VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 20.02.2014 - A 7 K 4000/13 - asyl.net: M21658
https://www.asyl.net/rsdb/M21658
Leitsatz:

In Nigeria herrscht ein Klima der gewaltbereiten Verachtung und des Hasses auf Homosexuelle. Da Homosexualität in Nigeria illegal ist, bieten die Behörden keinen Schutz vor gewalttätigen Übergriffen. Homosexuellen, die als solche bemerkbar sind, droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Homosexualität, homosexuell, Nigeria, Änderung der Sachlage, Verschärfung, Gesetzesänderung, Asylfolgeantrag, Strafbarkeit, Strafverfolgungspraxis, Auswärtiges Amt,
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 71, AsylVfG § 71 Abs. 1, VwGO § 51 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 Abs. 1 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9.10.2013 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten; Nr. 1 des Bescheids ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 Abs. 1 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG.

Da der Kläger bereits ein Asylverfahren erfolglos durchlaufen hat, setzt ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zunächst voraus, dass ein beachtlicher Folgeantrag im Sinne des § 71 AsylVfG vorliegt. [...]

Soweit sich der Kläger auf drohende Verfolgung wegen seiner Homosexualität beruft, sind die Voraussetzungen des § 71 AsylVfG in Verbindung mit § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens im hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) erfüllt. Der Kläger macht geltend, nach Abschluss des Asylerstverfahrens seien die Strafvorschriften für homosexuelle Handlungen verschärft worden; außerdem sei die Strafverfolgungspraxis intensiviert worden. Er stützt sich dabei auf verschiedene von ihm vorgelegte Medien- und Presseberichte zur Kriminalisierung von Homosexualität in Nigeria. Damit ist eine Änderung der Sachlage schlüssig dargetan. Mit dem neuen Vortrag wird die (unterstellte) Bewertung im Asylerstverfahren, der Kläger habe allein wegen seiner homosexuellen Neigungen keine Verfolgung zu befürchten, in einer Weise angegriffen, dass zumindest Zweifel an der Gültigkeit der entsprechenden Feststellungen möglich sind. Nach der Auskunftslage bei Abschluss des Asylerstverfahrens waren Homosexuelle in Nigeria zwar Diskriminierungen und Anfeindungen aufgesetzt; von einer strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Handlungen wurde allerdings nicht berichtet (vgl. AA, Lageberichte vorn 11.3.2010 und 7.3.2011). Da die Medien- und Presseberichte im Zeitraum vom 13.1.2014 bis 16.1.2014 erschienen sind, ist die neue Sachlage auch innerhalb der Drei-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG geltend gemacht worden.

Wegen seiner homosexuellen Neigungen droht dem Kläger nunmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Die Beklagte ist deshalb nach § 3 Abs. 1 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Homosexuelle sind in Nigeria Diskriminierung und Anfeindungen ausgesetzt. In Nigeria ist Homosexualität strafbar, wenn sie privat oder öffentlich praktiziert wird (vgl. AA, 15.11.2012 an VGH Baden-Württemberg; SFH, Nigeria: Homosexualität, 24.10.2012; ai, 9.11.2012 an VGH Baden-Württemberg). Die Art der Strafverfolgung und die Schärfe der Verurteilung sind abhängig von dem Gebiet bzw. dem Bundesstaat, in dem der Tatbestand begangen wurde bzw. behandelt wurde. In den südlichen Bundesstaaten Nigerias kann ein solches Vorgehen mit sieben bis vierzehn Jahren Gefängnis bestraft werden. In den nördlichen Bundesstaaten Nigerias, die die Scharia übernommen haben, drohen Gefängnis, zwischen 40 und 100 Peitschenhieben oder die Todesstrafe durch Steinigung. Allerdings wurden bisher alle von den erstinstanzlich zuständigen Scharia-Gerichten verhängten Steinigungsurteile im Rechtsmittelverfahren aufgehoben. Nach der Stellungnahme von Amnesty International vom 11.2.2003 an, das VG Oldenburg gab es in der Vergangenheit keine verlässlichen Hinweise darauf, dass die Homosexualität unter Strafe stellenden Vorschriften tatsächlich zur Anwendung kommen. Die Praxis im Umgang mit Homosexuellen dürfte sich allerdings ab 2006 verschärft haben (vgl. Bundesamt, Informationszentrum für Asylmigration: Homosexualität in Nigeria, März 2007).

Nach der übereinstimmenden Erkenntnislage herrscht in Nigeria ein allgemeines Klima der gewaltbereiten Verachtung und des Hasses auf Homosexuelle, das Gewalt und Erpressung gegen homosexuelle Personen begünstigt. Da in Nigeria Homosexualität illegal ist, bietet die nigerianische Regierung bzw. deren Behörden keinen besonderen Schutz für Homosexuelle an. Gewalttäter gegen Homosexuelle werden kaum strafrechtlich verfolgt (vgl. AA, 15.12.2012 an VGH Baden-Württemberg; SFH vom 24.10.2012; ai, 9.11.2012 an VGH Baden-Württemberg). Daher besteht für solche Personen, die offen ihre homosexuelle Veranlagung ausleben und damit öffentlich als Homosexuelle bemerkbar sind, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 7.3.2013 A 9 S 1873/12 -, juris).

Der Kläger gehört zu dem Kreis der öffentlich als Homosexuelle bemerkbaren Personen. Beim Bundesamt legte der Kläger die Zusammenfassung einer Radiosendung des "Freien Radios" in Mannheim vom 20.3.2012 vor. In dieser Sendung, in der der Kläger namentlich vorgestellt wurde, berichtete der Kläger öffentlich von seiner Homosexualität und schilderte seine Befürchtungen für den Fall der Rückkehr nach Nigeria. Im ebenfalls vorgelegten Schreiben des Oberbürgermeisters von Schwäbisch Gmünd vom 24.9.2012 wird das Engagement des Klägers für homosexuelle Menschen in Nigeria gewürdigt und dem Kläger für seinen Einsatz zu Gunsten der Stadt Schwäbisch Gmünd und seiner Bürger und Einwohner gedankt. Der Berichterstatter hat nach alledem keinen Zweifel, dass der Kläger auch in der Öffentlichkeit als Homosexueller in Erscheinung tritt. Nach dem Ausgeführten droht dem Kläger daher in Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG. [...]