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VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 31.10.2013 - M 23 K 11.30228 - asyl.net: M21839
https://www.asyl.net/rsdb/M21839
Leitsatz:

Für Afghanen, die aus Europa heimgekehrt waren und in Afghanistan aufgrund der Vermutung, dass sie Geld haben müssten, bedroht wurden, besteht mangels Schutzmöglichkeiten durch die Behörden erhebliche Rückkehrgefahr.

Schlagwörter: Afghanistan, Rückkehrgefährdung, erhebliche individuelle Gefahr, Auslandsaufenthalt, kriminelle Übergriffe, kriminelles Unrecht, Schutzbereitschaft, Taliban, Schutzfähigkeit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Im hier zu entscheidenden Einzelfall des Klägers besteht nach Überzeugung des Gerichts in seinem Herkunftsland auf der Grundlage seines Vorbringens eine individuelle erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben und Freiheit im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung.

Unter Berücksichtigung seines Herkommens, seines Bildungsstands und seines Alters hält das Gericht den Vortrag des Klägers für glaubhaft. Der Kläger hat sowohl bei der Anhörung vor dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen übereinstimmende Angaben zu seinem Fluchtgrund gemacht und verbliebene Unklarheiten im Rahmen der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung ohne Zögern nachvollziehbar erläutert. Das Gericht ist daher aufgrund des Vorbringens des Klägers und des persönlichen Eindrucks, den es in der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewinnen konnte, davon überzeugt, dass sich die vom Kläger geschilderten Ereignisse tatsächlich zugetragen haben. Demnach ist davon auszugehen, dass der Kläger nach seiner Rückkehr nach Kabul im Sommer 2010 konkreten Angriffen und Bedrohungen ausgesetzt war, die vermutlich einen kriminellen Hintergrund hatten. So wurde der Kläger nach seinen Angaben auf dem Weg von Einkäufen nach Hause von einer Gruppe maskierter Personen angegriffen, die Geld von ihm verlangten und den Kläger sowie Familienangehörige mit dem Tod bzw. Entführung bedrohten, falls sie kein Geld bekämen. Es wurde ihm vorgehalten, dass seine Familie so "westlich" sei und sie deshalb viel Geld haben müssten. Der Kläger sei "aus den westlichen Ländern zurückgekehrt" und müsse dort viel Geld verdient haben. Auch der Vater des Klägers, der in Kabul als Zahnarzt tätig und ebenfalls bedroht worden war, seine Mutter sowie die weiteren Geschwister haben nach den glaubhaften Angaben des Klägers Afghanistan wegen der fortdauernden Bedrohungen zwischenzeitlich verlassen. Der Kläger gab hierzu in der mündlichen Verhandlung an, es habe verschiedene Vorfälle gegeben, es sei zielgerichtet gegen seine Familie vorgegangen worden und die Familie sei insgesamt bedroht gewesen.

Die Ausführungen des Klägers über die ihm drohenden Gefahren werden auch von der Auskunftslage gestützt. Wie sich aus einem Bericht der schwedischen Migrationsbehörde ergibt, gaben UNHCR-Mitarbeiter an, dass es vorkommen könne, dass Afghanen, die beispielsweise aus Europa heimkehrten, bedroht würden oder andere Probleme bekämen, weil von Heimkehrern vermutet werde, Geld zu haben (vgl. Schweden, Migrationsbehörde, "Afghanistan December 2009", Übersetzung im Auftrag des Österreichischen Bundesasylamts, März 2010, S. 37). Nach Angaben der Kabuler Polizei habe es in der Zeit vom 20. März 2008 bis zum 12. April 2008 in Kabul 109 Entführungen sowie Raubüberfälle gegeben. Die Dunkelziffer sei hoch. In einigen Fällen seien speziell Menschen entführt worden, die Angehörige in Europa hätten (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Informationszentrum Asyl und Migration, Afghanistan, Zur Sicherheitslage in ausgewählten Provinzen, u.a. Kabul, April 2009 S. 19). Im Jahr 2009 wurde festgestellt, dass Kabul die Provinz in Afghanistan mit der höchsten Kriminalitätsrate sei (vgl. Republik Österreich Bundesasylamt, "Die Sicherheitslage in Kabul", 2.11.2009, S. 13). Nach dem Bericht von D-A-CH (Kooperation Asylwesen Deutschland - Österreich - Schweiz, Sicherheitslage in Afghanistan: Vergleich dreier Provinzen - Balkh, Herat und Kabul, Juni 2010, dort S. 27 f.) stellt neben den Anschlägen von Aufständischen Gruppen vor allem die hohe Kriminalität in der Hauptstadt ein Sicherheitsproblem dar. Verbrechen wie Entführung, bewaffneter Raub und Mord würden immer häufiger auftreten. Generell habe Kabul im Landesvergleich eine hohe Kriminalitätsrate. Eine klare Trennung zwischen aufständischen und kriminellen Banden sei oft schwierig. Bewaffnete kriminelle Banden würden auch für das Schmuggeln von Waffen und Sprengstoff verantwortlich gemacht und sollten die Aufständischen mit Informationen beliefern. Einige kriminelle Aktivitäten, wie Drogenschmuggel und Kidnapping, dienten, dem afghanischen Innenministerium zufolge, der Finanzierung des Aufstands. Nach einem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 20. Oktober 2011 ("Afghanistan: Schutzfähigkeit der Afghan National Police und Sicherheitssituation in Kabul", vgl. dort S. 8) ist die Kriminalität in den vergangenen Jahren rapide angestiegen. Gemäß Studie der RiskMap 2011 sei Afghanistan zusammen mit Somalia anhand der Anzahl der Diebstähle, Kleinkriminalität und Überfälle, aber auch der Entführungen und bewaffneten Übergriffe sowie der Sachbeschädigungen, der Betrugsfälle und der Gefahr von Terroranschlägen als gefährlichste Länder der Welt klassifiziert worden. Auch vor diesem Hintergrund hält das Gericht die Ausführungen des Klägers für glaubhaft, da dieser aus einer vergleichsweise wohlhabenden Familie stammte und gerade von einem Studienaufenthalt in Deutschland zurückgekehrt war.

Der Kläger wäre vor der ihm im Falle einer Rückkehr weiterhin drohenden konkreten Gefahr von kriminellen Übergriffen auch durch den Staat nicht hinreichend geschützt. Eine Schutzfähigkeit des Staates vor Übergriffen Dritter ist im Hinblick auf die Verhältnisse im Herkunftsland des Klägers nicht gegeben. Wegen des schwachen Zustands des Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan häufig ohne Sanktionen (Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand März 2013, S. 13 f.). Die nationale Polizei (ANP) wird bei der Durchsetzung von Recht und Gesetz ihrer Aufgabe trotz erster Fortschritte insgesamt noch nicht gerecht. Auch wenn zwischenzeitlich der quantitative Aufwuchs der afghanischen Sicherheitskräfte voran geht, so kann der qualitative Aufwuchs hiermit nicht Schritt halten (Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand: Januar 2012, S. 11 f.). Dementsprechend muss weiterhin davon ausgegangen werden, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die ANP daher insgesamt noch kein Stabilitätsfaktor ist, sondern an vielen Orten sogar ein Unsicherheitsfaktor, in den die Bevölkerung wenig Vertrauen setzt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand: Februar 2011, S. 12 f). Schwächen der "Afghan National Police" sind dabei auch Korruption und Bestechung. In dem Themenpapier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe hierzu wird ausgeführt, die Tatsache, dass die Polizeikräfte äußerst korrupt seien, zeige sich auch darin, dass verhaftete Personen teilweise selbst dann, wenn Beweise für eine Tat vorlägen, am nächsten Tag wieder freigelassen würden. Diesbezüglich habe sich auch die deutsche Bundeswehr mehr als einmal empört gezeigt über die Freilassung von Verdächtigen, welche sie den afghanischen Behörden übergeben hätten. Weiter sei bekannt, dass afghanische Sicherheitskräfte, welche in abgelegenen Gebieten stationiert seien, den Taliban teilweise Informationen lieferten, um im Gegenzug dazu nicht von diesen angegriffen zu werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Schutzfähigkeit der Afghan National Police und Sicherheitssituation in Kabul, 20.10.2011; S. 5). Auch sei die Polizei in massive Menschenrechtsverletzungen verwickelt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe a.a.O., S. 6). Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger keinen wirksamen Schutz von staatlicher Seite, sei es durch die Polizei, sei es durch sonstige Strafverfolgungsbehörden, erlangen könnte. [...]