Kliniken in Armenien, in denen die Behandlung kostenlos sein soll, sind finanziell nur unzureichend ausgestattet, weshalb sie auch in Fällen, in denen sie zu kostenlosen Behandlung verpflichtet sind, gezwungen sind von den Patienten Geld zu nehmen, auch wenn es ungesetzlich ist.
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Im Hinblick auf die vorgelegten ärztlichen Atteste ergibt sich jedoch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für den Kläger zu 3), so dass der angegriffene Bescheid der Beklagten im Hinblick auf eine Verneinung dieses Abschiebeverbots beim Kläger zu 3) abzuändern und die Beklagte zu verpflichten war, für den Kläger zu 3) ein solches Abschiebungshindernis festzustellen. Einer ausdrücklichen Aufhebung der Ziffer 3 des Bescheids im Hinblick auf den Kläger zu 3) bedurfte es nicht. Vielmehr wird mit einer Verpflichtung der Behörde ein Verwaltungsakt ohne weiteres aufgehoben, soweit er der Verpflichtung entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.5.1987, BayVBl. 1988, 52 , 53; BVerwGE 51, 15, 23). Da bereits aus den vorgelegten fachärztlichen Attesten sich die Voraussetzungen für ein Abschiebungshindernis ergeben, kam es auf die Einholung einer zusätzlichen ärztlichen Stellungnahme nicht mehr entscheidungserheblich an.
Erforderlich, aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist in diesem Zusammenhang, dass sich eine vorhandene Erkrankung auf Grund zielstaatsbezogener Umstände (etwa unzureichender Behandlungsmöglichkeiten oder fehlenden finanziellem Zugang zu einer Behandlung) in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald (nämlich innerhalb eines überschaubaren Zeitraums) nach der Rückkehr des Ausländers droht (BVerwG, Urteil vom 17.10.2006 DVBl 2007, 254; Beschluss vom 24.6.2006 InfAuslR 2006, 485). Die Voraussetzungen für eine wesentliche Verschlimmerung der Krankheit innerhalb eines überschaubaren Zeitraums sind erfüllt.
Der Kläger zu 3) erhielt nach der Einreise die erforderlich gewordene Operation. Für ihn besteht in Armenien statt einer Medikation mit dem dort nicht erhältlichen Marcumar die Möglichkeit, auf das Ersatzmedikament Warfarin oder auf Frischgefrierplasma auszuweichen, wie aus den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Auskünften der Deutschen Botschaft Eriwan vom 13. November 2008 und 30. Juli 2009 folgt. Auch die für diesen Kläger erforderlichen Medikamente Metoprolol und Enalapril stehen in Armenien grundsätzlich zur Verfügung. Weiter bestand zwar bei dem sechzehn Jahre alten Kläger zu 3) schon vor seiner Ausreise im September 2010, nämlich seit seiner Geburt, ein schweres Aortenklappenvitium, das neben den durchgeführten Operationen eine Behandlung und Überwachung und Betreuung notwendig machte, die er, wie sich aus den Angaben der Eltern in der mündlichen Verhandlung ergibt, nur unzureichend erhalten hat. Jedoch ist nunmehr, da Marcumar weiter in Armenien nicht zugelassen ist, auch nach einer Umstellung auf Warfarin eine zusätzliche engmaschige Überwachung notwendig, deren Abbruch dramatische Folgen hätte, etwa lebensgefährliche Blutungen, Thromboisierung der Herzklappe mit Funktionsverlust (vgl. fachärztliche Stellungnahme vom 17.9.2012), so dass mehrfach in der Woche und lebenslänglich eine Laborkontrolle des INR-Wertes erforderlich ist (fachärztliches Attest vom 17.9.2012 und bereits Unsicherheiten im Hinblick auf das Erlangen einer kostenlosen Behandlung sowie Auseinandersetzungen um die Durchsetzung des gesetzlichen Anspruchs (vgl. hierzu den Lagebericht vom 25.1.2013, S. 16) nicht zumutbar sind. Solche wären aber erforderlich, weil die Kläger zu 1) und 2) ihr Vermögen durch die Ausgaben für die frühere Behandlung ihrer Kinder in Armenien und, mit der Veräußerung der Wohnung, für die Ausreise aufgebraucht haben, wie sich aus ihren übereinstimmenden und hinreichend konkreten Angaben in Anhörung und mündlicher Verhandlung ergibt. Weiter haben die Schwestern des Klägers zu 1) sowie die der Klägerin zu 2) eigene Familien mit Kindern, so dass bereits die Ausreise mit dem Verkauf der Wohnung der Kläger finanziert wurde.
Ausschlaggebender Grund für die Annahme einer wesentlichen Verschlechterung ist jedoch die Umstellung selbst. Aus dem dem Gericht am 14.5.2013 vorgelegten Attest des behandelnden Facharztes vom 6. 5. 2013 ergibt sich nämlich, dass bei einer Umstellung von Marcumar auf Warfarin, bei der es häufig zu sehr starken Schwankungen der Antikoagulation (therapeutische Hemmung der Blutgerinnung) kommt, bei jugendlichen Patienten mit schwer kalkulierbaren Folgen zu rechnen ist. Bei zu geringer Wirksamkeit der Medikation kann dies zur Thromboisierung der Klappenprothese führen, was einen lebensbedrohlichen Zwischenfall darstellt und weitreichende Konsequenzen (Todesfolge, Notfalloperation) hätte. Käme es durch eine Medikamentenumstellung zu einer überschießenden Antikoagulation, könnten lebensbedrohliche Blutungen auftreten (z.B. Hirnblutungen). Selbst wenn man dem Kläger zu 3) eine solche Umstellung allein wegen spezifischer arzneimittelrechtlicher Regelungen in Armenien zumuten würde, stellt jedenfalls nach den nachvollziehbaren und in sich schlüssigen Darlegungen im fachärztlichen Attest vom 6.5.2013 eine unkontrollierte Umstellung auf ein anderes Mittel wie Warfarin eine erhebliche Gefahr dar. Es besteht auch die überwiegende Wahrscheinlichkeit einer nicht hinreichend kontrollierten Umstellung. Zwar sieht das armenische Gesetz über die kostenlose medizinische Behandlung Regelungen auch für besonders sozial bedürftige Gruppen vor, wie Kinder, so dass der Kläger zu 3) vorübergehend bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres (Anlage zur Auskunft der Deutschen Botschaft vom 20.7.2009 unter 1 A) noch Anspruch auf eine kostenlose Behandlung hätte. Weiter sollen auch immer mehr Patienten erfolgreich auf dem Recht auf kostenlose Behandlung bestehen, wie die Beklagte im Hinblick auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes ausgeführt hat. Ob dies zutreffend ist, ist aber nicht entscheidungserheblich, so dass der diesbezügliche Beweisantrag abzulehnen war. Denn in Anbetracht des Umstandes, dass Kliniken auch für nach dem Gesetz kostenlose Behandlungen Geld verlangen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25.1.2013 S. 17), ist eine hinreichende Umstellung mit Überwachung und Betreuung nicht sichergestellt. Die daher nach dem Lagebericht (und nach den bisherigen Erfahrungen, die die Kläger machten) erforderlich werdenden Auseinandersetzungen wegen der Pflicht zur kostenlosen Betreuung sind wegen der schon sehr kurzfristig beim Kläger zu 3) zu besorgenden erheblichen Verschlechterungen des Gesundheitszustandes (vgl. Attest vom 6. 5. 2013) nicht geeignet, der Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands zu begegnen. Hinzu kommt, dass der Kläger zu 3) lebenslänglich auf Medikamente angewiesen ist. Zwar sind die beiden weiteren ihm verordneten Medikamente, ebenso wie Warfarin als Ersatz für Marcumar, auf der nationalen Liste wichtiger Medikamente, für die die Versorgung weitgehend auf der Basis der Kostenfreiheit oder zu reduzierten Kosten garantiert sein soll (Botschaftsauskünfte vom 3.3.2011 und 12.3.2010 sowie für Warfarin die Auskunft vom 20.7.2009). Aus der aktuelleren Stellungnahme im Lagerbericht vom 25.1.2013 (S. 17) folgt jedoch, dass die Kliniken, wozu auch die Polikliniken gehören, in denen die Behandlung kostenlos sein soll, finanziell unzureichend ausgestattet sind, um ihren Betrieb und die Ausgabe von Medikamenten sicherzustellen und sie daher auch in Fällen, in denen sie zu kostenloser Behandlung verpflichtet sind, gezwungen sind (was den diesbezüglichen Vortrag der Kläger in der mündlichen Verhandlung bestätigt), von den Patienten Geld zu nehmen, obwohl dies ungesetzlich ist. [...]