VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 24.04.2014 - 5 K 428/13 - asyl.net: M21898
https://www.asyl.net/rsdb/M21898
Leitsatz:

Einer Person, die in Afghanistan in der Provinz Kunar für die Polizei gearbeitet hat und von den Taliban bedroht wurde, droht im Falle der Rückkehr Verfolgung durch die Taliban.

Schlagwörter: Afghanistan, Kunar, nichtstaatliche Verfolgung, Taliban, Berufsgruppe, Polizei, Nordafghanistan, Nordostafghanistan, interne Fluchtalternative, interner Schutz,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3c Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Aufgrund des Eindrucks des Klägers in der mündlichen Verhandlung schenkt das Gericht dem Vorbringen des Klägers Glauben, dass er am 18.08.2010 (27.05.1389), als sein Vater mit seinem Auto, in dem auch sein Bruder war, in eine Sprengfalle geriet und beide dabei getötet wurden, selbst verletzt wurde und später mit einem Drohbrief der Taliban vom 24.09.2010 (02.07.1389) mit dem Tode bedroht wurde und deshalb Anfang Oktober 2010 aus Afghanistan ausgereist ist.

Zu dieser Einschätzung ist der erkennende Einzelrichter aufgrund des Vortrags des Klägers in der mündlichen Verhandlung und den von ihm vorgelegten Dokumenten und Fotografien gelangt. Dabei ist davon auszugehen, dass der Beweiswert von Dokumenten aus Afghanistan sehr begrenzt ist. Zur Echtheit von Dokumenten heißt es im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 10.01.2012 auf Seite 30, es gebe in erheblichem Umfang echte Dokumente unwahren Inhalts. So würden Pässe und Personenstandsurkunden von afghanischen Ministerien und Behörden ohne adäquaten Nachweis ausgestellt. Ursache dafür seien ein nach 23 Jahren Bürgerkrieg lückenhaftes Registerwesen, mangelnde administrative Qualifikation sowie weit verbreitete Korruption. Deshalb bestehe kaum Bedarf an gefälschten Dokumenten. Zentrales Problem der öffentlichen Verwaltung bleibe die Korruption. Afghanistan belegte im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International im Jahre 2010 den 176. Platz bei 178 ausgewerteten Staaten, im Jahre 2013 gemeinsam mit Nordkorea und Somalia den 175. und somit letzten Platz von 176 Ländern ( D-A-CH Kooperation Asylwesen Deutschland-Österreich-Schweiz, Afghanistan, 09.12.2013, S. 18). Im täglichen Leben ist die Zahlung von Schmiergeldern eher die Regel als die Ausnahme. Ursachen hierfür sind sehr geringe Gehälter im öffentlichen Dienst, eine überbordende Bürokratie sowie die Tatsache, dass der Staat durch die Unruhen und Kriege in den letzten drei Jahrzehnten in großem Ausmaß qualifizierte Staatsbedienstete verloren hat. Dementsprechend erteilt das Auswärtige Amt seit Jahren Afghanistan betreffend keine Auskünfte mehr über die Echtheit nichtamtlicher oder amtlicher Dokumente.

Das Gericht geht deshalb davon aus, dass in Asylverfahren vorgelegte Dokumente aus Afghanistan einen glaubhaften Vortrag stützen können, während denselben Dokumenten bei einem nicht stimmigen oder unglaubhaften Vortrag kein Beweiswert irgendwelcher Art zukommt. Vorliegend stützen die vorgelegten Dokumente den Vortrag des Klägers.

In Afghanistan und auch in der Provinz Kunar, der Heimatprovinz des Klägers, kann von den Taliban eine nichtstaatliche Verfolgung im Verständnis von § 3c Nr. 3 AsylVfG ausgehen, der gegenüber der afghanische Staat nicht zur entsprechenden Schutzgewährung in der Lage ist. Die Taliban sind eine Organisation, die einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets, nämlich Teile von Süd- und Ostafghanistans gewissermaßen beherrscht (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 10.01.2012, S. 12; UNHCR vom 11.11.2011, S. 2). Jedenfalls sind die Taliban als nichtsstaatlicher Akteur im Sinne von Art. 6 QRL zu qualifizieren, gegen den derzeit weder der afghanische Staat noch internationale Organisationen in der Lage sind, hinreichenden Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden zu bieten. Insoweit besteht für den Kläger eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für die konkrete Gefahr unmenschlicher Maßnahmen durch die Taliban.

Die Provinz Kunar (auch Konar oder Kunaraha) ist eine der 34 Provinzen Afghanistans. Sie liegt im Nordosten Afghanistans und grenzt im Norden an Nuristan, im Westen an Laghman, im Südwesten an Nangarhar und im Südosten an Pakistan. Die Hauptstadt ist Asad Abad. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird von der afghanischen Regierung auf etwa 400.000 geschätzt. Die Fläche der Provinz beträgt 4.300 bis 4.900 qkm (zum Vergleich hat das Saarland 2.569 qkm). Sie ist in 12 - 15 Distrikte unterteilt. Der Distrikt Wattapoor (Wata Pur) liegt nördlich der Hauptstadt Asad Abad und grenzt nach Norden an die Provinz Nuristan. Die Bevölkerung besteht zu 95 % aus Paschtunen sunnitischen Glaubens. Durch das Korengaltal westlich der Hauptstadt führt eine oft auch von Rebellen genutzte Transitstrecke. Zur Sicherheitslage in der Provinz Kunar heißt es in dem Extrakt des Bundesamtes zur Sicherheitslage in ausgewählten Provinzen Afghanistans vom April 2009, seit vielen Jahren nutzten Taliban, Anhänger von al-Qaida und islamische Splittergruppen das unübersichtliche Gebiet als Versteck. In Kunar sei mehrfach der Unterschlupf von Terrorchef Osama bin Laden vermutet worden. Von den US-Truppen sei die Provinz inoffiziell als "Enemy Central" bezeichnet worden. Das Terrain sei bergig und teilweise mit Nadelwald überwuchert, so dass Lager und Stützpunkte auch per Helikopter und Satellit nur schwer auszumachen seien. Die Grenze zu Pakistan sei praktisch nicht kontrollierbar. Dort böten die sogenannten "Tribal Areas", autonome Stammesgebiete der Paschtunen, militanten Gruppen einen sicheren Rückzugsort in Pakistan. Vom UNHCR werde die gesamte Provinz mit Ausnahme der Hauptstadt als unsicher eingestuft. Von der Provinzregierung und der Bevölkerung werde die Sicherheitslage im Vergleich zu anderen Provinzen als relativ gut eingeschätzt. Die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle fänden im Grenzgebiet zu Pakistan und entlang der Haupttransitstrecke statt. Eine Auswertung der sicherheitsrelevanten Vorfälle zwischen Januar 2008 und Februar 2009 habe ergeben, dass sich die erhebliche Anzahl von Anschlägen und Überfällen hauptsächlich gegen afghanische und internationale Sicherheitskräfte richteten und Zivilisten eher zufällig in Mitleidenschaft gezogen würden.

In den Jahren 2012/13 gehörte die Provinz Kunar zusammen mit Kandahar, Nangarhar, Helmand, Khost und Ghazni zu den am meisten umkämpften Provinzen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan Update vom 30.09.2013, Seite 10). Die Provinz gilt nach wie vor als Hochburg der Taliban und anderer militanter Gruppen. Der Trend in der Sicherheitslage geht in Richtung einer Verschärfung: Im ersten Quartal des Jahres 2013 wurden insgesamt 307 Vorfälle registriert, was im Vergleich zum Vorjahr (254 Vorfälle) einer Steigerung um 21 Prozent entspricht (Bundesasylamt Österreich, Basisinformationen Afghanistan, 30.09.2013, S. 23 f. mit Nachweisen).

Mit dieser Einschätzung stimmt das Vorbringen des Klägers, eines Paschtunen aus dem Distrikt Sarkani der Provinz Kunar überein. Er wurde als Mitglied der afghanischen Sicherheitskräfte von den Anschlag gegen seinen Vater und Bruder, die beide Polizisten waren und bei dem Anschlag ums Leben kamen, persönlich betroffen und kurze Zeit später als Person in seinem Haus bedroht.

Zur Überzeugung des Gerichts bot und bietet auch die Hauptstadt Kabul für den Kläger schon deshalb keinen dauerhaften internen Schutz im Verständnis von § 3e AsylVfG, weil er dort gearbeitet [hat] und wegen der dort aufgetretenen Probleme geflüchtet ist. Aufgrund des Umstandes, dass die Taliban im Großen und Ganzen dem Süden und Osten Afghanistans entstammen und untereinander einen regen Informationsaustausch pflegen (Dr. Mostafa Danesch an Nieders. OVG vom 30.04.2013, S. 6) ist zudem davon auszugehen, dass der Kläger auch wegen der Probleme in seiner Heimatprovinz früher oder später in Kabul entdeckt und bedroht wird. Da die Taliban als Glaubenskrieger auftreten und ihre potentiellen Gegner als "Ungläubige" verfolgen, droht dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan aus religiösen Gründen politische Verfolgung.

Der Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist deshalb stattzugeben. [...]