VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 11.10.2013 - AN 11 K 13.30455 - asyl.net: M21629
https://www.asyl.net/rsdb/M21629
Leitsatz:

In der Provinz Nangarhar in Afghanistan ist eine konkrete individuelle Gefahr im Rahmen des bewaffneten Konflikts durch die bloße Anwesenheit insbesondere im Distrikt Sorkhrod anzunehmen.

Schlagwörter: innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Afghanistan, erhebliche individuelle Gefahr, Beweiserleichterung, Vorverfolgung, interner Schutz, interne Fluchtalternative, Nangarhar,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, RL 2004/83/EG Art. 15 c, AufenthG § 60 Abs. 11, RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Nach diesen Grundsätzen kann vorliegend unter Beachtung der oben genannten Voraussetzungen bei entsprechend wertender Betrachtung der Auskunftslage und der vorliegenden Rechtsprechung ein bewaffneter Konflikt im vorgenannten Sinn in der Herkunftsregion/Heimat des Klägers und weiter auch eine individuelle Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit durch die bloße Anwesenheit dort angenommen werden. Nach eigenen Angaben war der Kläger vor der Ausreise aus Afghanistan zuletzt im Dorf Sheikh Mesri/Distrikt Sourkhrod (Surkh Rod)/Provinz (velayat) Nangarhar wohnhaft bzw. soll dort noch ein Freund seines Vaters leben, bei dem er früher gelebt habe. Hierauf ist in diesem Zusammenhang abzustellen, weil dem Kläger in erster Linie eine Rückkehr dorthin zuzumuten ist.

Nach den genannten Berichten des UNHCR, des AA und der SFH und nach der detaillierten Lageanalyse von D-A-C-H Kooperation Asylwesen liegt der Schwerpunkt der Kampfhandlungen im Süden und Osten und vermehrt auch im Norden des Landes. Im Osten des Landes hält die Infiltration islamischer Kräfte insbesondere Taliban aus dem pakistanischen Siedlungsgebiet der Paschtunen ungebrochen an. Neben den Taliban sind dort andere Regierungsgegner wie die Hezb-e Islami von Gulbuddin Hekmatyar und das Haqqani-Netzwerk aktiv. Eine ganze Anzahl von Distrikten dort (Khogyani, Pacheer wa Agam, Deh Bala, Naziyan, Shirzad und Chaparhar) dürfte als unsicher einzustufen sein. Anderes gilt aber für Jalalabad Stadt, das von der Hezb-e Islami des verstorbenen Younis Khalil bzw. jetzt von seinen Nachfolgern beherrscht wird und insoweit als relativ sicher gilt. Betroffen vom bewaffneten Konflikt sind vor allem die Distrikte Surkhrud, Behsud und Rodat (D-A-CH Kooperation Asylwesen von März 2011). Insgesamt werde die Anzahl der zivilen Opfer durch einen bewaffneten Konflikt provinzweit zwar als durchschnittlich eingeschätzt. Nach den Berichten der UNAMA gab es 2009 in der Ostregion diesbezüglich 252, das erste Halbjahr 2010 119 und das gesamte Jahr 2010 243 zivile Tote. Nach dem Bericht der AIHRC über die ersten sieben Monate des Jahres 2010 wurden insgesamt 1325 solcher ziviler Zwischenfälle gemeldet, davon 238 aus der Ostprovinz. Nach dem dritten bzw. vierten Quartalsbericht 2010 des ANSO hat die Zahl der Angriffe Aufständischer in der Provinz Nangarhar in diesem Zeitraum in Bezug zum Vergleichszeitraum von 243 auf 389 (Steigerung um 60%) bzw. von 295 auf 504 (Steigerung um 71%) zugenommen. Nach dem ersten bis vierten Quartalsbericht 2011 des ANSO hat die Zahl der Anschläge Aufständischer dort wieder zugenommen, und zwar von 392 auf 427 (+9%) bzw. von 505 auf 551 (+9%). Nach dem vierten Quartalsbericht 2012 hat sich die Anzahl der Anschläge im Jahr 2012 um 167 auf 724 (um 30 %) erhöht. Diese Tendenz wird auch im ersten Quartalsbericht 2013 bestätigt (vergleichbarer Anstieg um 81%). Schwerpunkt der Vorfälle sind neben ländlichen Distrikten auch Jalalabad Stadt, auch wenn es dort überwiegend zu Anschlägen und Attentaten und keiner langfristigen Einflussnahme der Aufständischen kommt. Die Provinz Nangarhar wird daher mit dem zweithöchsten Grad als "highly insecure" (höchst unsicher) bzw. "high" (hoch) mit ein bis drei Anschlägen täglich eingestuft. Nach einer Zusammenstellung der Anzahl der Binnenvertriebenen nach ihrer Ursprungsprovinz in einem Bericht der Vertretung des UNHCR in Afghanistan von Juli 2012 (dort S. 13) wurden zum Stichtag (31. Mai 2012) in der Provinz Nangarhar insgesamt 23.136 Binnenvertriebene gezählt. Die Provinz liegt damit insoweit an sechster Stelle der "top ten" (dort S. 12). Auch in Anbetracht einer amtlich geschätzten Gesamtbevölkerung in der Provinz von über 1.350.000 Millionen Menschen, davon über 124.000 im Distrikt Sorkhrod ist eine konkrete individuelle Gefahr im vorgenannten Sinn durch die bloße Anwesenheit gerade im Distrikt Sorkhrod daher nach Überzeugung des Gerichts anzunehmen (aA BayVGH, U.v. 1.2.2013 – 13a B 11.30515, v. 15.3.2013 – 13a B 12.30406 und v. 22.3.2013 – 13a B 12.30044 – juris).

Unabhängig hiervon hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2013 vorgetragen, vor seiner Ausreise bereits durch den dort bestehenden bewaffneten Konflikt bedroht gewesen zu sein. So gab er an, dass er im Jahr 2010 ein- bis zweimal persönlich Kämpfe zwischen den Taliban und den Amerikanern erlebt habe. Die Taliban hätten auf amerikanische Konvois geschossen und die Amerikaner mit Panzern zurückgeschossen. Daher kann sich der Kläger hier auf die vorgenannte Beweiserleichterung berufen.

Sicherheit vor diesen Kämpfen kann er nicht von Seiten der ISAF oder der afghanischen Sicherheitskräfte erwarten, die in den Kämpfen die Taliban allenfalls zurückdrängen und schwächen können. Der Kläger kann, abgesehen davon, dass insoweit eine landesweite Gefährdung nicht vorausgesetzt wird, hier auch nicht auf eine interne Schutzmöglichkeit, insbesondere auch nicht in der Hauptstadt Kabul, verwiesen werden, da eine Existenzmöglichkeit außerhalb seiner Heimat nicht mit der erforderlichen hinreichenden Sicherheit angenommen werden kann.

Nach dem gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG anwendbaren Art. 8 Abs. 1 QRL benötigt ein Drittausländer keinen internationalen Schutz, sofern in einem Teil des Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, wobei die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL zu beachten ist (BVerwG vom 5.5.2009, zitiert nach juris), besteht und vom Drittausländer vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Dabei sind nach Abs. 2 die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände (vgl. Art. 4 Abs. 3 c QRL) des Drittausländers zu berücksichtigen. Damit wird die Nachrangigkeit des Schutzes verdeutlicht. Der Drittausländer muss am Zufluchtsort aber eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinden d.h. es muss zumindest (in faktischer Hinsicht) das Existenzminimum gewährleistet sein, was er unter persönlich zumutbaren Bemühungen sichern können muss. Dies gilt auch, wenn im Herkunftsgebiet die Lebensverhältnisse gleichermaßen schlecht sind. Unerheblich ist, ob eine Gefährdung am Herkunftsort in gleicher Weise besteht. Darüber hinaus ist auch erforderlich, dass das Zufluchtsgebiet für den Drittausländer erreichbar ist (BT-Drks. 16/5065 S. 185; BVerwG vom 31.8.2006 und vom 29.5. 2008, zitiert nach juris).

Über die Voraussetzungen eines solch internen Schutzes oder einer inländischen Fluchtalternative berichten die Auskunftsstellen wie folgt: Nach dem Auswärtigen Amt hängt ein Ausweichen einer Person im Land vor einer möglichen Gefährdung maßgeblich von dem Grad ihrer sozialen Vernetzung sowie von der Verwurzelung in Familienverband oder Ethnie ab (ständige Lageberichterstattung, zuletzt vom 10.1.2012). Der UNHCR geht davon aus, dass eine interne Schutzalternative grundsätzlich nicht gegeben ist. Bei Verfolgung durch lokale Kommandeure und bewaffnete Gruppen seien diese oftmals in der Lage, ihren Einfluss aufgrund ihrer Verbindungen zu mächtigeren Akteuren auch auf zentraler Ebene über die lokalen Gebiete hinaus auszudehnen, wobei staatliche Behörden größtenteils keinen Schutz gewährleisten können. Vielmehr stellen erweiterte Familien- oder Gemeinschaftsstrukturen innerhalb der afghanischen Gesellschaft die vorwiegenden Mittel für Schutz, wirtschaftliches Überleben sowie Zugang zu Wohnmöglichkeiten dar, weshalb eine Umsiedlung voraussetze, dass solche tatsächlichen Verbindungen dort bestehen (Stellungnahme von Januar 2008, vom 10.11.2009 und vom 30.11. 2009 an BayVGH). Nach der Schweizerischen Flüchtlingshilfe sind ein gutes Familiennetz sowie zuverlässige Stammes- oder Dorfstrukturen die wichtigste Voraussetzung, um bei einer Rückkehr sicher und auch wirtschaftlich überleben zu können. Sozialversicherungen existieren in Afghanistan nicht. Oftmals stoßen Rückkehrer wegen nicht gelöster Landfragen auf erhebliche Probleme (Updates vom 21.8.2008, vom 11.8.2009, vom 11.8.2010, vom 23.8.2011 und vom 3.9.2012). Nach der COI des Danish Immigration Service von Mai 2012 wird Kabul als relativ sicherer Aufenthalt angesehen. Eine persönliche Gefährdungsgefahr hängt vom Profil der Person und der Art des Konflikts ab, vor dem die Person geflohen ist. Schutz wird nicht beim afghanischen Staat, sondern in der eigenen Ethnie nach familiären Beziehungen und der Stammeszugehörigkeit gesucht. Die Lebensbedingungen in Kabul sind hart. Der Zugang zur Arbeit und damit zu einer Existenzmöglichkeit ist schwierig, aber nicht ausgeschlossen, insbesondere für junge unverheiratete Männer.

Bei Bewertung und Würdigung dieser Auskunftslage ist das Gericht der Auffassung, die Verweisung auf eine andere Gegend als die Herkunftsgegend oder die Heimat grundsätzlich nur dann zumutbar ist, wenn dorthin familiäre oder stammesbezogene Verbindungen bestehen oder unabhängig davon auf andere Weise eine Existenzmöglichkeit besteht. Bestand - wie hier - bereits in der Heimat (und im Fall der Rückkehr dort) ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt mit erheblicher individueller Gefahr für Leib oder Leben, führt die auch hier anwendbare Beweiserleichterung zu dem Ergebnis, dass die Existenzmöglichkeit außerhalb der Heimat dem Maßstab der hinreichenden Sicherheit gerecht zu werden hat.

Nach diesen Grundsätzen ist es nicht hinreichend sicher, dass der Kläger Verwandte oder Stammeszugehörige in anderen als sicher geltenden Landesteilen hätte, die ihn aufnehmen würden, oder ohne eine solche Unterstützung eine reale Existenzgrundlage - etwa aufgrund seiner Arbeitskraft - dort hätte. [...]