VG Magdeburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 28.06.2013 - 3 A 98/11 MD - asyl.net: M21783
https://www.asyl.net/rsdb/M21783
Leitsatz:

Kurdische Yeziden haben in der Russischen Föderation, insbesondere im Stawropoler Gebiet, große wirtschaftliche und soziale Probleme. Sie sind Diskriminierung, Übergriffen und Benachteiligung ausgesetzt. Im Einzelfall kann dies zu einer extremen Gefährdungslage führen.

Schlagwörter: Russische Föderation, Russland, Kurden, Yeziden, Südrussland, Stawropol, Diskriminierung, Ausgrenzung, extreme Gefahrenlage, Schutzbereitschaft, Familienangehörige, familiärer Rückhalt,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1 b,
Auszüge:

[...]

Zur Überzeugung des Gerichtes steht fest, dass die Kläger zur Gruppe der Yeziden gehören. Sie haben bereits in der Anhörung beim Bundesamt (vgl. Niederschriften über die Anhörung am 16.7.2009 in Halberstadt) wesentliche Aspekte ihrer Religion zutreffend geschildert und auch in der mündlichen Verhandlung insoweit keine Zweifel aufkommen lassen.

Allerdings ist davon auszugehen, dass kurdische Yeziden in der Russischen Föderation, insbesondere in der Gegend von Stawropol, nicht schon wegen ihrer Religion bzw. kulturellen Identität mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung ausgesetzt sind, die nach Art, Intensität und Verfolgungsdichte als mittelbare Gruppenverfolgung oder als mittelbare Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit gewertet werden könnte. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Gründe des streitgegenständlichen Bescheides der Beklagten vom 9.2.2011 verwiesen, § 77 Abs. 2 AsylVfG.

Den Klägern steht indessen Abschiebungsschutz entsprechend § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zur Seite. Nach § 60 Abs. 7 AufenthG kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine individuelle erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren, denen eine Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist, sind gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bei Anordnungen nach 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen, weil sie wegen ihrer Gruppenbezogenheit Bedeutung für eine Vielzahl von Personen haben. Wenn eine solche Entscheidung nicht vorliegt, gebieten es allerdings die Grundrechte aus Artikel 1 und 2 GG, dem einzelnen Ausländer unabhängig von der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz zu gewähren, wenn der Ausländer sonst in seinem Heimatland landesweit "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen" ausgeliefert werden würde (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995, Az.: 9 C 9/95, NVwZ 1996, 11), wenn also eine extreme Gefährdungslage für Leib und Leben gegeben wäre.

Hieran gemessen ist den Klägern Abschiebungsschutz zu gewähren. Denn sie wären aufgrund besonderer Umstände ihres Einzelfalles bei einer Rückkehr in die Russische Föderation einer extremen Gefährdungslage ausgesetzt. Dies gilt jedoch nicht für alle Kurden yezidischen Glaubens, die in ihr Heimatland Russische Föderation zurückkehren; diese sind regelmäßig nicht landesweit einer Existenz bedrohenden Notlage ausgesetzt. Vorliegend sind aber im Falle der Kläger individuelle Besonderheiten festzustellen, die ausnahmsweise einen verfassungsunmittelbaren Abschiebungsschutz erfordern. Den Klägern ist es aufgrund mehrerer für sie sehr ungünstiger Umstände nicht zuzumuten, dass sie auf diejenige Eigeninitiative verwiesen werden, die erforderlich ist, um das Überlebensnotwendige zu sichern.

Mit dem Auswärtigen Amt (Lagebericht vom 6.7.2012) ist davon auszugehen, dass Yeziden in der Russischen Föderation sehr große wirtschaftliche und soziale Probleme haben, weil sie dort zur "ranguntersten" und ärmsten sozialen Schicht gehören. Die Kläger haben dementsprechend anschaulich geschildert, dass sie 4 bis 5 Kilometer außerhalb eines richtigen Ortes in einem Blechcontainer gewohnt hätten und ihre Nachbarn überwiegend auch Yeziden gewesen seien. Sie lebten dort an der Armutsgrenze. Unter diesen Umständen können die Kläger nicht mit solidarischer Hilfe anderer Yeziden, die regelmäßig in gleichen Umständen leben, rechnen. Dies fällt für die Kläger deswegen ins Gewicht, weil sie nach ihrem eigenen, für das Gericht nachvollziehbaren Vorbringen auch nicht auf familiäre Hilfe zurückgreifen können. Sie haben überzeugend dargelegt, dass und warum sie außer in Sibirien keine Familienangehörigen in der Russischen Föderation haben.

Wie bereits dargelegt, sind Yeziden in der Russischen Föderation - wenn auch nicht in einem Maße, welches die Annahme gruppenbezogener Verfolgung nahelegen könnte - im Einzelfall durchaus erheblichen Übergriffen, Diskriminierungen und Benachteiligungen ausgesetzt. Dieser Umstand erschwert es den Klägern, durch Eigeninitiative ihren notwendigen Lebensunterhalt zu sichern. Hinzu kommt, dass Übergriffe durch die Polizei, wie auch vorliegend, häufig nicht verfolgt werden. Dies gilt gerichtsbekanntermaßen generell in der Russischen Föderation. Angehörige von Minderheiten sind hiervon in noch stärkerem Maße betroffen. Yeziden sind deshalb Beeinträchtigungen durch Angehörige der Sicherheitsorgane, aber auch durch Zivilisten, häufig schutzlos ausgesetzt.

Die wertende Berücksichtigung der Gesamtumstände des Einzelfalles ergibt hier, dass die Kläger bei einer Rückkehr in die Russische Föderation einer extremen Gefährdungslage ausgesetzt wären. Der Klageantrag hat daher Erfolg. [...]