VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 30.09.2013 - M 23 K 11.30204 - asyl.net: M21665
https://www.asyl.net/rsdb/M21665
Leitsatz:

Landstreitigkeiten führen in Afghanistan oftmals zu großen Fehden und Kämpfen, besonders zwischen Familien, die sich wegen Ländereien töten, da es bei diesen um Ehre und Stolz geht.

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungsverbot, erhebliche individuelle Gefahr, Landstreitigkeiten, Grundbesitz, Fehde, Selbstjustiz, Ghazni, Ältestenrat, Schura, familiärer Konflikt, Land,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Für den Kläger besteht nach Überzeugung des Gerichts in seinem Herkunftsland auf der Grundlage seines Vorbringens eine individuelle erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung.

Unter Berücksichtigung seines Herkommens, seines Bildungsstands und seines Alters hält das Gericht den Vortrag des Klägers für glaubhaft. Der Kläger hat sowohl bei der Anhörung vor dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen übereinstimmende Angaben zu seinem Fluchtgrund gemacht und auch Einzelheiten der Vorfälle wiedergegeben. Er hat in der mündlichen Verhandlung die Geschehnisse nochmals im Wesentlichen geschildert und verbliebene Unklarheiten nachvollziehbar erläutert. Zwar erfolgte der Vortrag des Klägers überwiegend auf Fragen bzw. Nachfragen des Gerichts, jedoch machte der Kläger in der mündlichen Verhandlung einen äußerst verschüchterten Eindruck und der aus sehr einfachen Verhältnissen stammende Kläger wäre wohl auch im Hinblick auf seine gänzlich fehlende Schulbildung zu einem flüssigen und zusammenhängenden Vortrag über die Vorfälle in Afghanistan nicht in der Lage gewesen. Das Gericht ist daher aufgrund des Vorbringens des Klägers und des persönlichen Eindrucks, den es in der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewinnen konnte, davon überzeugt, dass sich die vom Kläger geschilderten Ereignisse tatsächlich zugetragen haben und er das geschilderte Geschehen, soweit es ihn betraf, selbst erlebt hat. Demnach ist davon auszugehen, dass es zwischen dem Vater des Klägers und dessen vier Cousins zu einem Streit um das Land des Vaters gekommen war und der Kläger nach dem Tod des Vaters selbst hiervon betroffen war. Im Verlauf dieses Streits kam es eines Tages zu einer persönlichen Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und seinem Bruder auf der einen Seite sowie den vier Cousins des Vaters auf der anderen Seite. Dabei erschoss der Bruder des Klägers zwei der Cousins des Vaters und der Bruder wurde anschließend erschlagen. Der Kläger selbst konnte zunächst flüchten, wurde dann jedoch von Bekannten der Cousins des Vaters festgenommen und in einen Stall gesperrt. Dort wurde er ca. drei Monate lang festgehalten und dabei auch körperlich misshandelt, bis ihm schließlich die Flucht gelang. Da der Kläger auch bereits bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt vorgetragen hatte, dass der Ältestenrat bzw. die Ältesten des Dorfes eingeschaltet worden waren, um den Streit zu schlichten, ist es auch plausibel, dass diese auch – wie der Kläger vorgetragen hat – mit dem weiteren Schicksal des Klägers nach dessen Festnahme befasst waren. Dies hatte der Kläger bereits bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt angesprochen und hierzu ausgeführt, dass die Ältesten die verfeindete Familie aufgefordert hätte, mit dem Streit aufzuhören, diese jedoch keine Ruhe gegeben und gesagt hätte, dass zwei von ihnen tot seien und zwei von der Familie des Klägers ebenfalls umgebracht werden müssten. Der Kläger hat hierzu in der mündlichen Verhandlung nochmals nachvollziehbar vorgetragen, dass die Dorfältesten (während der Inhaftierung des Klägers) versucht hätten, eine Lösung zu finden, aber die Ansicht (auch von Seiten der Dorfältesten) bestanden habe, dass der Kläger hingerichtet werden solle. Demnach ist es auch nachvollziehbar, dass der Kläger über längere Zeit inhaftiert war, da von den Dorfältesten über sein Schicksal noch zu entscheiden war. Somit kann es – entgegen der vom Bundesamt im angefochtenen Bescheid geäußerten Auffassung – nicht als zwangsläufig angesehen werden, dass der Kläger bereits zuvor von Seiten der verfeindeten Familie im Wege der Selbstjustiz umgebracht worden wäre. Auch ist vor diesem Hintergrund nicht – wie offenbar nach Auffassung des Bundesamts – zwangsläufig davon auszugehen, dass der Kläger (an einem geheimen Ort) versteckt gehalten wurde. Ebenso ist nachvollziehbar, weshalb von Seiten der Familie des Klägers keine Polizei eingeschaltet wurde, solange die Dorfältesten mit der Angelegenheit befasst waren. Weiterhin ist es auch nicht unglaubhaft, wenn der Kläger vorträgt, er habe zur Finanzierung seiner Ausreise das Land im Iran weiterverkauft, obwohl dieses von der verfeindeten Familie besetzt bzw. für sich beansprucht wurde. So hat er in der mündlichen Verhandlung hierzu ausgeführt, dass der Käufer von dem Streit um das Land nichts gewusst habe. In Afghanistan gibt es auch kein Grundstückskataster und keine strengen Formvorschriften (vgl. hierzu "Thema Landstreitigkeiten": Danish Immigration Service, Afghanistan, Country of Origin Information for Use in the Asylum Determination Process, Report from Danish Immigration Service`s fact finding mission to Kabul, Afghanistan, Mai 2012, S. 40 ff.).

Die Ausführungen des Klägers werden auch von der Auskunftslage gestützt. Landstreitigkeiten führen in Afghanistan oftmals zu großen Fehden und Kämpfen, besonders zwischen Familien, die sich wegen Ländereien töten, da es bei diesen um Ehre und Stolz geht (vgl. Danish Immigration Service, a.a.O., S. 42). Nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts funktionieren Verwaltung und Justiz nur sehr eingeschränkt. Eine einheitliche Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (kodifiziertes Recht, Scharia, Gewohnheits-/ Stammesrecht) ist nicht gegeben. Auch rechtsstaatliche (Verfahrens-) Prinzipien werden längst noch nicht überall eingehalten (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistans – Lagebericht – vom 4.6.2013, Stand: März 2013, S. 4). Neben dem formellen staatlichen Gerichtswesen besteht weiterhin die informelle traditionelle Gerichtsbarkeit. Vor allem auf dem Land wird die Richterfunktion weitgehend von lokalen Räten (Schuras) wahrgenommen. Einigkeit über die Gültigkeit und Anwendbarkeit von kodifizierten Rechtssätzen besteht meist nicht; mangelnde Rechtskenntnis und die mangelnde Fähigkeit zur Auslegung verschärfen die Situation. Grundsätze eines fairen Verfahrens nach rechtsstaatlichen Prinzipien werden von Gerichten oftmals nicht beachtet. Tatsächlich nehmen Gerichte, soweit sie ihre Funktion ausüben, eher auf Gewohnheitsrecht, auf Vorschriften des islamischen Rechts (Scharia) und auf die (nicht selten willkürliche) Überzeugung des einzelnen Richters Bezug als auf staatliche säkulare Gesetze. Viele Fälle werden schlicht durch das Recht des Stärkeren geregelt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 10.1.2012, Stand: Januar 2012, S. 8). Insbesondere in ländlichen Systemen ist das Justizsystem schwach ausgebildet, was dazu führt, dass sich die ländliche Bevölkerung sowohl in zivilen als auch in kriminellen Angelegenheiten an traditionelle Schlichtungsmechanismen wendet (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, 3.9.2012, S. 12). Gerade auch Landstreitigkeiten werden traditionell von den örtlichen Schuras bzw. Ältesten geregelt, denen die Bevölkerung mehr traut als dem formellen Justizsystem. Daneben sind diese auch viel schneller und preiswerter. Deshalb zieht es die Mehrheit vor, Streitfälle über das Gesetz der Scharia zu erledigen, was sie im Vergleich zur Justiz als besseren Weg zur Konfliktlösung sehen. Streitigkeiten innerhalb der Gemeinschaft sind nicht so exponiert und werden auch aus diesem Grund vor Ort entschieden. Nach dem "Afghanistan Human Development Report 2007" werden bei Landstreitigkeiten 80% der Fälle von der Schura gelöst und nur 20% vor Gericht gebracht (vgl. Danish Immigration Service, a.a.O., S. 41f.). Der Kläger stammt nach seinen Angaben auch aus einem ländlichen Gebiet, so dass es auch aus diesem Grund glaubhaft ist, dass der Streit von den Dorfältesten geschlichtet werden sollte. In der Provinz Ghazni leben neun von zehn Einwohnern in ländlichen Gebieten Mehr als die Hälfte der Provinz besteht aus gebirgigem und semi-gebirgigem Land. Nur etwas mehr als ein Drittel sind flaches Land (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration; Afghanistan: Zur Sicherheitslage in ausgewählten Provinzen – u.a. Ghazni, April 2009, S. 57). Der nordwestliche Teil der Provinz, aus der auch der Kläger stammt, zählt zum Hazarajat, dem Hauptsiedlungsgebiet der afghanischen Hazara. Der Distrikt Malestan, in dem der Kläger gelebt hat, liegt in einem sehr gebirgigen Gebiet (vgl. D-A-CH Kooperation Asylwesen Deutschland – Österreich – Schweiz, Sicherheitslage in Afghanistan, Vergleich zweier afghanischer Provinzen – Ghazni und Nangarhar – und den pakistanischen Stammesgebieten, S. 4 und Karte auf S. 5).

Das Gericht ist daher davon überzeugt, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr eine konkrete Gefahr für Leib und Leben von Seiten der verfeindeten Familie oder auch von Seiten des Ältestenrats droht. [...]