VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 01.04.2014 - 8 A 2211/13 - asyl.net: M21827
https://www.asyl.net/rsdb/M21827
Leitsatz:

Eine Entscheidung über einen Asylantrag gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 71 AsylVfG analog ist keine "erste Sachentscheidung" im Sinne von Art. 8 VO (EG) Nr. 343/2003, wenn die Durchführung des Asylverfahrens allein aus formalen Gründen (im Einzelfall Fristversäumung nach § 51 Abs. 2 VwVfG) abgelehnt wird und somit keine inhaltliche Prüfung der Asylgründe stattfindet.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Asylantrag, Sachentscheidung, erste Sachentscheidung, Familienangehörige, familiäre Lebensgemeinschaft, Familieneinheit, Asylfolgeantrag, Dublinverfahren,
Normen: VO 343/2003 Art. 8, AsylVfG § 71, AsylVfG § 20 Abs. 2 S. 1, VO 343/2003 Art. 2 Bst. i), VO 343/2003 Art. 8,
Auszüge:

[...]

Hat ein Asylbewerber in einem Mitgliedstaat einen Familienangehörigen, über dessen Asylantrag noch keine erste Sachentscheidung getroffen wurde, so obliegt diesem Mitgliedstaat die Prüfung des Asylantrags, sofern die betroffenen Personen dies wünschen.

Nach Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO ist der maßgebliche Zeitpunkt für die Bestimmung der Zuständigkeit nach Art. 6 ff. Dublin II-VO die Situation, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Dies ist vorliegend der 29. November 2011. An diesem Tag hat der Kläger erstmals in Italien einen Asylantrag gestellt. Die Voraussetzungen von Art. 8 Dublin II-VO waren an diesem Tag erfüllt sein. Im Einzelnen:

1.1 Nach der Anhörung des Klägers steht es zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die in Deutschland lebende Zeugin x eine Familienangehörige des Klägers im Sinne von Art. 2 lit. i) i) Dublin II-VO ist. Danach ist ein Ehegatte Familienangehöriger, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat. Nach Anhörung des Klägers ist das Gericht überzeugt davon, dass die Zeugin seine Ehefrau ist.

Der Kläger und die Zeugin haben übereinstimmend und unabhängig voneinander ausgesagt, dass sie miteinander verheiratet seien. Für den Kläger ergibt sich dies aus dem Anhörungsprotokoll vom ... Januar 2012. Danach hat er auf die Frage Nr. 10 spontan den Namen seiner Ehefrau genannt. Auch sie gab bei ihren Anhörungen am 7. Juli 2011 durch die Bundespolizei und am ... August 2011 an, mit dem Kläger verheiratet zu sein.

Der Kläger legte die mit Originalstempeln und Unterschriften versehene Durchschrift einer irakischen Heiratsurkunde nebst beglaubigter Übersetzung ins Deutsche vor. Danach heiratete er die Zeugin am ... Mai 2010 in Scheichan. Die Untersuchung der Urkunde ergab keine Hinweise auf Manipulationen. Auch wenn es im Irak leicht möglich ist, gefälschte Unterlagen zu erhalten, sind für das Gericht keine Anhaltspunkte ersichtlich, warum die vorgelegte Urkunde inhaltlich unrichtig sein könnte. Dass es sich bei den in der Heiratsurkunde genannten Personen um den Kläger und die Zeugin handelt, ist nicht mehr ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Die Zeugin nannte bei ihrer Anhörung am 7. Juli 2011 den korrekten Namen ihres Ehemannes; der Kläger gab den Namen seiner Ehefrau ebenfalls bei seiner Anhörung durch die Beklagte zutreffend an. Ihre Identität haben sie zusätzlich durch die Vorlage der Originale ihrer irakischen Personalausweise bewiesen, die physikalisch-technische Untersuchung der Beklagten keine Manipulationen feststellen konnte.

Der Vortrag zu den Umständen der Hochzeit ist plausibel und entspricht den kurdisch-jesidischen Gepflogenheiten. Wenn der Kläger angibt, dass 800 Einladungen verteilt worden seien, ist dies nach Kenntnis des Gerichts nichts Ungewöhnliches. Auch die Verheiratung Minderjähriger ist im Irak unter Jesiden genauso üblich (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak: Heiratsregeln der Yeziden, 21. Mai 2013, S. 2) wie die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung geschilderte Heirat unter Cousins und Cousinen.

Die Datumsangaben zur Hochzeit stimmen überein. Die Zeugin nannte den März 2010, und der Kläger gab bei seiner Anhörung bei der Beklagten den ... März 2010 und in der mündlichen Verhandlung den "dritten Monat" an. Dass die Heiratsurkunde ein anderes Datum – nämlich den ... Mai 2010 – trägt, erklärt sich nach der insoweit glaubhaften Einlassung des Klägers in der mündlichen Verhandlung dadurch, dass die Registrierung der Ehe vor dem Personenstandsgericht deutlich nach der eigentlichen Feier stattfand. In diesen Geschehensablauf fügt sich ein, dass die Eheleute nach der Registrierung der Ehe am ... Mai 2010 gleichzeitig Personalausweise beantragten und erhielten.

Auch der Umstand, dass sie Zeugin wegen der Streitigkeiten zwischen den Familien der Eheleute nicht zur mündlichen Verhandlung erscheinen wollte, bestätigt letztlich das Bestehen der familiären Bande. Soweit der Kläger und die Zeugin widersprüchliche Angaben zu ihrem Zusammenleben gemacht haben, deutet dies nicht darauf hin, dass sie nie verheiratet waren. Im Kern stimmen sie im Übrigen insoweit überein, dass sie im Irak gemeinsam gelebt haben.

1.2 Da die Ehe nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung im März 2010 geschlossen wurde, bestand sie schon im Herkunftsland, wie es Art. 2 lit. i) i) Dublin II-VO verlangt. Das Bestehen einer familiären Lebens- oder Haushaltsgemeinschaft ist für das Begründen des Verwandtschaftsverhältnisses kraft Eheschließung nicht erforderlich (Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, 94. EL, Juni 2012, § 27a AsylVfG, Rn. 69 a. E.). Daher ist es unerheblich, dass der Kläger und die Zeugin unterschiedliche Angaben zu ihrem gemeinsamen Leben im Irak gemacht haben, selbst wenn man daraus schließen müsste, dass sie tatsächlich gar nicht zusammengelebt haben.

1.3 Über den Asylantrag der Zeugin vom ... Juli 2011 war am Tag der Asylantragstellung des Klägers – dem ... November 2011 – noch keine erste Sachentscheidung getroffen worden. Nötig ist eine Entscheidung, die auf der Prüfung der vorgebrachten Asylgründe beruht (Hailbronner, Ausländerrecht, 67. EL, Stand: Februar 2010, § 27a AsylVfG, Rn. 54). Der Bescheid vom ... September 2011, mit dem gegenüber der Zeugin die Durchführung eines Asylverfahrens abgelehnt und das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG verneint wurde, trifft keine solche Entscheidung. Darin wurde der Asylantrag der Zeugin nämlich gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG als Folgeantrag gewertet und das Asylgesuch allein wegen des angeblich grob fahrlässigen Unterlassens, sich nach dem ... Juli 2011 unverzüglich bei der zuständigen Aufnahmeeinrichtung zu melden, unter Hinweis auf § 51 Abs. 2 VwVfG abgelehnt. Eine Prüfung, ob das Vorbringen der Zeugin zu ihrem Verfolgungsschicksal schlüssig ist und einen Anspruch auf Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung begründen könnte, ist gerade nicht erfolgt.

Diesem Ergebnis steht nicht die Ansicht entgegen, dass eine Entscheidung in einem Folge- oder Zweitverfahren eine Sachentscheidung im Sinne von Art. 8 Dublin II-VO sei (Funke-Kaiser, a.a.O., Rn. 95; 106. EL, November 2013, Rn. 106 zu Art.10 Dublin III-VO). Auch wenn dies im Grundsatz zutreffen mag, weil einem Zweit- oder Folgeverfahren typischerweise ein Erstverfahren vorausgeht, in dem die Asylgründe inhaltlich bereits geprüft worden sind, liegt der Fall hier anders. Systematisch handelt es sich nämlich bei dem Asylantrag der Zeugin vom ... Juli 2011 nicht um einen Folgeantrag im Sinne von § 71 Abs. 1 AsylVfG, weil keine unanfechtbare Ablehnung eines früheren Asylantrags vorliegt. § 71 AsylVfG findet durch die Anordnung des § 20 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG lediglich "entsprechend[e]" Anwendung. Im vorliegenden Fall hätte auch nach der Entscheidung vom 12. September 2011 der Zweck von Art. 8 Dublin II-VO noch erreicht werden können. Er liegt – neben der Herstellung der Familieneinheit – darin, durch die kombinierte Prüfung der Anträge der Familienangehörigen eine eingehendere Prüfung und kombinierte Entscheidung zu ermöglichen (Hailbronner, a.a.O., Rn. 53). In seinem Urteil vom ... Oktober 2012 hat das VG Oldenburg erstmals die Asylgründe der Zeugin inhaltlich geprüft. Hierbei hätte der Kläger als Zeuge vernommen werden können. Umgekehrt kann die Ehefrau des hiesigen Klägers in seinem Verfahren als Zeugin vernommen werden. Dies wird durch den Aufenthalt beider im selben Mitgliedstaat erleichtert.

In der Sache entschieden hat die Beklagte im Bescheid vom ... September 2011 lediglich über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG a. F. Dies stellt jedoch keine Sachentscheidung im Sinne von Art. 8 Dublin II-VO dar, weil der Antrag auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG a. F. kein Asylantrag im Sinne von Art. 2 lit. c) Satz 1 Dublin II-VO ist. Danach ist ein Asylantrag der von einem Drittstaatsangehörigen gestellte Antrag, der als Ersuchen um internationalen Schutz eines Mitgliedstaats im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention angesehen werden kann. Ein Antrag auf subsidiären Schutz ist dagegen kein Asylantrag im Sinne von Art. 2 lit. c) Dublin II-VO (Funke-Kaiser, a.a.O., Rn. 34), weil § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG a. F. gerade nicht die völkerrechtliche Umsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen.

1.4 Der Kläger und seine Ehefrau wünschen, dass sein Asylantrag in Deutschland geprüft wird. Da sie verheiratet sind, kann unterstellt werden, dass sie dies bereits bei der – angeblich erzwungenen – Asylantragstellung des Klägers in Italien wünschten. Spätestens in dem Schreiben des Klägervertreters vom ... August 2012 (Bl. 78 der Asylakte des Klägers) wird dieser Wunsch ausdrücklich geäußert. Die Zeugin hat diesen Wunsch konkludent dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie den Klägervertreter beauftragte, einen Antrag auf Umverteilung vom Landkreis x nach x zu stellen. Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, die dafür sprechen, dass sie nicht mehr wünscht, dass das Asylverfahren in Deutschland geführt wird. Noch im Februar 2014 hat sie gemeinsam mit dem Kläger einen Termin beim Klägervertreter wahrgenommen, bei dem besprochen wurde, wie man mit der Ablehnung der Umverteilung umgehen wolle. Allein der Umstand, dass es die Zeugin gegenüber dem Kläger abgelehnt hat, vor Gericht zu erscheinen, kann nicht als Widerruf dieses Wunsches verstanden werden, weil der Familienstreit seine Ursache nicht im Verhalten der Eheleute hat, sondern auf Streitigkeiten zwischen den Familien wegen der Trennung der Schwester des Klägers von ihrem Ehemann (der der Bruder der Zeugin ist) zurückgeht. [...]