In der Russischen Föderation besteht kein Zugang zur Behandlung mit Buprenorphin oder einem vergleichbaren Substitutionsmittel, das bei Opiatabhängigen eingesetzt wird.
[...]
b) Der Kläger leidet ausweislich der vorgelegten Bescheinigungen seines behandelnden Arztes an einer Opiatabhängigkeit unter Substitutionsbehandlung. Diese Opiatabhängigkeit ist nach seinen in sich schlüssigen, anschaulichen und damit insgesamt nachvollziehbaren und glaubhaften Angaben, an denen zu zweifeln sich für das Gericht nach dem Eindruck in der mündlichen Verhandlung kein Anlass bot, immer dann in Richtung einer dauerhaften Heroineinnahme in Erscheinung getreten, wenn sich seine Lebensumstände extrem ins Negative gekehrt hatten. So hat er Heroin etwa zu sich genommen, nachdem er als Militärangehöriger im Ersten Tschetschenienkrieg in Gefangenschaft geriet, gegen russische Gefangene ausgetauscht wurde und er die Schmerzen aufgrund der ihm in der Gefangenschaft zugefügten erheblichen Verletzungen nach seiner Freilassung - wohl auch in Ermangelung von Medikamenten - mit Opiaten bekämpft hat. Er konnte sich jedoch noch in Tschetschenien von der Opiatabhängigkeit befreien und einstweilen abstinent leben. In Deutschland erfuhr er dann infolge einer durch seinen behandelnden Arzt durchgeführten umfassenden Diagnostik von seiner HIV-Infektion. Auf sich allein gestellt und in eine - aus subjektiver Sicht - ausweglose gesundheitliche Situation geraten, begann er von Neuem, Heroin zu sich zu nehmen, wodurch die Opiatabhängigkeit wieder auflebte. Seine Opiatabhängigkeit wird derzeit mit dem Substitutionsmedikament SUBUTEX (Wirkstoff: Buprenorphin) mit einer Dosis von 22 mg täglich behandelt. Auf konkrete gerichtliche Nachfrage hin hat der behandelnde Arzt sich dahin geäußert, dass ein Entzugsplan nicht in Betracht komme, solange die chronische Hepatitis C-Infektion des Klägers nicht abschließend behandelt ist, denn eine Substitutionsbehandlung gelte aus medizinischer Sicht als bestmögliches Setting einer Hepatitis C-Behandlung im Falle einer Opiatabhängigkeit. Das mögliche Anstreben einer Abstinenz sei deshalb erst nach erfolgreicher Hepatitis C-Behandlung sinnvoll. Von daher bedürfe es einer komplexen Behandlungsstrategie unter Einschluss der HIV-Behandlung mit den antiviralen Medikamenten TRUVADA, NORVIR und PREZISTA sowie der Substitutionsbehandlung mit SUBUTEX und - für die Zukunft geplant - auch einer Interferontherapie der Hepatitis C mit dem Ziel der Viruselimination zur Verhinderung des weiteren Fortschreitens der bereits vorhandenen strukturellen Veränderungen der Leber. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung angegeben, unter der Substitutionsbehandlung seit bereits einem halben Jahr kein Heroin mehr zu sich zu nehmen, wobei ihm auch die Beziehung mit seiner Lebensgefährtin, die er in Berlin kennengelernt habe, helfe. Beide würden sich gegenseitig unterstützen, keine Drogen mehr zu sich zu nehmen, und hätten gemeinsame Zukunftspläne, die auch eine gemeinsame Wohnung und eine Familienplanung einschlössen. Ferner erhalte er in Berlin Unterstützung durch einen Sozialberater.
c) Auf dieser tatsächlichen Grundlage erweist sich eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben für den Fall seiner Abschiebung in die Russische Föderation als beachtlich wahrscheinlich.
Es kann dahinstehen, ob die benötigten Medikamente für die Behandlung HIV-Infektion für ihn in Russland zugänglich und finanzierbar sind, denn es steht zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls fest, dass er in der Russischen Föderation keinen Zugang zur Behandlung mit Buprenorphin oder einem vergleichbaren Substitutionsmittel hat. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die in der Russischen Föderation eventuell zur Verfügung stehenden, anderweitigen Behandlungen einen adäquaten Ersatz für die Behandlung mit Buprenorphin darstellen. Hiergegen spricht die Presseberichterstattung, welche das Schicksal Opiatabhängiger in der Russischen Föderation vor dem Hintergrund der nicht zur Verfügung stehenden Behandlung ausführlich darstellt und andere Behandlungsmöglichkeiten nicht nur nicht in den Fokus rückt, sondern gänzlich unerwähnt lässt. Hiergegen spricht weiter, dass Buprenorphin - wie auch Methadon - im Hinblick auf seine Verwendung als Substitutionsmittel für die Therapie einer Opiatabhängigkeit von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahre 2006 nach allgemein zugänglichen Quellen in die Liste der unentbehrlichen Arzneimittel aufgenommen wurde und selbst das Ministerium für Gesundheitswesen und soziale Entwicklung der Russischen Föderation die in Russland zum Einsatz gelangenden Therapieformen demgegenüber als "traditionell" bezeichnet (Auskunft der Botschaft Moskau, a.a.O.).
Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass der Kläger - anders als möglicherweise in Fällen reiner Opiatabhängigkeit ohne vergleichbare organische Schäden und Begleiterkrankungen - aufgrund der besonderen Umstände seines konkreten Einzelfalles nicht auf einen sog. "kalten Entzug" unter Inkaufnahme vorübergehenden oder dauerhaften erneuten Drogenkonsums verwiesen werden kann, sondern der Fortführung der Substitutionsbehandlung zur Abwendung einer wesentlichen Verschlechterung des organischen Gesundheitszustandes im Hinblick auf seine bereits strukturell geschädigte Leber und zur Schaffung eines adäquaten Settings für die Therapie der Hepatitis-C-Infektion dringend bedarf.
Zunächst erweist es sich unter Berücksichtigung der Lebensgeschichte des Klägers als beachtlich wahrscheinlich, dass er im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation wieder Heroin oder andere, in der Russischen Föderation verfügbare, extrem gesundheitsschädliche Ersatzstoffe wie Desomorphin zu sich nehmen würde. Schon in der Vergangenheit hat er in Fällen, in denen sich seine Lebenssituation extrem ins Negative gekehrt hat, mehrfach Heroin zu sich genommen. Nunmehr hat der Kläger seit einem halben Jahr kein Heroin mehr konsumiert und nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung ein enges Vertrauensverhältnis zu seinem behandelnden Arzt Dr. med. ... aufgebaut. Müsste er nun in die Russische Föderation zurückkehren, würde er nicht nur die ärztliche Behandlung und mit ihr die seine Heroinabhängigkeit unterdrückende Substitutionsmedikation hinter sich lassen, sondern auch seine Lebensgefährtin, seine jetzigen Zukunftspläne und auch diejenige Stabilität, die ihm durch seinen Sozialberater vermittelt wird. Damit liegt es auf der Hand, dass alsbald nach seiner Rückkehr ein erneuter Drogenkonsum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu besorgen wäre.
Die ärztlichen Bescheinigungen lassen dabei hinreichend deutlich werden, dass ein erneuter Drogenkonsum des Klägers zu weiteren organischen Leberschäden und damit zu außergewöhnlich schweren körperlichen Schäden führen würde. Die Substitutionsbehandlung dient damit vorliegend nicht nur der Behandlung der Opiatabhängigkeit selbst. Sie dient darüber hinaus auch der Vermeidung weiterer, außergewöhnlich schwerer körperlicher Schäden durch erneuten Heroinkonsum im Hinblick auf die daneben bestehende Lebererkrankung des Klägers (Hepatitis C). Damit erweist sie sich als notwendige gesundheitserhaltende Vorbereitungs- und Begleittherapie seiner zukünftigen Interferonbehandlung. Dies unterscheidet den vorliegenden Fall von Fällen reiner Opiatabhängigkeit. [...]