VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 09.01.2014 - 6 A 2241/12 - asyl.net: M21593
https://www.asyl.net/rsdb/M21593
Leitsatz:

Fehlt die notwendige Befristung der Wirkungen einer Ausweisung, so kann der Ausländer zugleich mit der Anfechtung der Ausweisung seinen Anspruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung gem. § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gerichtlich durchsetzen.

Das Gericht hat über die konkrete Dauer einer angemessenen Frist selbst zu befinden und die Ausländerbehörde zu einer entsprechenden Befristung der Wirkungen der Ausweisung zu verpflichten (im Anschluss an die Rechtsprechung des BVerwG, Urteile vom 10. Juli 2012 - 1 C 19.11 -, BVerwGE 143, 277, und vom 13. Dezember 2012 - 1 C 14.12 und 1 C 20.11 -, InfAuslR 2013, 141 und 169).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, Befristung, Gefahrenabwehr, Prognose, Prognoseentscheidung, schutzwürdige Belange, Verhältnismäßigkeit, Wirkung der Ausweisung, Straftat, Drogendelikt, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Gefahr für die öffentliche Sicherheit, zwingende Ausweisung, Sperrwirkung,
Normen: AufenthG § 11, AufenthG § 53, AufenthG § 55, EMRK Art. 8, GG Art. 2 Abs. 1, GG Art. 6, GR-Charta Art. 7, VwGO § 155 Abs. 1 S. 3,
Auszüge:

[...]

Die Vorschrift des § 11 Abs. 1 AufenthG bestimmt, dass ein Ausländer, der ausgewiesen worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten darf (Satz 1). Ihm wird auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt (Satz 2). Auf Antrag werden die in den Sätzen 1 und 2 bezeichneten Wirkungen befristet (Satz 3). Die Frist ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (Satz 4). Der Umstand, ob der Ausländer rechtzeitig und freiwillig ausgereist ist, wird bei der Bemessung der Länge der Frist berücksichtigt (Satz 5). Die Frist beginnt mit der Ausreise (Satz 6). Die in Satz 7 geregelten Ausnahmetatbestände für die Festsetzung einer Frist liegen in der Person des Klägers nicht vor.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verschafft § 11 Abs. 1 Satz 3 und 4 AufenthG n. F., welcher der Umsetzung der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 - Rückführungsrichtlinie (ABl. EU Nr. L 348 vom 24. Dezember 2008 S. 98) dient, den Betroffenen nunmehr - vorbehaltlich der Ausnahmen in Satz 7 der Vorschrift - einen uneingeschränkten, auch hinsichtlich der Dauer der Befristung voller gerichtlicher Überprüfung unterliegenden Befristungsanspruch (BVerwG, Urteil vom 14. Februar 2012 - 1 C 7/11 -, InfAuslR 2012, 255). § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n. F. gebietet einerseits den gleichzeitigen Erlass von Ausweisung und Befristung; andererseits genügt für den in dieser Vorschrift vorgesehenen Antrag jede Form der Willensbekundung des Betroffenen, mit der dieser sich gegen eine Ausweisung wendet (BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2012 - 1 C 19.11 -, BVerwGE 143, 277, sowie Urteile vom 13. Dezember 2012 - 1 C 14.12 <InfAuslR 2013, 141> und 1 C 20.11 <InfAuslR 2013, 169>).

Fehlt die notwendige Befristung der Wirkungen der Ausweisung, so kann der Ausländer zugleich mit der Anfechtung der Ausweisung seinen Anspruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gerichtlich durchsetzen. Damit wird nicht nur dem Anspruch des Betroffenen auf gleichzeitige Entscheidung über die Ausweisung und die Befristung ihrer Wirkungen Rechnung getragen, sondern auch die Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung im Ergebnis gewährleistet. Prozessual wird dieses Ergebnis - nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - dadurch sichergestellt, dass in der Anfechtung der Ausweisung zugleich als Minus für den Fall der Bestätigung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung ein (Hilfs-)Antrag auf Verpflichtung der Ausländerbehörde zu einer angemessenen Befristung ihrer Wirkungen gesehen wird, sofern eine solche nicht bereits von der Ausländerbehörde verfügt worden ist (BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2012 - 1 C 19.11 -, a.a.O.). Fehlt eine behördliche Befristungsentscheidung, so hat das Gericht über die konkrete Dauer einer angemessenen Frist selbst zu befinden und die Ausländerbehörde zu einer entsprechenden Befristung der Ausweisung zu verpflichten (BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2012 - 1 C 19.11 -, a.a.O.).

Der Senat hält im vorliegenden Fall - bezogen auf den heutigen Zeitpunkt - eine Frist von sieben Jahren für angemessen.

Die Frist ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind bei der Bemessung der Frist in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Dabei ist eine Prognoseentscheidung erforderlich, wie lange das Verhalten des jeweiligen Betroffenen, welches der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr trägt. In der Regel stellt ein Zeitraum von maximal 10 Jahren den Zeithorizont dar, für den eine Prognose realistischer Weise noch gestellt werden kann, ohne spekulativ zu wirken (BVerwG, Urteile vom 13. Dezember 2012 - 1 C 20.11 und 1 C 14.12 -, jeweils a.a.O.).

In einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gegebenenfalls zu relativieren, um höherrangigem Recht, d. h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh, Art. 8 EMRK, zu entsprechen. Dabei sind insbesondere die in § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Betroffenen in den Blick zu nehmen und es ist eine Abwägung nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen. Fehlt die behördliche Befristungsentscheidung, so ist sie vom Gericht durch eine eigene Abwägung zu ersetzen und eine Verpflichtung der Behörde auszusprechen (BVerwG, Urteile vom 13. Dezember 2012 - 1 C 20.11 und 1 C 14.12 -, jeweils a.a.O.).

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist die in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG genannte Höchstfrist von fünf Jahren im vorliegenden Fall ohne Bedeutung, da der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist und von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Das ergibt sich aus den tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts im Urteil vom 6. Juni 2012, das hinsichtlich der Ausweisung rechtskräftig geworden ist. Danach hat der Kläger sowohl den zwingenden Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 Alternative 1 AufenthG als auch den zwingenden Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 2 AufenthG dadurch erfüllt, dass er am 11. Januar 2010 wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden ist.

Dabei ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass gewichtige spezial- und generalpräventive Gesichtspunkte für die Ausweisung des Klägers sprächen. Er habe keinerlei Reue oder Einsicht gezeigt, spiele den Unrechtsgehalt herunter bzw. vertrete die Ansicht, zu Unrecht belangt worden zu sein, und sei mehrfach - auch einschlägig - vorbestraft. Angesichts der Gesamtumstände sei anzunehmen, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit in Zukunft erhebliche weitere Straftaten aus dem Bereich der Drogen- und Beschaffungskriminalität begehen werde. Unter generalpräventiven Gesichtspunkten sei zu berücksichtigen, dass die Abschreckung anderer Ausländer von der Begehung von Betäubungsmitteldelikten zentrale Bedeutung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung habe.

Wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der nach wie vor bestehenden Wiederholungsgefahr erachtet der Senat auch im Hinblick auf die familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet einen Zeitraum von sieben Jahren für erforderlich, um dem Gefahrenpotential in der Person des Klägers Rechnung zu tragen. Dabei spielt zum einen die allgemeine Rückfallgefahr bei Delikten dieser Art eine Rolle, welcher der Kläger bislang eine therapeutische Aufarbeitung und Bekämpfung seiner eigenen Suchterkrankung nicht entgegensetzen kann (Schreiben des Leiters der Justizvollzugsanstalt Butzbach vom 23.04.2012, Bl. 92 des Vollstreckungshefts). Zum anderen ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu erwarten, dass die Beziehung zu seiner deutschen Ehefrau einen stabilisierenden Einfluss dergestalt verspricht, dass der Kläger die maßgebliche Gefahrenschwelle vor Ablauf von sieben Jahren - gerechnet ab dem Zeitpunkt der Ausreise - unterschreiten wird. Die Eheleute lebten nach nur zweijähriger Ehezeit bereits seit April 2008 getrennt. Die Ehefrau des Klägers hat diesen während der Inhaftierung in der Justizvollzugsanstalt Butzbach nicht besucht (Schreiben des Leiters der Justizvollzugsanstalt Butzbach vom 20.02.2012, Bl. 89 des Vollstreckungshefts). Nach seiner Haftentlassung am 6. September 2012 wurde der Kläger nach seiner Vorsprache am selben Tag durch die Abteilung für Zuwanderer und Flüchtlinge des beklagten Landkreises in der kreiseigenen Gemeinschaftsunterkunft in ... untergebracht (Schreiben des Beklagten vom 13.09.2012, Bl. 104 des Vollstreckungshefts). Erst am 12. Februar 2013 hat sich der Kläger wieder unter der Anschrift seiner Ehefrau in A-Stadt, A-Straße, angemeldet. Nach eigenen Angaben im Schreiben vom 10. Mai 2013 (Bl. 201 der Gerichtsakten) sollte der Kläger am 13. Mai 2013 abgeschoben werden.

Danach ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehbar, ob sich das Verhältnis des Klägers zu seiner deutschen Ehefrau trotz räumlicher Trennung stabilisieren wird. Auch eine Prognose zur Entwicklung der Suchterkrankung des Klägers ist derzeit nicht möglich. Nach alledem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Gefahrenschwelle vor Ablauf einer Frist von sieben Jahren unterschritten wird.

Allein die Tatsache, dass das Verhalten des Klägers nach seiner Haftentlassung zu einer Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Darmstadt vom 29. Mai 2013 geführt hat, rechtfertigt eine Heraufsetzung der Frist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht. Je nach Ausgang des Strafverfahrens kann der Beklagte das Verhalten des Klägers nach der Haftentlassung aber bei einem eventuellen Antrag auf Verkürzung der Sperrfrist oder bei einem eventuellen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Ablauf der Sperrfrist gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG berücksichtigen. [...]