VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 25.02.2014 - 14 K 2512/12.A - asyl.net: M21812
https://www.asyl.net/rsdb/M21812
Leitsatz:

Für Frauen, die nicht unter dem Schutz männlicher Familienangehöriger stehen, besteht in Afghanistan eine extreme Gefährdungslage.

Schlagwörter: Afghanistan, Kandahar, Frauen, alleinstehende Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Taliban, interne Fluchtalternative, Existenzminimum,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Bei der Klägerin muss jedoch - unabhängig von einer Vorverfolgung - davon ausgegangen [werden], dass bei ihrer Rückkehr nach Afghanistan die Gefährdung einer unmittelbaren geschlechtsspezifischen Bedrohung besteht.

Dabei geht die Kammer unter Einbeziehung der aktuellen Erkenntnismittel (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 4. Juni 2013, S. 12 f.; Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung von Januar 2014, S. 14 zur Rolle der Frauen in der Polizei, S. 27 ff. zur Geltung der Menschenrechte - insbesondere der Frauenrechte -; UNHCR: Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - zusammenfassende Übersetzung - vom 24. März 2011, S. 7 f. und vom 6. August 2013, S. 54 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 30. September 2013, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, S. 15 f.; Amnesty International, Amnesty Report 2013 Afghanistan, S. 3) zur Situation von Frauen in der afghanischen Gesellschaft davon aus, dass trotz der Stärkung der Rechte der Frauen in der afghanischen Verfassung und Gesetzgebung Frauen und Mädchen nach wie vor in der afghanischen Gesellschaft sowie von der Polizei und Justiz schwer benachteiligt werden. Seit dem Sturz der Taliban hat es zwar einige deutliche Verbesserungen gegeben, wie etwa einen verbesserten Zugang zur Bildung, Arbeit und medizinischen Versorgung. Gleichwohl ist die Diskriminierung der Frauen in der afghanischen Gesellschaft weit verbreitet, Frauen werden Opfer von Zwangsverheiratung, Vergewaltigung, Entführung, Ehrenmorden und häuslicher Gewalt. Die registrierten Fälle von Gewalttaten gegen Frauen sind gerade seit 2012 stark angestiegen, ebenso die Zahl der Mädchen und Frauen, die wegen sogenannter "moralischer" Verbrechen festgehalten werden. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 2013 wurden offiziell 4.154 Fälle von Gewalt gegen Frauen registriert. Da diese im Schwerpunkt im familiären Umfeld stattfinden, ist von einer deutlich höheren Dunkelziffer auszugehen, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Taten den offiziellen Stellen bekannt werden. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern bestimmt wird, nur in wenigen Fällen möglich. Auch das 2009 verabschiedete Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen hat sich bislang noch nicht landesweit durchgesetzt. Dies zeigt die Tatsache, dass dessen landesweite Umsetzung eines der beiden im Tokio-Prozess mit Afghanistan vereinbarten konkreten Ziele im Menschenrechtsbereich ist. Nach islamischem Recht ist eine Frau allein nicht existent, sondern untersteht entweder der Autorität ihres Ehemannes, ihres Bruders oder ihres Vaters bzw. dessen Familie. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes bisher undenkbar (vgl. auch Urteil der Kammer vom 20. Dezember 2011 - 14 K 4249/10.A -; Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen, Urteil vom 18. Juli 2013 - 5a K 4418/11.A, Rn, 39 ff. m.w.N.; VG München, Urteil vom 27. Juni 2013 - M 1 K 13.30168 -, Rn. 19 ff., zitiert jeweils nach juris).

Hieraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass jede Frau im Falle einer Rückkehr einer derartigen Verfolgung ausgesetzt wäre. Vielmehr ist im konkreten Einzelfall die individuelle Situation der Frau nach ihrer Stellung und dem regionalen und sozialen, insbesondere familiären Hintergrund zu berücksichtigen. Im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung der Kammer und anderer Gerichte (vgl. Urteile der Kammer vom 8. Oktober 2013 - 14 K 6985/11 A -, Rn. 61, vom 27. Februar 2013 - 14 K 2177/11.A, Rn. 35, und vom 20. Dezember 2011 - 14 K 4249/10.A -; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht (OVG), Beschluss vom 21. Januar 2014 - 9 LA 60/13 -, Rn. 5, jeweils zitiert nach juris) sind vor allem alleinstehende Frauen ohne männlichen Schutz (mahram) einer derartigen Gefährdungslage ausgesetzt.

Zu dieser Gruppe gehört die Klägerin. Sie ist 55 Jahre alt, verwitwet und hat keine männlichen Verwandten mehr in Afghanistan. Im vorliegenden Fall ist insoweit bereits zu berücksichtigen, dass die Klägerin aus Kandahar stammt. Die Provinz Kandahar ist seit jeher eine Hochburg der radikal-islamischen Taliban. Seit ihrem Sturz im Jahr 2001 führen sie insbesondere dort einen blutigen Aufstand gegen die internationalen Truppen und die afghanischen Sicherheitskräfte und haben dort einen enormen gesellschaftlichen Einfluss. Gerade in diesen Gebieten finden die in der Verfassung und Gesetzgebung Afghanistans zumindest formal begründeten Frauenrechte keine Anwendung (vgl. UNHCR: Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - zusammenfassende Übersetzung - vom 24. März 2011, S. 7 f. und vom 6. August 2013, S. 57, 63; Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 30. September 2013, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, S. 16).

Die Klägerin hat im Rahmen der Anhörung in der mündlichen Verhandlung überzeugend angegeben, dass sie keine männlichen Verwandten mehr in Afghanistan hat, die sie bei einer Rückkehr beschützen könnten. [...]

Die in § 3d AsylVfG genannten Institutionen, namentlich der afghanische Staat, sind nicht in der Lage oder willens, der Klägerin Schutz vor der ihr drohenden geschlechtsspezifischen Verfolgung zu bieten. Denn nach den vorliegenden Erkenntnisquellen erlaubt es Frauen insbesondere die unbefriedigende Sicherheitslage in weiten Landesteilen in der Regel nicht, die mit Überwindung der Taliban und ihren frauenverachtenden Vorschriften erwarteten Freiheiten wahrzunehmen. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage - oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt -, Frauenrechte zu schützen. Sexual- oder Gewaltverbrechen zur Anzeige zu bringen, hat aufgrund des desolaten Zustandes des Sicherheits- und Rechtssystems wenig Aussicht auf Erfolg. Der Versuch endet u.U. mit der Inhaftierung der Frau, sei es aufgrund unsachgemäßer Anwendung von Beweisvorschriften oder zum Schutz vor der eigenen Familie, die eher die Frau eingesperrt, als ihr Ansehen beschädigt sehen will (vgl. Urteil der Kammer vom 20. Dezember 2011 - 14 K 4249/10. A -).

Für die Klägerin kommt die Annahme einer inländischen Fluchtalternative nicht in Betracht. Der Verweis auf einen effektiven Schutz in einem anderen Teil des Herkunftslandes (§ 3e AsylVfG) setzt jedenfalls voraus, dass von dem Ausländer vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil niederlässt. Zur Frage, wann von ihm "vernünftigerweise erwartet werden kann", dass er sich in dem verfolgungsfreien Landesteil niederlässt, wird vorausgesetzt, dass der Ausländer am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, d.h. dort das Existenzminimum gewährleistet ist. Dieser Zumutbarkeitsmaßstab geht über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 19 f.; Beschluss vom 14. November 2012 - 10 B 22.12 -, Rn. 9, zitiert jeweils nach juris; Urteil vom 29. Mai 2008 - 10 C 11.07 -; Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, Urteil vom 6. März 2012 - A 11 S 3177/11 -).

Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine alleinstehende Frau in Afghanistan so gut wie keine Möglichkeit hat, Arbeit zu finden und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dies gilt erst recht für die 55jährige Klägerin, die selbst keine schulische Ausbildung hat und vor ihrer Ausreise auch keiner beruflichen Tätigkeit nachgegangen ist. Die wirtschaftliche Lage in Afghanistan ist so schlecht und die Teuerungsrate so immens, dass für eine alleinstehende Frau, selbst wenn sie gelegentlich Almosen oder finanzielle Unterstützung von eventuell noch existierenden Verwandten bekäme, jedenfalls nicht das Existenzminimum gewährleistet ist. [...]