VG Schwerin

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Zitieren als:
VG Schwerin, Urteil vom 05.06.2013 - 5 A 1656/10 As - asyl.net: M21736
https://www.asyl.net/rsdb/M21736
Leitsatz:

Für die Flüchtlingsanerkennung bei Personen aus dem Westjordanland ist es ausreichend, wenn die Verfolgungshandlung einem der dort Staatsgewalt ausübenden Akteure - hier der israelischen Armee - zuzurechnen ist.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Palästinenser, Israel, Palästinensische Gebiete, palästinensische Autonomiegebiete, Westjordanland,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat vor seiner Ausreise aus dem Westjordanland eine individuelle politische Verfolgung in Anknüpfung an seine politische Überzeugung erlitten. Das Gericht ist nach der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass der Sachvortrag sowohl hinsichtlich seiner Aktivitäten für die palästinensische Kommission gegen den israelischen Mauerbau, als auch das von ihm geschilderte Verfolgungsgeschehen im Oktober/November 2009 der Wahrheit entspricht.

Bereits in der Anhörung vom 10.02.2010 hat der Kläger das Verfolgungsgeschehen und dessen Hintergrund detailliert und anschaulich geschildert. In der mündlichen Verhandlung hat er sämtliche Nachfragen des Gerichts ebenso ausführlich wie überzeugend beantwortet, ohne dass dabei Widersprüche, Ungereimtheiten oder eine Steigerung des Vortrages aufgetreten wären. Darüber hinaus hat der Kläger in der Verhandlung einen persönlich glaubwürdigen Eindruck hinterlassen.

Die gegenteilige Einschätzung der Beklagten vermag nicht zu überzeugen. Nach Auffassung des Gerichts ist weder das vom Kläger geschilderte Verhalten der israelischen Armee noch sein eigenes Verhalten in Reaktion auf die Verfolgungsmaßnahmen der Armee als unlogisch oder unwahrscheinlich einzustufen. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Armee den Kläger am 15.10.2009 oder kurz danach - wenn sie es nur gewollt hätte - ohne Weiteres in seiner Rechtsanwaltskanzlei hätte festnehmen können. Die Beklagte dürfte bei ihrer Bewertung die Fähigkeiten einer Besatzungsmacht im Allgemeinen und der israelischen Armee im Besonderen überschätzen. Es erscheint durchaus plausibel, dass die Armee den genauen Ort, an dem sich seine Rechtsanwaltskanzlei befand, am 15.10.2009 noch nicht kannte, sondern erst acht Tage später, als der nächtliche Überfall auf die Rechtsanwaltskanzlei erfolgte. Es spricht auch nicht von vornherein gegen den Wahrheitsgehalt des Geschehens, dass der Kläger trotz dieser Vorfälle das Risiko eingegangen ist, zeitweise (nach seinen Angaben 5 bis 6 Mal) zu Hause zu übernachten.

Sein Verhalten nach dem Aufgreifen im Bundesgebiet spricht nicht gegen den Wahrheitsgehalt des Verfolgungsgeschehens. Er hat plausibel erklären können, aus welchen Gründen er ursprünglich in Schweden Asyl beantragen wollte und aus diesem Grund den Asylantrag nicht umgehend nach seiner Einreise ins Bundesgebiet gestellt hat. Den vom Bundesamt verlangten Personalausweis und wettere Personaldokumente hat er noch vor Erlass des angefochtenen Bescheides vorgelegt, wenn auch bei der Ausländerbehörde anstatt bei dem zuständigen Bundesamt. Dazu hat er in der Verhandlung glaubhaft ausgeführt, die Ausländerbehörde habe ihm seinerzeit zugesichert, die Dokumente an das Bundesamt weiterzuleiten. Das Gericht vermag auch keine offensichtlichen Echtheitszweifel hinsichtlich der vom Kläger vorgelegten Personaldokumente zu erkennen.

Mit Schriftsatz vom 13.06,2013 hat er Belege für seine gegen die Politik Israels, speziell gegen den Mauerbau bei Bethlehem, gerichteten Aktivitäten aus den Jahren 2007 bis 2010 nachgereicht (Internet-Artikel, Fotomaterial).

Auf der Basis dieser Feststellungen ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Unschädlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Verfolgung nicht von der palästinensischen Autonomiebehörde, sondern vom Staat Israel ausgegangen ist. Denn Israel übt im Westjordanland - wenn auch als Besatzungsmacht - nach wie vor Staatsgewalt aus, der gegenüber er keinen Schutz durch die palästinensische Staatsgewalt erlangen kann. Insofern reicht es für eine Flüchtlingsanerkennung bei Personen aus dem Westjordanland aus, wenn die Verfolgungshandlung einem der dort Staatsgewalt ausübenden Verfolgerstaaten zuzurechnen ist (VG Schwerin, Urteil vom 13.06.2012, 5 A 1598/08 As, Seite 11 des Umdrucks). Der Kläger kann auch nicht auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in anderen Regionen seines Herkunftslandes verwiesen werden. Hinreichende Sicherheit vor dem Zugriff Israels besteht für ihn weder in anderen Städten des Westjordanlandes, noch im Gazastreifen.

Die Verfolgungsmaßnahmen Israels haben ersichtlich an die politischen Aktivitäten des Klägers und damit an ein asylrelevantes Merkmal angeknüpft, ohne dass es sich um einen Fall gewöhnlicher Strafverfolgung handeln würde. Im Hinblick auf die ihm im Falle einer Festnahme durch die israelische Armee drohenden Freiheitsentziehungen, Verhöre und Misshandlungen liegt eine schwerwiegende, den Betroffenen aus der staatlichen Friedensordnung ausgrenzende Verfolgung vor (Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie).

Der Kläger muss im Falle einer Rückkehr in das Westjordanland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut mit politischer Verfolgung durch Israel rechnen. Obwohl er eigenen Angaben zufolge seine Aktivitäten für die palästinensische Kommission gegen den Mauerbau zwischenzeitlich eingestellt hat, sprechen keine stichhaltigen Gründe gegen eine erneute Verfolgung. Der Zeitablauf allein reicht nicht für die Annahme, dass Israel an einem Zugriff auf den Kläger nicht mehr interessiert wäre, zumal sich die Situation im Westjordanland und speziell in Bethlehem seit seiner Ausreise nicht grundlegend geändert hat. Der Konflikt um den israelischen Mauer- und Siedlungsbau besteht fort. [...]