VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 30.07.2013 - 6 K 1617/12.GI.A - asyl.net: M21721
https://www.asyl.net/rsdb/M21721
Leitsatz:

Einfache Mitglieder der EDP haben im Falle einer Rückkehr nach Eritrea auch dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen, wenn sie sich in Deutschland lediglich in untergeordneter Weise exilpolitisch für die Partei betätigt haben. Dies gilt auch für Mitglieder der EPDE, die aus dem Zusammenschluss der EDP mit der EPP und der EPM im Januar 2010 entstanden ist. Das Gericht schließt sich damit der Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 27.03.2006 (Az. 9 UE 705/05.A) an, da eine abweichende Beurteilung rechtfertigende Erkenntnisse trotz des inzwischen verstrichenen Zeitraums nicht vorliegen.

Schlagwörter: Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitik, Eritrea, EDP, Eritrean Democratic Party, EPDP, Eritrea Eritrean People's Democratic Party, Mitgliedsausweis, Ausreisevisum, Ausreiseerlaubnis, Desertion, Nationaler Dienst, Militärdienst, legale Ausreise,
Normen: AsylVfG § 3, AsylVfG § 3 Abs. 1, AsylVfG § 4, AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 28 Abs. 1a, AsylVfG § 28,
Auszüge:

M21721, VG Gießen

Art der Entscheidung: Urteil

Datum: 30.07.2013

Aktenzeichen: 6 K 1617/12.GI.A

Normen: AsylVfG § 3, AsylVfG § 3 Abs. 1, AsylVfG § 4, AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 28 Abs. 1a, AsylVfG § 28,

Schlagwörter: Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitik, Eritrea, EDP, Eritrean Democratic Party, EPDP, Eritrea Eritrean People's Democratic Party, Mitgliedsausweis, Ausreisevisum, Ausreiseerlaubnis, Desertion,

Einfache Mitglieder der EDP haben im Falle einer Rückkehr nach Eritrea auch dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen, wenn sie sich in Deutschland lediglich in untergeordneter Weise exilpolitisch für die Partei betätigt haben. Dies gilt auch für Mitglieder der EPDE, die aus dem Zusammenschluss der EDP mit der EPP und der EPM im Januar 2010 entstanden ist. Das Gericht schließt sich damit der Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 27.03.2006 (Az. 9 UE 705/05.A) an, da eine abweichende Beurteilung rechtfertigende Erkenntnisse trotz des inzwischen verstrichenen Zeitraums nicht vorliegen.

[...]

Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, oder wegen seiner politischen Überzeugung, bedroht ist. Dabei muss der Ausländer gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i. V. m. Artikel 2 lit. c RL 2004/83/EG sein Heimatland aus begründeter Furcht vor Verfolgung verlassen haben, was dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011, InfAuslR 2011, 408). Hat der Ausländer schon einmal politische Verfolgung erlitten, gilt dies gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Artikel 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG als ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, NVwZ 2011, 51). Selbst geschaffene Nachfluchttatbestände sind gemäß § 28 Abs. 1a AsylVfG i.V.m. Artikel 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG - anders als beim Grundrecht auf Asyl - bis zur Unanfechtbarkeit des Erstverfahrens uneingeschränkt zu berücksichtigen (BVerwG, Urt. v. 24.09.2009, NVwZ 2010, 383).

Diese Voraussetzungen liegen aufgrund der Angaben des Klägers, dem Inhalt der beigezogenen Akten und der in das gerichtliche Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen vor. Zur Überzeugung des Gerichts droht dem Kläger wegen seiner exilpolitischen Nachfluchtaktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland und der Entziehung aus dem Nationalen Dienst mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politisch motivierte Verfolgung bei einer Rückkehr in sein Heimatland.

Der Kläger hat sich in einer Weise exilpolitisch betätigt, die eine Kenntnis von seinen oppositionellen Aktivitäten durch staatliche eritreische Stellen bzw. Sicherheitsbehörden beachtlich wahrscheinlich macht und wegen derer er im Falle einer Rückkehr mit Übergriffen von flüchtlingsrechtlich erheblichem Gewicht rechnen muss. Auszugehen ist dabei davon, dass nach der Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (Urteil vom 27.03.2006, Az.: 9 UE 705/05.A, EzAR-NF 63 Nr. 3) einfache Mitglieder der EDP im Falle einer Rückkehr nach Eritrea auch dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen haben, wenn sie sich in der Bundesrepublik Deutschland lediglich in untergeordneter Weise für die Partei betätigt haben und dies auch für Mitglieder der EPDP gilt, die aus dem Zusammenschluss der EDP mit der EPP und der EPM im Januar 2010 entstanden ist. Ferner ist an dieser Rechtsprechung - der das erkennende Gericht folgt - trotz des inzwischen verstrichenen Zeitraums festzuhalten, da eine abweichende Beurteilung rechtfertigende Erkenntnisse nicht vorliegen. So führt das Auswärtige Amt in seinem aktuellen Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea vom 01.07.2013 ausdrücklich aus, dass zu der Frage, inwieweit die Betätigung im Ausland für eine Oppositionsbewegung oder Partei bei einer Rückkehr nach Eritrea zu Verfolgungsmaßnahmen führen würde, ihm keine neuen Erkenntnisse vorlägen. Bekannt sei weiterhin nur ein Fall aus dem Jahr 2005, in dem ein Eritreer, dem zum Vorwurf gemacht worden war, in Deutschland an einer Veranstaltung der Opposition teilgenommen zu haben, zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt worden ist. Zuvor hatte das Auswärtige Amt bereits in einer Auskunft vom 31.07.2008 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angegeben, dass ihm seit November 2005 kein weiterer Referenzfall zur Verfolgung eines Eritreers nach dessen Rückkehr nach Eritrea wegen einer exilpolitischen Betätigung bekannt geworden sei. Es könne daher weiterhin zum Grad der Wahrscheinlichkeit einer asylerheblichen Verfolgung je nach dem Ausmaß einer exilpolitischen Betätigung keine Aussage treffen. In Anbetracht der unzureichenden Faktenlage halte das Amt aber staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegen zurückgekehrte Eritreer wegen einer untergeordneten oppositionellen Betätigung im Ausland weiterhin nicht für zwangsläufig, könne das Risiko einer Verfolgung aber auch nicht ausschließen. Demgegenüber führt die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrem Update Eritrea vom Februar 2010 aus, dass Mitglieder und Unterstützer der politischen Opposition bei einer Rückkehr nach Eritrea mit schwersten Verfolgungsmaßnahmen seitens der Behörden rechnen müssten. Referenzfälle werden auch dort nicht benannt.

Der Kläger hat sich nach Überzeugung des Gerichts in der Bundesrepublik Deutschland in einer Weise exilpolitisch betätigt, nach der er zu dem Personenkreis zählt, dem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung droht.

Der Kläger hat bereits kurze Zeit nach seiner Einreise in Deutschland seine Tätigkeit in exilpolitischen Organisationen (EDV e. V. und EPDP) aufgenommen. Seine Mitgliedschaft ist durch die Bescheinigungen vom 05.09.2012 und 13.01.2013 belegt. Soweit der Kläger noch nicht über einen Mitgliedsausweis verfügt, vermochte er in der mündlichen Verhandlung plausibel darzulegen, weshalb es in seinem Fall, wie auch in etlichen anderen, noch nicht zur Ausstellung eines Mitgliedsausweises gekommen ist. Weiterhin hat der Kläger seine Motivation, sich der EPDP anzuschließen, dargelegt und begründet. Das Gericht ist aufgrund der Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung auch davon überzeugt, dass der Kläger an den monatlich stattfindenden regulären Versammlungen seines Vereins und der überregionalen Parteiversammlung der EPDP im Juni dieses Jahres teilgenommen hat. Auf Nachfrage hin war er ohne Weiteres in der Lage, nähere Angaben, etwa zu der überregionalen Parteiversammlung der EPDP in Griesheim zu machen. Ferner belegen die von dem Kläger vorgelegten Fotos, anlässlich der am 29.01.2013 in Berlin stattgefundenen Demonstration, dass der Kläger auch an einer Demonstration beteiligt war. Auf den Fotos ist der Kläger als engagierter Demonstrationsteilnehmer zu erkennen, der ein Plakat trägt. Abgesehen von der Ausspähung exilpolitischer Veranstaltungen durch verdeckt operierende Anhänger der Staatspartei PFDJ bei Veranstaltungen der Exilopposition kommt bei dem Kläger das Risiko hinzu, durch Internetrecherchen ins Blickfeld des eritreischen Regimes zu geraten. So hat der Kläger Internetausdrucke bezüglich der am 13.01.2013 und 14.05.2013 stattgefundenen monatlichen regulären Versammlungen sowie bezüglich der überregionalen Veranstaltung unter der Leitung des EPDP-Vorsitzenden Mengsteab Asmerom in Griesheim vorgelegt. Ausgehend davon, dass die eritreische Regierung Aktivitäten, insbesondere regimekritischer Art, im Ausland ausgiebig beobachten und aufzeichnen lässt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Eritrea, Update vom Februar 2010, Seite 12) kommt für den Kläger risikoerhöhend hinzu, dass sich ohne größeren Rechercheaufwand Bilder über seine Teilnahme an den genannten Versammlungen aus dem Internet (www.harnnet.org) abrufen lassen. Der Kläger macht sich darüber hinaus bei den Versammlungen und Demonstrationen nützlich, indem er Hilfsfunktionen wahrnimmt (Stühle aufstellen etc.) und Slogans auf Poster und Plakate fertigt und aufbringt sowie Plakate zeichnet. Das entsprechende Vorbringen des Klägers ist glaubhaft, insbesondere hat der Kläger nachvollziehbar dargelegt, dass dies Ausdruck seiner künstlerischen Arbeit ist, welche ihm bereits während der Ableistung seines Wehrdienstes/Nationalen Dienstes sehr am Herzen lag. Schließlich hat der Kläger eindrücklich und anschaulich dargelegt, dass er bei dem kommenden Eritrea-Festival an einem Theaterstück mitwirken wird und hier als Freiheitskämpfer auftritt.

Ist der Kläger zur Überzeugung des Gerichts bereits aufgrund der dargestellten exilpolitischen Tätigkeit erheblich gefährdet, kommt in seinem Fall noch hinzu, dass er aufgrund seines Verbleibs im Ausland bereits in das Blickfeld der eritreischen Behörden gelangt sei dürfte. Dabei geht das Gericht davon aus, dass der Kläger ungeachtet des Umstandes, dass er mit einem legalen Ausreisevisum sein Heimatland verlassen hat, nicht aus dem (in der Regel zeitlich unbefristeten) Nationalen Dienst entlassen worden war, sondern nach seinem dreiwöchigen Urlaub zurückzukehren hatte. Dem steht nicht zwingend entgegen, wie das Bundesamt meint, dass der Kläger mit einem legalen Ausreisevisum über den Flughafen Asmara ausgereist ist. Zwar schränkt die eritreische Regierung die Möglichkeit der legalen Ausreise im Zusammenhang mit der Ableistung des Militärdienstes oder Nationalen Dienstes massiv ein. So wird berichtet, Männern unter 54 Jahren und Frauen unter 47 Jahren werde regelmäßig die Ausstellung des Ausreisevisums verweigert, unabhängig davon, ob sie den Militärdienst geleistet hätten oder nicht (vgl. ACCORD vom 24.01.2012). Das Bundesamt für Migration der Schweizerischen Eidgenossenschaft listet in dem Papier Eritrea: Militärkomplex und Desertion vom 25.08.2010 Fälle auf, in denen in der Praxis Exit-Visa ausgestellt würden, weiterhin ist hier ausgeführt, dass es zwar keine gesetzliche Regelung bezüglich einer Urlaubserlaubnis gebe, Urlaub jedoch in Abhängigkeit zu den jeweiligen Vorgesetzten gewährt werde. Weiterhin heißt es in dem Papier, wer Eritrea legal, d. h. mit Exit-Visum verlasse, jedoch die Visa-Frist überschreite, habe aufgrund dessen keine Maßnahmen zu befürchten. Zwar gehört der Kläger nicht unmittelbar einer der genannten Fallgruppen, in denen Exit-Visa ausgestellt werden, an, jedoch erschließt sich hieraus, dass durchaus im Fall des Klägers aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme und des Umstandes, dass die Tante des Klägers zur Erlangung der Exit-Visa Geld gezahlt hat, die Komponenten Krankheit und Sicherheitsleistung für die Ausstellung der Exit-Visa maßgeblich waren. Das Gericht kommt zu dieser Einschätzung, da der Kläger während der mündlichen Verhandlung insgesamt einen sehr glaubwürdigen Eindruck gemacht hat. Insbesondere hat er den Gang und die Umstände seines Nationalen Dienstes ausführlich und detailreich geschildert. Hiernach ist er in der 12. Klasse zum Militärdienst einberufen worden und hat im Militärtrainingslager Sawa sein Abitur gemacht. Nach seinem zweiten Einsatz im gleichen Jahr ist er auf Dauer im Nationalen Dienst verblieben. Hier hat er nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung eine Prüfung im künstlerischen Bereich absolviert und wurde dann für künstlerische Beschäftigungen eingeteilt. Insbesondere hat der Kläger nach seinen Angaben erfolglos um seine Entlassung ersucht. Im Einzelnen hat er auch die Gründe, die seiner Entlassung entgegen gestanden hätten, dargelegt. Die Angaben des Klägers stimmen mit den dem Gericht hierzu vorliegenden Auskünften, etwa der Schweizerischen Flüchtlingshilfe in ihrem Eritrea-Update vom Februar 2010 überein. Insbesondere heißt es hierin, der aktive Dienst könne Jahrzehnte dauern. Verlasse jemand im Rahmen des Nationaldienstes seinen Arbeitsplatz, werde das als Desertion bewertet. Zugleich werde derjenige, der sich der Dienstpflicht durch Flucht ins Ausland (vorliegend durch Verbleib im Ausland) entzieht, auch wegen der ihm deshalb unterstellten oppositionellen Haltung als Regimefeind angesehen und muss bei einer Rückkehr mit harter Bestrafung unter unmenschlichen Bedingungen rechnen (vgl. VG Wiesbaden, Az.: 5 K 1212/11.WI.A, vom 22.05.2013, nicht veröffentlicht; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Eritrea-Update vom Februar 2010). Zumindest wird der Kläger durch seinen Verbleib im Ausland in das Visier der eritreischen Sicherheitsbehörden gelangt sein, so dass sich die Verfolgungsgefährdung aufgrund seiner exilpolitischen Tätigkeiten noch erhöhen dürfte. [...]