VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 19.12.2013 - 10 C 11.1314 - asyl.net: M21607
https://www.asyl.net/rsdb/M21607
Leitsatz:

Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik stattfinden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück.

Schlagwörter: Ausreisehindernis, Abschiebungshindernis, familiäre Lebensgemeinschaft, Schutz von Ehe und Familie, deutsches Kind, deutsche Staatsangehörigkeit, einwanderungspolitische Belange, Unzumutbarkeit, Zumutbarkeit, Ausreise, Ausreisepflicht, vollziehbar ausreisepflichtig, Straftat, Wiederholungsgefahr,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 11 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

bbb) Zumindest offen ist, ob die Ausreise des Klägers aus rechtlichen Gründen unmöglich ist, weil sie mit Art. 6 Abs. 1 und 2 GG nicht vereinbar wäre.

Zwar gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14 m.w.N.). Die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 GG enthaltene wert - entscheidende Grundsatznorm, nach der der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde, bei ihrer Entscheidung die familiären Bindungen des den weiteren Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (vgl. BVerfG, B.v. 1.12.2008 – 2 BvR 1830/08 – juris Rn. 26; B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14).

Zwar ist es mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik begehrt, regelmäßig hinzunehmen (vgl. BVerfG, B.v. 10.5.2008 – 2 BvR 588/08 – juris Rn. 13). Jedoch kann auch eine nur vorübergehende Trennung unzumutbar sein. In Betracht kommt dies, wenn die Folgen einer vorübergehenden Trennung ein hohes Gewicht haben, insbesondere weil ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 22; B.v. 1.12.2008 – 2 BvR1830/08 – juris Rn. 33; B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 17).

Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik stattfinden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 17; B.v. 1.12.2008 – 2 BvR 1830/08 – juris Rn. 27). Jedoch setzen sich auch gewichtige familiäre Belange nicht stets gegenüber gegenläufigen öffentlichen Interessen durch (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BVR 1935 – juris Rn. 23).

Nach diesen Maßstäben ist aber zumindest offen, ob die Ausreise des Klägers wegen ihrer Unvereinbarkeit mit dem Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG rechtlich unmöglich ist.

Für eine Unzumutbarkeit der Ausreise des Klägers spricht zunächst, dass der Kläger mit seinen inzwischen drei im Bundesgebiet geborenen deutschen Kindern und deren deutscher Mutter in einer gemeinsamen Wohnung in familiärer Lebensgemeinschaft lebt. Diese Lebensgemeinschaft kann auch nur im Bundesgebiet gelebt werden, weil es im Hinblick auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit weder den Kindern noch der Mutter zumutbar ist, die Bundesrepublik zu verlassen und mit dem Kläger nach Nigeria zu ziehen. Hinzu kommt, dass es sich bei der am 26. Februar 2012 geborenen Tochter und dem am 29. Mai 2013 geborenen Sohn um sehr kleine Kinder handelt, bei denen auch eine nur vorübergehende Trennung unzumutbar sein kann, weil sie den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung nicht begreifen und diese rasch als endgültigen Verlust erfahren können. Ob gegenüber diesen gewichtigen Belangen, die die auch nur vorübergehende Ausreise des Ausländers im Hinblick auf den Schutz der Familie regelmäßig als unzumutbar und damit als im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 und 2 GG rechtlich unmöglich erscheinen lassen, ausnahmsweise das öffentliche Interesse an der Verhinderung der erneuten Begehung von Betäubungsmitteldelikten durch den Kläger Vorrang beanspruchen kann, bedarf aber der weiteren Klärung im Hauptsacheverfahren.

Von Bedeutung ist insoweit insbesondere, ob und in welchem Umfang von dem Kläger noch eine Gefahr der Begehung weiterer vergleichbarer Straftaten ausgeht. Diese Frage bedarf vor allem im Hinblick darauf der weiteren Prüfung, dass die im Jahr 2007 begangenen Betäubungsmitteldelikte des Klägers, die zu seiner Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren geführt haben, inzwischen mehr als sechs Jahre zurückliegen, dass der Kläger offenbar weder während des ihm regelmäßig gewährten Hafturlaubs noch nach seiner vorzeitigen Entlassung aufgrund der Aussetzung des Strafrests zur Bewährung im Juni 2013 erneut straffällig geworden ist, dass er weiter bei seiner Familie lebt und dass er sich, wie der vorgelegte Arbeitsvertrag zeigt, nach seiner Haftentlassung offenbar erfolgreich um einen Arbeitsplatz bemüht hat. Bei der im Hauptsacheverfahren anzustellenden Gefahrenprognose sind die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer über die Aussetzung des Strafrests zur Bewährung und ein ihr möglicherweise zugrunde liegendes Sachverständigengutachten, auch wenn insoweit eine Bindungswirkung für die Verwaltungsgerichte nicht besteht, von tatsächlichem Gewicht. Sie stellen wesentliche Indizien dar (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10/12 – juris Rn. 18). Da sich weder die Entscheidung über die Aussetzung des Strafrests zur Bewährung noch ein etwaiges ihr zugrunde liegendes Sachverständigengutachten bei den Akten befinden, stellt sich die Frage der Wiederholungsgefahr aber ebenso wie die von ihrer Beantwortung abhängende Frage der rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise derzeit als offen dar.

ccc) Sollte sich im Hauptsacheverfahren die rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise des Klägers im Hinblick auf den Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG herausstellen, so wäre auch angesichts der tatsächlichen Verbundenheit des Klägers mit seiner Familie, die sich nicht zuletzt darin zeigt, dass der familiäre Kontakt während der mehrjährigen Haft des Klägers aufrechterhalten blieb und der Kläger seit seiner Entlassung offenbar wieder bei seiner Familie wohnt, mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen.

ddd) Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG stehen schließlich auch § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG und insbesondere § 5 Abs. 1 Nr. 2 und § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht entgegen. Denn jedenfalls kann von der Anwendung dieser Regelungen nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG abgesehen werden. [...]