VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 29.11.2013 - 10 C 13.1191 - asyl.net: M21614
https://www.asyl.net/rsdb/M21614
Leitsatz:

Zur nachträglichen Verkürzung einer bestandskräftig festgesetzten Sperrfrist "auf Null" ohne vorherige Ausreise.

Schlagwörter: Befristung, nachträgliche Befristung, Ausreise, vorherige Ausreise, Befristung auf Null, Ausweisung, Sperrwirkung, Sperrfrist, Bemessung der Sperrfrist, Neubemessung der Sperrfrist, Ausweisungsgrund, anerkannter Flüchtling, Wirkung der Ausweisung,
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 2, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 4,
Auszüge:

[...]

Das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis des Klägers für seine Verpflichtungsklage ist ebenfalls gegeben. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife seines Prozesskostenhilfeantrags war dem Kläger die von ihm ebenfalls beantragte Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 2 oder Abs. 5 AufenthG noch nicht erteilt. Die Frage, inwieweit die dem Kläger durch die Beklagte schließlich am 21. August 2013 ausgestellte, auf ein Jahr befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG die Sperrwirkung seiner Ausweisung beseitigt (vgl. dazu BVerwG, U.v. 13.4.2010 – 1 C 5.09 – juris Rn. 12; zum Rechtsschutzbedürfnis einer Klage auf vollständige Beseitigung der Sperrwirkungen des § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG vgl. auch VGH BW, U.v. 5.12.2012 – 11 S 739/12 – juris Rn. 19), kann deshalb dahinstehen.

Die für die Begründetheit der Verpflichtungsklage gemäß § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO maßgebliche materielle Frage, ob der Kläger einen Rechtsanspruch auf Erlass der begehrten Entscheidung – Verkürzung der bestandskräftig festgesetzten Befristung der Wirkung seiner Ausweisung "auf Null" und ohne vorherige Ausreise – durch die Beklagte hat, hängt von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage ab. Schon deshalb ist hier davon auszugehen, dass das Rechtsschutzbegehren des Klägers hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht wiederholt die Möglichkeit betont, dass der betroffene Ausländer jederzeit einen Antrag auf Verkürzung der von der Ausländerbehörde festgesetzten Frist nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG stellen kann, wenn sich die für die Festsetzung maßgeblichen Tatsachen nachträglich ändern sollten (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12 – juris Rn. 33). Noch nicht abschließend geklärt ist hingegen, ob sich ein derartiger Anspruch unmittelbar aus § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG herleiten lässt (bejahend Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309/315 unter Hinweis auf die in der Literatur vertretene a.A.) und unter welchen Voraussetzungen genau eine Verpflichtung zur nachträglichen Verkürzung einer bestandskräftig festgesetzten Frist besteht. Letzteres gilt insbesondere hinsichtlich der Frage, unter welchen Voraussetzungen bei Asylberechtigten – oder anerkannten Flüchtlingen wie dem Kläger – bei der Festsetzung der Sperrfrist nach § 11 Abs. 1 AufenthG vom Erfordernis der vorherigen Ausreise abgesehen werden kann (zu einer wegen dieser Frage zugelassenen Revision vgl. BVerwG, B.v. 12.9.2013 – 1 B 4.13 – juris).

Dem steht im Übrigen nicht entgegen, dass der Kläger nach Mitteilung seines Bevollmächtigten mit Schriftsatz vom 26. November 2013 inzwischen seinen Wohnsitz während des laufenden Verwaltungsverfahrens geändert und in der Stadt P. in Baden-Württemberg genommen hat. Denn dieser Ortswechsel fand jedenfalls nach dem Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags statt, so dass es auf die Frage eines Zuständigkeitswechsels und einer gegebenenfalls zulässigen Fortführung des Verwaltungsverfahrens gemäß Art. 3 Abs. 3 BayVwVfG für das Beschwerdeverfahren nicht ankommt.

Selbst wenn man davon ausginge, der vom Kläger geltend gemachte Anspruch beurteile sich unmittelbar nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG und die für die Bemessung der Sperrfrist nach § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG maßgeblichen Kriterien seien durch die mit der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12 – juris) erfolgten Auslegungshilfen hinreichend geklärt, so dass auch die Feststellung der nachträglichen Änderung der für die Befristungsentscheidung maßgeblichen Tatsachen nicht mehr in dem oben genannten Sinn als "schwierig" erschiene, wären gleichwohl hinreichende Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung des Klägers anzunehmen.

Zwar ist das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung (wohl) zu Recht davon ausgegangen, dass sich die durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) erfolgte Neufassung des § 11 Abs. 1 AufenthG (s. Art. 1 Nr. 9 a des Richtlinienumsetzungsgesetzes) nicht in entscheidungserheblicher Weise zu Gunsten des Klägers ausgewirkt hat, weil die Beklagte seinem Anspruch auf eine Befristungsregelung bereits Rechnung getragen hatte. Auch die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Beklagte habe schon bei ihrer Befristungsentscheidung vom 2. Dezember 2008 sowohl den Flüchtlingsstatus des Klägers als auch dessen zu berücksichtigende Belange im Zusammenhang mit seiner familiären Lebensgemeinschaft mit seiner ebenfalls als Flüchtling anerkannten Ehefrau und den gemeinsamen Kindern hinreichend in den Blick genommen und in die Entscheidung eingestellt, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Der Umstand, dass inzwischen eine Mitteilung des Bundesamtes an die Beklagte ergangen ist, wonach im Fall des Klägers die Voraussetzungen nach § 73 AsylVfG nicht vorliegen, bedeutet für die streitige Festsetzung einer Sperrfrist (wohl) ebenso wenig eine entscheidungserhebliche Änderung der maßgeblichen Sachlage wie die Tatsache der weiteren Verfestigung des Aufenthaltsstatus der Familienmitglieder des Klägers. Schließlich hat das Verwaltungsgericht zutreffend darauf verwiesen, dass bereits vor der Befristungsentscheidung vom 2. Dezember 2008 durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts klargestellt war, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Verbindung mit Art. 6 GG im Einzelfall eine Befristung der Sperrwirkung einer Ausweisung nach § 11 Abs. 1 AufenthG ohne vorherige Ausreise des Ausländers gebieten könne (BVerwG, U.v. 4.9.2007 – 1 C 43.06 – juris Rn. 28 und Ls. 4.).

Ein Anspruch des Klägers auf Neubemessung der Sperrfrist in Bezug auf die Wirkung seiner Ausweisung könnte sich jedoch mit Blick auf das Gewicht des bei ihm vorliegenden Ausweisungsgrundes und den mit seiner Ausweisung verfolgten spezialpräventiven Zweck ergeben. Diesem Gesichtspunkt hat das Verwaltungsgericht jedoch im Rahmen seiner vorläufigen Prüfung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung nicht hinreichend Rechnung getragen. Denn bei der Bemessung der Sperrfrist sind nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Dabei bedarf es der prognostischen Einschätzung, wie lange das Verhalten des Klägers, das – wie hier – der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12 – juris Rn. 32). Demgemäß dürfen die Sperrwirkungen der Ausweisung nur aufrechterhalten werden, solange die genannten Zwecke dies rechtfertigen. Die Ausweisungsverfügung der Beklagten vom 24. Januar 2008 ist beim Kläger allein mit dem spezialpräventiven Zweck begründet worden, weitere Straftaten durch ihn im Inland zu vermeiden und damit die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu wahren. Inwieweit dieser spezialpräventiven Zweck beim Kläger, der soweit ersichtlich seither nicht mehr (einschlägig) strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, im hier maßgeblichen Zeitpunkt bereits ganz oder teilweise erreicht ist, kann nicht lediglich anhand einer nur summarischen Prüfung im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden, sondern bedarf der Klärung im Hauptsacheverfahren. [...]