VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 27.06.2013 - 10 CE 13.883 - asyl.net: M21773
https://www.asyl.net/rsdb/M21773
Leitsatz:

Zum unionsrechtlichen Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen zum Zweck des Nachzugs zu einer mit ihrer Mutter im Bundesgebiet lebenden minderjährigen Unionsbürgerin.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: freizügigkeitsberechtigt, Familienangehörige, Drittstaatsangehörige, dirttstaatsangehöriges Familienmitglied, Familiennachzug, Unionsbürger, Freizügigkeitsbescheinigung, Sorgerecht, gemeinsames Sorgerecht, sorgeberechtigter Elternteil, Unionsbürgerschaft, minderjährig, unionsrechtliches Aufenthaltsrecht,
Normen: FreizügG/EU § 5 Abs. 2, FreizügG/EU § 5 Abs. 6, VwGO § 123 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

2. Auch der gegen den Freistaat Bayern gerichtete Hilfsantrag der Antragsteller ist unbegründet.

2.1. Dabei kann offen bleiben, ob dem – wie in einem Hauptsacheverfahren – auf die "Ausstellung der Bescheinigung nach § 5 Abs. 2 und 6" (jetzt: Abs. 1 und 5) FreizügG/EU gerichteten Antrag nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO schon deshalb nicht stattgegeben werden könnte, weil damit nicht nur eine vorläufige Regelung, sondern eine im konkreten Fall unzulässige (endgültige) Vorwegnahme der Hauptsache begehrt wird (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, Kommentar, 13. Aufl. 2010, Rn. 66a ff.).

2.2. Denn den für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO erforderlichen Anordnungsanspruch haben die Antragsteller auch bei Berücksichtigung der zur Begründung der Beschwerde dargelegten Gründe nicht glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO), weil sich aus ihnen nicht mit der für die Glaubhaftmachung erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit ergibt, dass der Antragsteller zu 1 als sorgeberechtigter Elternteil seiner minderjährigen Tochter, der Antragstellerin zu 2, aus deren Freizügigkeitsrecht als Unionsbürgerin gemäß Art. 20 und 21 AEUV ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland als Aufnahmemitgliedstaat auch für sich selbst herleiten kann. Davon ist auch das Verwaltungsgericht zu Recht ausgegangen.

Zwar hat der Gerichtshof der Europäischen Union bereits entschieden, dass dem Aufenthaltsrecht eines Elternteils mit Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats oder eines Drittstaats, der für einen minderjährigen Unionsbürger tatsächlich sorgt, jede praktische Wirksamkeit genommen würde, wenn ihm nicht erlaubt würde, sich mit diesem Bürger im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten, da der Genuss des Aufenthaltsrechts durch ein Kleinkind voraussetzt, dass sich die für das Kind tatsächlich sorgende Person bei diesem aufhalten darf und dass es ihr demgemäß ermöglicht wird, während dieses Aufenthalts mit dem Kind zusammen im Aufnahmemitgliedstaat zu wohnen (EuGH, U.v. 19.10.2004 – Zhu und Chen, C-200/02 – juris Rn. 45 sowie U.v. 8.11.2012 – Iida, C-40/11 – juris Rn. 68). Das die Sachverhalte u.a. dieser Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union kennzeichnende gemeinsame Element, auf das sich die Antragsteller auch für ihren Fall berufen, besteht darin, dass Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über das Einreise- und Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinien 2003/109/EG und 2004/38/EG (sowie 2003/86/EG) doch in einem immanenten Zusammenhang mit der Freizügigkeit eines Unionsbürgers stehen, die beeinträchtigt würde, wenn den Drittstaatsangehörigen das Recht verweigert würde, in den Mitgliedstaat, in dem dieser Bürger wohnt, einzureisen und sich dort aufzuhalten, und die daher dieser Weigerung entgegensteht (EuGH, U.v. 8.11.2012 – Iida, C-40/11 – juris Rn. 72). In derartigen Fällen ist es Aufgabe des (nationalen) Gerichts festzustellen, ob dem Betroffenen Unionsbürger (hier: der Antragstellerin zu 2) durch die Ablehnung der auf der Grundlage der Familienzusammenführung gestellten Aufenthaltsanträge der Kernbestand der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird und insbesondere die Gefahr droht, das Gebiet des Mitgliedstaats und sogar das Gebiet der Union als Ganzes (rechtlich oder de facto) verlassen zu müssen (EuGH, U.v. 6.12.2012 – O., S. und L., C-356/11 u.a. – juris Rn. 48 ff.). Für die Prüfung, ob es dem betroffenen Unionsbürger de facto unmöglich wäre, den Kernbestand der Rechte, die ihm sein Unionsbürgerstatus verleiht, in Anspruch zu nehmen, ist unter anderem die Frage nach dem Sorgerecht (hier: des Antragstellers zu 1 für seine Tochter, die Antragstellerin zu 2) von Bedeutung. Allerdings rechtfertigt die bloße Tatsache, dass es aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Angehörige einer Familie, die aus Drittstaatsangehörigen und einem minderjährigen Unionsbürger besteht, zusammen mit diesem im Gebiet der Union in dem Mitgliedstaat aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn ein solches Aufenthaltsrecht nicht gewährt wird. Demgemäß hat das (nationale) Gericht alle Umstände des Einzelfalls zu prüfen, um festzustellen, ob die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts bei dem Drittstaatsangehörigen tatsächlich dazu führen kann, die Unionsbürgerschaft des betroffenen Unionsbürgers seiner praktischen Wirksamkeit zu berauben (EuGH, U.v. 6.12.2012 – O., S. und L., C-356/11 u.a. – juris Rn. 51 ff.).

Gemessen an diesen Grundsätzen hat das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung zu Recht festgestellt, dass das Freizügigkeitsrecht der Antragstellerin zu 2 nach dem Vorbringen der Antragsteller nicht mit der für die Glaubhaftmachung erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit in einer Weise betroffen wird, die der Unionsbürgerschaft der Antragstellerin zu 2 die praktische Wirksamkeit nehmen würde. Dies ergibt sich aus Folgendem: Der Antragsteller hat offensichtlich erst im Dezember 2009 aus der Haft heraus die Vaterschaft zu seiner am 12. Januar 2009 geborenen Tochter anerkannt und ausweislich der Akten erst am 10. Januar 2011 vor dem Jugendamt M. mit Zustimmung der Mutter eine Erklärung zum gemeinsamen Sorgerecht abgegeben. Er hat nach Aktenlage zudem bisher weder mit seiner Tochter und deren Mutter in familiärer Gemeinschaft gelebt noch finanziell oder in sonstiger Weise die elterliche Sorge für die Antragstellerin zu 2 tatsächlich ausgeübt. Ausweislich der von Antragstellerseite im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten Leistungsbewilligungen nach dem SGB II für die Antragstellerin zu 2 und ihre Mutter leben diese vielmehr nach wie vor in nichtehelicher Lebensgemeinschaft mit einem Dritten, dem bosnischen Staatsangehörigen M. B., zusammen. Die auch im Beschwerdeverfahren nicht substantiierte Behauptung, der Antragsteller zu 1 wolle nunmehr "gemeinsam mit der Kindesmutter das Recht der elterlichen Sorge ausüben", nach seinem "Nachzug" ins Bundesgebiet mit beiden in D. den gemeinsamen Wohnsitz nehmen sowie für den Unterhalt der Antragstellerin zu 2 aufkommen, genügt demgegenüber nicht. Ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem minderjährigen Unionsbürger (Antragstellerin zu 2) und dem Drittstaatsangehörigen (Antragsteller zu 1), dem ein Aufenthaltsrecht verweigert wird, das die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft beeinträchtigen kann, so dass sich der Unionsbürger als Folge einer solchen Verweigerung de facto gezwungen sähe, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats zu verlassen, sondern auch das Gebiet der Union als Ganzes (EuGH, U.v. 6.12.2012 – O., S. und L., C-356/11 u.a. – juris Rn. 56), ist von den Antragstellern damit weder glaubhaft gemacht noch für den Senat sonst ersichtlich. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang im Übrigen auch darauf hingewiesen, dass aufgrund des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts der Antragstellerin zu 2 und ihrer Mutter, die bisher die elterliche Sorge für die Antragstellerin zu 2 allein wahrgenommen hat, eine rechtliche Verpflichtung, das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, nicht besteht. Ob der Unterhalt des Kindes tatsächlich ohne "den Beistand des Vaters derzeit nicht gesichert" ist, ist nach alledem vorliegend nicht mehr entscheidungserheblich.

Die Frage, ob und gegebenenfalls welche Folgerungen sich für ein eventuelles nationales Aufenthaltsrecht des Antragstellers zu 1 (z.B. nach § 25 Abs. 5 AufenthG) aus dem Recht der Antragsteller auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK oder Art. 6 Abs. 1 und 2 GG sowie aus Art. 24 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben können, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens. [...]