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VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 19.11.2013 - Au 6 K 13.30251 - asyl.net: M21617
https://www.asyl.net/rsdb/M21617
Leitsatz:

Auch die regelmäßige einfache Teilnahme an Protestkundgebungen und Demonstrationen kann in Aserbaidschan zu politischer Verfolgung führen.

Schlagwörter: Aserbaidschan, Demonstrationen, Demonstranten, Opposition, politische Verfolgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat seine Verfolgungsgründe im Rahmen seiner informatorischen Befragung durch das Gericht substantiiert, schlüssig und mit zahlreichen individuellen Einzelheiten geschildert. Dabei wirkte der Kläger zu keinem Zeitpunkt bemüht, sein Vorbringen zweckgerichtet zu steigern. Vielmehr beschrieb er sich, wie bereits bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt, als einfachen Teilnehmer von Demonstrationen und Kundgebungen in den Jahren 2011 und 2012 ohne besondere organisatorische Aufgaben. Sein Beitrag beschränkte sich auf das Verteilen von Flugblättern, das Tragen von Transparenten und das Rufen von Parolen. Auch gab der Kläger ganz offensichtlich wahrheitsgemäß an, nie Mitglied einer politischen Partei gewesen zu sein. Seine Rolle und seinen Beitrag im Rahmen der oppositionellen Bewegungen in Aserbaidschan spielte er somit nicht zielgerichtet hoch. Gerade dies lässt seinen Vortrag jedoch nach Auffassung des Gerichts umso glaubwürdiger erscheinen. Der Kläger vermittelte in der mündlichen Verhandlung den Eindruck einer reflektierten Persönlichkeit, die sich mit der politischen und gesellschaftlichen Situation in Aserbaidschan auseinandergesetzt hat und ihren Beitrag zu einem politischen Wandel leisten wollte. Die Beharrlichkeit, die der Kläger an den Tag legte, als er immer wieder an den Kundgebungen der Opposition teilnahm und bewusst das Risiko einer Verhaftung durch die Polizei einging, konnte er auch bei seiner Befragung durch das Gericht nachvollziehbar vermitteln. Er wich Fragen nicht aus und blieb auch bei mehrfachen Nachfragen bei seinen Antworten, ohne sie der Situation anzupassen. Nennenswerte Widersprüche gegenüber dem Vorbringen beim Bundesamt traten nicht auf. Auch erscheint der Umstand, dass der Kläger sich die Folgen seines Handelns nicht immer bereits vorab bewusst vor Augen geführt hat, sondern er etwa nach seiner Teilnahme an der letzten Demonstration eher spontan nach einem Telefonat mit seiner Mutter entschieden hatte, nicht mehr nach Hause zurück zu gehen, durchaus realitätsnah. Hinzu kommt, dass der Kläger bereits bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt und nochmals vor Gericht detailliert Misshandlungen durch die Polizei geschildert hatte. Dabei sei ihm einmal eine Flasche an den Kopf geschlagen wurden, einmal sei er gegen eine Fensterscheibe gestoßen worden. Dieses Vorbringen wird durch Narben des Klägers an der Stirn und an den Händen belegt.

bb) Das Gericht ist deshalb der Überzeugung, dass der Kläger vorverfolgt aus Aserbaidschan ausgereist ist und ihm bei einer Rückkehr staatliche Verfolgungsmaßnahmen, welche im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen sind, drohen. Dies ergibt sich aus seinem Eintreten für die oppositionelle Bewegung in Aserbaidschan.

Der Kläger konnte darlegen, dass er aktiv für die oppositionelle Bewegung und gegen die Regierung eingetreten ist. Deshalb ist er, wovon das Gericht nach Durchführung der mündlichen Verhandlung überzeugt ist, in das Visier der aserbaidschanischen Polizei geraten. Der Kläger nahm in den Jahren 2011 und 2012 an zahlreichen Kundgebungen teil. Dabei wurde er jedes Mal festgenommen oder nach der Kundgebung von zu Hause abgeholt. Auch wenn der Kläger nach eigenen Angaben nie länger als bis Mitternacht auf der jeweiligen Polizeistation festgehalten wurde, überschreitet das Verhalten der Polizei im Fall des Klägers die Grenze zur asylerheblichen Intensität. Der Kläger wurde nicht nur regelmäßig festgenommen, für einige Stunden festgehalten und befragt, er wurde auch mehrfach körperlich misshandelt. Dies belegen nicht zuletzt die Narben des Klägers. Freigelassen wurde der Kläger immer nur, nachdem sein Bruder ein Bestechungsgeld für ihn bezahlt hatte. Die vom Kläger geschilderten Vorkommnisse sind deshalb auch nicht mehr als reine Ermittlungsarbeit der Verfolgungsbehörden anzusehen, sie überschreiten vielmehr die Grenze zur politischen Verfolgung. Dabei lassen sich die menschenrechtswidrigen Übergriffe durch die Polizisten auch nicht auf einen Exzess einer einzelnen Amtsperson reduzieren. Vielmehr befand sich der Kläger immer wieder auf verschiedenen Polizeidienststellen, je nachdem, wo die Kundgebung stattfand. Sehr anschaulich schilderte der Kläger auch das Klima der Angst und Einschüchterung, das um ihn herum aufgebaut wurde. Mutter und Bruder wurden nicht nur zuhause, sondern auch an der Arbeitsstelle belästigt und bedrängt. Der Kläger sollte auf den Polizeidienststellen Dokumente unterschreiben, deren Inhalt er nicht lesen durfte. Wenn er sich widersetzte, wurde er geschlagen. Der Kläger war ganz offensichtlich als regelmäßiger Demonstrant und Sympathisant der Opposition in das Visier der Sicherheitsbehörden geraten. Auch wenn er nicht Mitglied einer Oppositionspartei war, beschrieb er sich glaubhaft als aktiven Demonstrationsteilnehmer. Der Kläger gab an, keine Angst gehabt zu haben und seine Parolen auch noch gerufen zu haben, wenn die Polizei schon da war. Er habe sich nicht einschüchtern lassen. Gerade dieses Verhalten hob ihn offenbar aus der Masse der Mitdemonstranten nochmals heraus und führte dazu, dass der Kläger bei jeder Kundgebung von der Polizei mitgenommen wurde. Er war somit "polizeibekannt" und stand unter ständiger Beobachtung. Dass auch Sympathisanten von Oppositionsparteien, die sich öffentlich, z.B. bei nicht genehmigten Kundgebungen, zu regierungskritischen Positionen bekannt haben, staatlicher Repression ausgesetzt sein können, ergibt sich auch aus dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Aserbaidschan vom 12. März 2013 (Lagebericht, S. 8). Vor diesem Hintergrund ist das Verhalten des Klägers nach der letzten Teilnahme an einer Demonstration am 22. Mai 2012 durchaus nachvollziehbar. Obwohl er bereits am Tag vorher verhaftet und misshandelt worden war, wollte der Kläger aus Solidarität mit den anderen Demonstranten und insbesondere aus seiner politischen Überzeugung heraus erneut gegen die Regierung demonstrieren. Nachdem er jedoch von seiner Mutter gewarnt worden war, dass die Polizei wieder zuhause nach ihm gefragt hatte, sah der Kläger keine Möglichkeit mehr, nach der Demonstration nach Hause zurückzukehren. Er musste ähnliche oder noch schwerere Misshandlungen als am Vortag befürchten. Deshalb flüchtete er sich zu einem Freund. Der Umstand, dass er mit diesem gemeinsam noch vier Monate an der Renovierung eines Hochhauses mitarbeitete, spricht nicht gegen den Kläger. Zum einen hatte der Kläger zunächst, was durchaus nachvollziehbar ist, noch keinen konkreten Plan, wie es weitergehen sollte. Ihm war nur klar, dass er nicht nach Hause zurück konnte. Zum anderen hatte der Kläger keinen Personalausweis, nachdem ihm dieser von der Polizei abgenommen worden war und er brauchte Geld für die Ausreise. Mit der Tätigkeit für seinen Freund konnte er den noch fehlenden Betrag erarbeiten. Nach Auffassung des Gerichts spricht auch der Umstand, dass der Kläger während der vier Monate vor seiner Ausreise nicht von der Polizei aufgegriffen wurde, nicht gegen den Verfolgungsdruck, dem er sich ausgesetzt sah. Der Kläger trug glaubhaft vor, er habe während dieser Zeit ausschließlich in dem Rohbau gelebt, in dem er auch gearbeitet habe. Er sei aus Furcht nie nach draußen gegangen. Nachdem es sich um eine größere Baustelle mit vielen Arbeitern handelte, ist nicht verwunderlich, dass der Kläger sich dort für eine gewisse Zeit unentdeckt aufhalten konnte.

Die Verfolgung des Klägers durch die aserbaidschanischen Behörden knüpft an die ihm zugeschriebene, regierungsfeindliche Grundhaltung an, die er regelmäßig bei seiner Teilnahme an Kundgebungen öffentlich zum Ausdruck gebracht hat. Eine inländische Fluchtalternative bestand und besteht für den Kläger nicht. Auch im Falle einer Rückkehr nach Aserbaidschan kann nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass es zu keiner erneuten Verhaftung oder Bedrohung des Klägers kommen wird. Der Kläger machte in der mündlichen Verhandlung deutlich, dass die Behörden nach wie vor bei seiner Mutter und seinem Bruder nach ihm fragen würden. Es ist deshalb nach Auffassung des Gerichts ausgeschlossen, dass der Kläger unbemerkt von den Behörden wieder nach Aserbaidschan einreisen könnte. Vielmehr stünde der Kläger voraussichtlich umgehend wieder unter Beobachtung der Sicherheitsbehörden und hätte mit Verfolgungshandlungen zu rechnen.

Die Voraussetzungen für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG liegen daher vor. [...]