern dürfe und eine unzumutbare Verzögerung mit der Folge einer Selbsteintrittspflicht gem. Art. 3 Abs. 2 VO (EG) 343/2003 angenommen, wenn der Zeitraum von der Stellung des Asylantrags beim Bundesamt bis zur Stellung des Wiederaufnahmegesuchs den 3-Monats-Zeitraum aus Art. 17 Abs. 1 UA 2 VO (EG) 343/2003 um ein Vierfaches überschreitet. Ein solcher Sachverhalt liegt hier ersichtlich nicht vor.

Schließlich ist die Antragsgegnerin auch nicht deshalb für die Prüfung des (weiteren) Asylantrags der Antragsteller zuständig geworden, weil die Entscheidungsformel und die Rechtsbehelfsbelehnung des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes vom 20. Juni 2013 - so jedenfalls der Vortrag der Antragsteller - unter Verletzung des § 31 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG nur fehlerhaft bzw. unvollständig in die russische Sprache übersetzt worden ist. Ein solcher Fehler führt nicht schon zur formellen Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides etwa im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot des § 37 Abs. 1 VwVfG oder das Begründungserfordernis des § 39 Abs. 1 VwVfG, denn die insoweit verbindliche Urschrift des Bescheides in deutscher Sprache weist derartige formelle Mängel ersichtlich nicht auf. Die fehlende oder nur mangelhafte Übersetzung von Entscheidungsformel und/oder Rechtsbehelfsbelehrung führen lediglich dazu, dass dem betroffenen Asylbewerber eine etwaige Versäumung der gesetzlichen Klagefrist gem. § 74 Abs. 1 AsylVfG oder der Antragsfrist des § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. - die vorliegend aus den eingangs genannten Gründen ohnehin nicht in Rede steht - nicht als schuldhaft anzulasten ist, mit der Folge, dass ein Wiedereinsetzungsgesuch des betroffenen Asylbewerbers gem. § 60 VwGO begründet wäre (vgl. VG Stuttgart, Beschluss vom 17. Mai 2011 - A 4 K 634/11 -, InfAuslR 2011, S. 311 ff., zit. nach juris Rn. 4). Im Hinblick auf die Entscheidungsbefugnis des Bundesamtes gem. Art. 3 Abs. 2 VO (EG) 343/2003 sind hieraus ebenfalls keine Weiterungen zu ziehen.

Die Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 AsylVfG ist im vorliegenden Fall nicht aufzuheben bzw. zu suspendieren, weil Art. 7 Abs. 1 VO (EG) 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur VO (EG) 343/2003 (ABl. EU L 222 vom 5. September 2003, S. 3) verschiedene Modalitäten der Überstellung eines Asylbewerbers an den zuständigen Mitgliedsstaat vorsieht, darunter gem. Art. 7 Abs. 1 a) der Durchführungsverordnung eine freiwillige - unbegleitete - Ausreise aus dem Mitglieds - staat innerhalb einer vorgegebenen Frist. Zwar werden insoweit Bedenken an der Unionsrechtskonformität des § 34a Abs. 1 AsylVfG geltend gemacht (hierzu näher: Funke-Kaiser, a.a.O., § 27a Rn. 4 und § 34a Rn. 51 ff. m.w.N.). Diese Bedenken greifen auf den vorliegenden Sachverhalt jedoch nicht durch, denn die Antragsteller haben weder im verwaltungsbehördlichen noch gerichtlichen Verfahren glaubhaft geltend gemacht bzw. zu erkennen gegeben, dass sie bereit sind, sich freiwillig innerhalb kürzester Zeit nach Feststellung des Bundesamtes, dass ihr (weiterer) Asylantrag gem. § 27a AsylVfG unzulässig ist, wieder nach Belgien oder - was näher liegt, da der dortige Asylantrag offenbar schon rechtskräftig abgelehnt wurde - in ihr Heimatland (Russische Föderation) zu begeben. Der Antragsteller zu 1.) hat im Rahmen seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt u.a. zugegeben, er habe im November (gemeint wohl Dezember) 2012 ein Schreiben der belgischen Behörden bekommen, in dem gestanden habe, er solle das Land verlassen. Daraufhin sei er nach Deutschland mit dem Auto gefahren. Aus den von den Antragstellern hier vorgelegten belgischen Dokumenten ergibt sich indes weiter, dass die Antragsteller u.a. auch darüber belehrt worden sind, dass sich ihre Ausreispflicht auch auf die Gebiete anderer Mitgliedsstaaten der EU, namentlich Deutschland, erstreckt (vgl. Seite 3 des Bescheids des Federale Overheidsdienst Binnenlandse Zaken vom 12. Dezember 2012: "evenals het grondgebied van Duitsland …"). Es liegt damit auf der Hand, dass die Antragsteller nicht bereit sind, jedenfalls freiwillig das Gebiet der Mitgliedsstaaten der EU zu verlassen, sondern sich - wie geschehen - unter Umständen durch ein sog. "Hopping" von Mitgliedsstaat zu Mitgliedsstaat begeben, um der Vollstreckung ihrer Ausreisepflicht zu entgehen. Unter diesen Umständen erscheint es verhältnismäßig, wenn das Bundesamt

- der national-gesetzlichen Vorgabe folgend - gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG die Abschiebung der Antragsteller angeordnet hat und somit auf eine begleitete Rückführung derselben nach Belgien setzt.

Eine andere rechtliche Beurteilung des vorliegenden Sachverhaltes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Nachfolgeverordnung zur Dublin-II-Verordnung, die Verordnung (EU) 604/2013 des europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. EU L 180 vom 29. Juni 2013, Seite 31) - sog. Dublin-III-Verordnung -, ausweislich ihres Artikels 49 Abs. 1 bereits am 19. Juli 2013 in Kraft und damit die Dublin-II-Verordnung außer Kraft getreten ist, denn gemäß Art. 49 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung ist diese erst auf Anträge auf internationalen Schutz bzw. Gesuche um Aufnahme oder Wiederaufnahme von Antragstellern anwendbar, die ab dem 1. Januar 2014 gestellt werden. Bis dahin bleiben die Bestimmungen der Dublin-II-Verordnung anwendbar. Aus künftigen Verbesserungen bzw. Straffungen des sog. Dublin-Verfahrens können somit die Antragsteller derzeit nichts für sich herleiten.