VG Cottbus

Merkliste
Zitieren als:
VG Cottbus, Beschluss vom 26.02.2014 - 3 L 303/13.A - asyl.net: M21929
https://www.asyl.net/rsdb/M21929
Leitsatz:

Die Rücknahme des Antrags auf Gewährung von Flüchtlingsschutz nur eines Mitglieds der Familie mit der Folge, dass für dieses Mitglied die Vorschriften der VO (EG) Nr. 343/2003 bzw. VO (EU) 604/2013 nicht anwendbar sind, kann unter dem Gesichtspunkt eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens beachtlich sein, wenn die Aussetzung der Abschiebung der übrigen Familienmitglieder in den nach den genannten Vorschriften zuständigen Mitgliedsstaat mit dem Argument der Einheit der Familie beantragt wird. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn die Rücknahme des Antrags für die Entscheidung, das Begehren im nationalen Verfahren zu prüfen, nicht kausal war.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Rücknahme, Asylantrag, Antrag auf Gewährung von Flüchtlingsschutz, Dublin II-VO, Dublin III-Verordnung, Dublinverfahren, Rechtsmissbrauch, Familieneinheit, subsidiärer Schutz, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Überstellung, Zurückschiebung, nationaler Abschiebungsschutz, Abschiebungsschutz, Übernahmeersuchen, Achtung des Familienlebens, Kausalität,
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

Nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt für den Fall, dass der Ausländer in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dabei ist die Antragsgegnerin bei dem Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG auch zu einer Entscheidung dazu berufen, ob der Abschiebung in der Person des Antragstellers liegende Gründe bzw. andere inlandsbezogene Abschiebungshindernisse entgegenstehen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2012 – 2 S 6.12 -, zitiert nach juris). Als insoweit heranzuziehender Maßstab folgt aus § 60 a Abs. 2 AufenthG, dass die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen ist, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Abschiebungshindernisse können sich aus den Regelungen der §§ 60 Abs. 1 bis 3, 5 bis 7 AufenthG ergeben oder aber auch aus den Grundrechten. Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen.

Ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis liegt hier mit der Entscheidung der Antragsgegnerin vom 23. Januar 2014 vor, wonach die den Antragsteller zu 2. betreffende Entscheidung nunmehr im nationalen Verfahren ergeht.

Bei dieser Sachlage überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragsteller, denn eine gemeinsame Überstellung der Familie nach Polen ist nachdem die Republik Polen mit Schreiben vom 02. Dezember 2013 die Übernahme des Antragstellers zu 2. abgelehnt hat, nicht mehr möglich. Unter Berücksichtigung des Schutzes der Familieneinheit durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK ist infolgedessen die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller anzuordnen (vgl. auch: VG Göttingen, Beschluss vom 17. Dezember 2013 – 2 B 912/13 – zitiert nach juris).

Insoweit ist auch einzustellen, dass der Grundsatz der Familieneinheit tragendes Prinzip der Zuständigkeitsbestimmung der gemäß Art. 49 der Verordnung (EU) 604/2013 noch anzuwendenden Verordnung (EG) Nr. 343/2003 ist. Dies ergibt sich schon aus dem Erwägungsgrund Nr. 6, wonach die Einheit der Familie gewahrt werden sollte, soweit dies mit den sonstigen Zielen vereinbar ist, die mit der Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrages zuständigen Mitgliedsstaats angestrebt werden. Dies findet seinen Ausdruck ferner in Art. 14 der Verordnung. Mit dieser Regelung soll erreicht werden, dass die Asylanträge sämtlicher Familienmitglieder in einem Mitgliedstaat geprüft werden.

Kann aber - wie vorliegend - die einheitliche Prüfung von Anträgen, in einem Mitgliedstaat nicht (mehr) erreicht werden, entspricht es auch den Intentionen der Verordnung, den Familienverband nicht zu trennen, sondern die Verfahren in einem Mitgliedstaat durchzuführen.

Dieser Gedanke spiegelt sich in den Erwägungen, die zur Grundlage der aktuellen Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-Verordnung) gemacht wurden, wieder. So wird in der Nummer 14 ausgeführt, dass die Achtung des Familienlebens eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein sollte, wenn sie diese Verordnung anwenden. Ferner heißt es in dem Erwägungsgrund 15, dass mit der gemeinsamen Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge auf internationalen Schutz durch ein und denselben Mitgliedstaat sichergestellt werden kann, dass die Anträge sorgfältig geprüft werden, diesbezügliche Entscheidung kohärent sind und dass die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden.

Zudem enthält die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 das dafür erforderliche rechtliche Instrumentarium, indem es den Mitgliedstaaten in Möglichkeit eröffnet, unabhängig von der Frage des zuständigen Mitgliedstaates einen Asylantrag zu prüfen, etwa wenn dies aus humanitären Gründen geboten ist, vgl. Art. 3 Abs. 2, Art. 15 Abs. 1 der Verordnung.

Die Trennung von der Antragsteller zu 1., 3. und 4. von ihrem Ehemann und Vater ist den Antragstellern nicht zumutbar. Anhaltspunkte dafür, dass bei einer Überstellung der Antragsteller zu 1., 3. und 4. in die Republik Polen die zeitliche Trennung der Familie nur kurz wäre, liegen nicht vor. Weder die zeitliche Dimension noch der Ausgang der jeweiligen Verfahren zur Erlangung von nationalem bzw. internationalem Schutz sind hinreichend absehbar. Es ist auch weder vorgetragen worden, noch anderweitig ersichtlich, dass der Antragsteller zu 2. - etwa unter Nutzung des ihm erteilten spanischen Visums - auch noch zum gegenwärtigen Zeitpunkt legal nach Polen einreisen kann und sich dort längere Zeit legal aufhalten darf.

Vorliegend ist freilich nicht unbeachtlich, dass der Antragsteller zu 2. mit Schreiben vom 29. November 2013 seinen Antrag auf Flüchtlingsschutz und unionsrechtlichen subsidiären Schutz zurückgenommen hat. Damit verbleibt nur eine Prüfung von nationalem Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG.

In einem solchen Fall ist dann, wenn Sachgründe für diesen verfahrensrechtlichen Schritt nicht vorgetragen werden und auch sonst nicht ersichtlich sind, zu prüfen, ob nicht damit einhergehende aufenthaltsrechtliche Vorteile etwa unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs unbeachtlich sind.

Sowohl nach nationalen Vorschriften aber auch europarechtlich ist anerkannt, dass eine Rechtsposition versagt werden kann, wenn sie rechtsmissbräuchlich erworben wurde (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 24. April 2008 – 1 C 20.07 -; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 05. Juli 2012 – 3 B 40.11 – Rdnr. 23, jeweils zitiert nach juris). Für das Gemeinschaftsrecht gilt, dass die missbräuchliche Berufung auf die Normen des Unionsrechts (hier im Hinblick auf die Wahrung der Familieneinheit) nicht gestattet ist und die nationalen Gerichte dem missbräuchlichen Verhalten der Betroffenen auf der Grundlage objektiver Kriterien Rechnung tragen können, um ihnen gegebenenfalls die Berufung auf das einschlägige Unionsrecht zu verwehren. Dies setzt zum einen voraus, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung unionsrechtlicher Bedingung das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde. Zum anderen setzt sie ein subjektives Element voraus, nämlich die Absicht, sich einem unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden (vgl. nur: Schlussantrag des Generalanwalts Wathelet in C-534/11, Rdnr. 73 ff, m.w.N. aus der Rechtsprechung des EuGH, insbesondere Urteil vom 09. März 1999, C-212/97; Urteil vom 14. Dezember 2000 – C- 110/99).

Ein solcher Fall könnte dann gegeben sein, wenn ein Familienmitglied den Antrag auf Gewährung von Flüchtlingsschutz und subsidiären internationalen Schutz zurücknimmt mit dem Ziel, die gemeinsame Überstellung der Mitglieder der Familien in den an sich nach der Verordnung (EG) 343/2003 bzw. nachfolgend der Verordnung (EU) 604/2013 zuständigen Staat unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Familieneinheit zu verhindern, da für diesen die Regelungen der genannten Bestimmungen nicht (mehr) gelten (vgl. EuGH, Urteil vom 03. Mai 2012, C-620/10 – Kastrati). In diesem Zusammenhang ist einzustellen, dass der Unionsgesetzgeber die Verordnung Nr. 343/2003 gerade aufgrund des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens erlassen hat, um die Behandlung der Asylanträge zu rationalisieren und zu verhindern, dass das System dadurch stockt, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge desselben Antragstellers bearbeiten müssen, und um die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des für die Behandlung des Asylantrages zuständigen Staates zu erhöhen und damit dem "forum shopping" zuvorzukommen, wobei all dies hauptsächlich bezweckt, die Bearbeitung der Anträge im Interesse sowohl der Asylbewerber als auch der teilnehmenden Staaten zu beschleunigen (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013, C-394/12, Rdnr. 53). Diese Ziel würde nicht erreicht, wenn – etwa bei einem Familienverband – allein der Umstand, dass ein Familienmitglied den unionsrechtlichen Schutz nicht mehr beanspruchen will, die Prüfung der verbleibenden Asylanträge in dem Land erfolgen müsste, in dem sich die Antragsteller gerade aufhalten.

Diesem Gesichtspunkt braucht vorliegend aber nicht weiter nachgegangen zu werden, da der Aspekt der Rücknahme des Antrags auf Flüchtlingsschutz und des internationalem subsidiären Flüchtlingsschutzes für die Fortführung des Verfahrens des Antragstellers zu 2. im nationalen Verfahren nicht kausal ist (vgl. zu diesem Gesichtspunkt: OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. Dezember 2011- 3 B 22.10 -, zitiert nach juris).

Zunächst wurde das erste Übernahmeverlangen an die polnische Seite wegen der Einreise des Antragstellers zu 2. mit einem spanischen Visum und des Umstandes, dass er in Polen keinen Asylantrag gestellt hatte, mit Schreiben vom 29. Oktober 2013 abschlägig beschieden. Mit dem zweiten Antrag hat die Antragsgegnerin die polnische Seite um Rücknahme des Antragstellers zu 2. unter dem Gesichtspunkt der Familienzusammenführung ersucht. Dieser Antrag wurde mit Schreiben vom 02. Dezember 2013 - auch unter Anführung von verfahrensseitigen Mängeln - abgelehnt.

Bei dem mit Schreiben vom 28. November 2013 eingeleiteten zweiten Übernahmeverfahren war aber das Schreiben des Antragstellers zu 2. vom 29. November 2013 noch nicht bekannt und spielte für die Entscheidung der polnischen Seite erkennbar auch keine Rolle.

In dem Fall, dass - wie hier – sei es, weil die Antragsgegnerin nicht innerhalb der sich aus Art. 17 der Verordnung (EG) 343/2003 ergebenden Frist von drei Monaten unter Berufung auf Art. 14 a der Verordnung bei Beachtung des Umstandes, dass der Antragstellers zu 2. ein spanisches Visum besessen hat oder aber unter Bezugnahme auf Art. 13, wenn erstmals in Deutschland ein Asylantrag eingereicht wurde, den Übernahmeantrag gestellt oder aber die polnische Seite ihrerseits den Aspekt des Vorrangs der Familieneinheit nicht hinreichend beachtet hat, mithin staatliche Entscheidungen die Prüfung der verbleibenden Anträge in verschiedenen Mitgliedsstaaten zur Folge haben, können die Antragsteller nicht mit hinreichenden Gründen darauf verweisen werden, eine Zusammenführung der Familie aus humanitären Gründen – hier in Polen - zu erreichen (vgl. hierzu bei einem bereits abgeschlossenen Asylverfahren eines Familienmitglieds: VG Hannover, Beschluss vom 09. Januar 2014 – 1 B 7895/13 -, zitiert nach juris).

Dass die Umstände, die ein Abschiebungshindernis begründen und damit Anlass für die Prüfung eines Selbsteintrittsrechts der Bundesrepublik Deutschland bilden, erst nach Erlass des hier in Rede stehenden Bescheides mit der darin aufgenommenen Abschiebungsanordnung eingetreten sind, ist für die Frage der Rechtmäßigkeit unbeachtlich. Das Bundesamt ist nämlich im Rahmen des Erlasses einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG zur Prüfung und gegebenenfalls zur Berücksichtigung von inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen verpflichtet. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der bereits vor Erlass der Abschiebungsanordnung vorliegenden, sondern auch für danach entstehende Abschiebungshindernisse bzw. deren Geltendmachung. Die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung beurteilt sich nicht abschließend nach der zum Zeitpunkt ihres Erlasses gegebenen Sachlage. Vielmehr hat das Bundesamt die weitere Entwicklung mit Unterstützung der Ausländerbehörde unter Kontrolle zu halten und darf im Einzelfall entsprechend - sei es durch eine Aufhebung der Anordnung, sei es durch eine Anweisung der Ausländerbehörde, von der Vollziehung vorübergehend abzusehen - reagieren (vgl. zu allem: Verwaltungsgericht Magdeburg, Beschluss vom 14. November 2013 – 3 B 238/13 -, zitiert nach juris). [...]