VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 03.04.2014 - 6 A 588/13.A (= ASYLMAGAZIN 7-8/2014, S. 260 ff.) - asyl.net: M21946
https://www.asyl.net/rsdb/M21946
Leitsatz:

1. Auch die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft ist als Erwerb einer neuen Staatsangehörigkeit i. S. d. Erlöschenstatbestandes in § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG anzusehen.

2. Bei dem Widerruf der Asylberechtigung in Form des Familienasyls gem. § 73 Abs. 2b AsylVfG handelt es sich um eine gebundene Entscheidung, die auch durch eine etwaige Versäumung der in § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG geregelten Prüfungsfrist nicht in eine Ermessensentscheidung umschlägt.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Einbürgerung, Familienasyl, Familienflüchtlingsschutz, deutsche Staatsangehörigkeit, neue Staatsangehörigkeit, Widerruf, Erlöschen, Ermessen, Stammberechtigter,
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 2 b, AsylVfG § 72 Abs. 1 Nr. 3, AsylVfG § 73 Abs. 2 a S. 1,
Auszüge:

[...]

Rechtsgrundlage für den Widerruf der Asylberechtigung in Form des Familienasyls ist § 73 Abs. 2b AsylVfG i.d.F. des Gesetzes vom 28.08.2013 (BGBl. I S. 3474). Danach ist die Asylberechtigung zwingend zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG vorliegen (§ 73 Abs. 2b Satz 1 AsylVfG) oder wenn die Anerkennung des Asylberechtigten, von dem die Anerkennung abgeleitet worden ist, erlischt, widerrufen oder zurückgenommen wird und der Ausländer nicht aus anderen Gründen als Asylberechtigter anerkannt werden könnte (§ 73 Abs. 2b Satz 2 AsylVfG). In beiden Fällen handelt es sich um eine gebundene Widerrufsentscheidung, die auch durch eine etwaige Versäumung der in § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG geregelten Prüfungsfrist nicht in eine Ermessensentscheidung umschlägt.

Das Verwaltungsgericht ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf der Asylberechtigung gemäß § 73 Abs. 2b Satz 1 i.V.m. § 26 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG nicht vorliegen. § 26 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG nimmt solche Familienangehörige von dem Anspruch auf Gewährung von Familienasyl aus, die die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder des § 3 Abs. 2 AsylVfG erfüllen. Dass es keine Anhaltspunkte für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 AsylVfG gibt - Verbrechen gegen Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit etc. - hat das Verwaltungsgericht zu Recht festgestellt. Dem Verwaltungsgericht ist auch insoweit zu folgen, als es die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG - entgegen der Annahme des Bundesamtes - nicht für gegeben erachtet. § 60 Abs. 8 Satz 1 Alternative 1 AufenthG scheidet aus, weil der Kläger - wovon alle Beteiligten ausgehen - nicht aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alternative 2 AufenthG liegen in der Person des Klägers ebenfalls nicht vor. Die zweite Alternative setzt voraus, dass der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Verwaltungsgericht ist in diesem Zusammenhang zutreffend davon ausgegangen, dass die Gesamtstrafenbildung im Urteil des Landgerichts B-Stadt vom 26. Februar 2009 diesen Anforderungen nicht genüge und die erforderliche konkrete Wiederholungsgefahr bei dem Kläger nicht mehr vorliege.

Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Auslegung des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alternative 2 AufenthG zwischenzeitlich durch Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 17/12 - (BVerwGE 146, 31) bestätigt. Danach kommt ein Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 Alternative 2 AufenthG bei einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe (§§ 53 bis 55 StGB) nur in Betracht, wenn eine der in die Gesamtstrafe einbezogenen Einzelstraftaten eine mindestens dreijährige Freiheitsstrafe ist. Darüber hinaus muss zusätzlich eine konkrete Wiederholungsgefahr bestehen, d. h. von dem Ausländer müssen in Zukunft neue vergleichbare Straftaten ernsthaft drohen.

Beide Voraussetzungen hat das Verwaltungsgericht zu Recht verneint. Das Verwaltungsgericht hat zum einen darauf abgestellt, dass es sich bei den abgeurteilten Vergehen um 32 Einzeltaten handele, die der Kläger zwischen Juli 2005 und September 2007 begangen habe und für die das Strafgericht auf Einzelstrafen zwischen einem Jahr und sechs Monaten (einmal), einem Jahr und drei Monaten (einmal), acht Monaten (zweimal), sieben Monaten (15 mal) erkannt und daraus eine Gesamtfreiheitsstrafe gebildet habe. Zum anderen hat das Verwaltungsgericht eine konkrete Wiederholungsgefahr unter Hinweis darauf verneint, dass der Kläger zu einer Aufklärung der Straftaten beigetragen und sich im offenen Strafvollzug eine neue berufliche Perspektive erarbeitet habe, aufgrund einer überaus günstigen Sozialprognose bereits nach der Hälfte der Strafverbüßung aus der Haft entlassen worden sei und im privaten Umfeld durch Gründung einer Familie eine deutliche Persönlichkeitsfestigung erfahren habe.

Es liegen allerdings die Voraussetzungen für einen Widerruf der Asylberechtigung gemäß § 73 Abs. 2b Satz 2 AsylVfG vor. Danach ist die Anerkennung als Asylberechtigter zu widerrufen, wenn die Anerkennung des sogenannten Stammberechtigten erlischt, widerrufen oder zurückgenommen wird und der Ausländer nicht aus anderen Gründen als Asylberechtigter anerkannt werden könnte. Die Anerkennung des stammberechtigten Vaters des Klägers als Asylberechtigter ist mit dessen Einbürgerung in den deutschen Staatsverband gemäß § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG erloschen.

Der Senat geht mit der überwiegend vertretenen Auffassung davon aus, dass auch die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft als Erwerb einer "neuen Staatsangehörigkeit" im Sinne des Erlöschenstatbestandes in § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG anzusehen ist. Ein sachlicher Grund für eine einschränkende Auslegung der vorbezeichneten Vorschrift in dem Sinne, dass der nachträgliche Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nicht von dem Erlöschenstatbestand erfasst werde, ist nicht ersichtlich (OVG Lüneburg, Beschluss vom 7. September 2010 - 11 LA 392/09 -, juris; Funke-Kaiser in: Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrensgesetz, Stand: Januar 2014, Band 3, II - § 72 Rdnr. 32; Wolff in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, Kommentar, 1. Auflage, 2008, § 72 Rdnr. 19; Marx, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 7. Auflage, 2009, § 72 Rdnr. 53; offen gelassen in: BVerwG, Beschluss vom 16. Dezember 2008 - 10 B 12/08 -, juris). Auch die Vertreter der Auffassung, dass die deutsche Staatsangehörigkeit keine "neue Staatsangehörigkeit" im Sinne des § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG sei, gehen davon aus, dass sich die Asylberechtigung "eo ipso" bzw. gemäß § 43 Abs. 2 VwVfG "in anderer Weise" erledige, so dass die Anerkennung als Familienasylberechtigter zwingend nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zu widerrufen wäre (so ausdrücklich: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. September 2008 - 8 A 816/08.A -, juris; Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, Kommentar, 10. Auflage, 2013, § 72 AsylVfG Rdnr. 24 und § 73 AsylVfG Rdnr. 17; vgl. dazu auch: OVG Hamburg, Beschluss vom 19. Juni 2013 - 1 Bf 17/13.AZ -, AuAS 2013, 189).

Eine teleologische Reduktion des § 73 Abs. 2b Satz 2 AsylVfG dergestalt, dass ein Widerruf der Asylanerkennung im Fall des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit durch den Stammberechtigten ausscheidet - so die Auffassung des Verwaltungsgerichts in der angegriffenen Entscheidung - kommt aus der Sicht des Senats nicht in Betracht. Eine solche Einschränkung ist nicht etwa wegen schützenswerter Belange der Familienangehörigen des Eingebürgerten erforderlich. Es ist verfassungsrechtlich schon nicht geboten, Familienangehörigen eines Asylberechtigten ohne den Nachweis persönlicher Verfolgungsgründe eine eigene Asylberechtigung oder eine damit vergleichbare Rechtsstellung einzuräumen (BVerfG, Beschlüsse vom 3. Juni 1991 - 2 BvR 170/91 -, NVwZ 1991, 978, und vom 14. Dezember 2000 - 2 BvR 517/99 -, juris, Rdnr. 3). Mit dem Widerruf ist auch nicht automatisch eine Beendigung der Aufenthaltsberechtigung verbunden. Außerdem besteht die Möglichkeit, Ehegatten und minderjährige Kinder gemäß § 10 Abs. 2 StAG unter erleichterten Voraussetzungen mit einzubürgern; volljährige Kinder haben - soweit sie die Voraussetzungen erfüllen - einen eigenen Einbürgerungsanspruch nach § 10 Abs. 1 StAG. Etwaige eigene Verfolgungsgründe des Familienangehörigen werden zwangsläufig bei der Entscheidung über den Widerruf der Asylberechtigung geprüft.

Das Bundesamt ist in dem angefochtenen Bescheid vom 20. April 2011 zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger nicht aus anderen Gründen als Asylberechtigter anerkannt werden kann. Dass der im Alter von 12 Jahren ausgereiste Kläger vor seiner Ausreise aus dem Iran von politischen Verfolgungsmaßnahmen betroffen war, lässt sich seinem Vortrag im Verwaltungsverfahren und im Gerichtsverfahren nicht entnehmen. Das Vorbringen des Klägers zu exilpolitischen Aktivitäten im Schreiben seines Bevollmächtigten vom 25. Februar 2011 bzw. der als Anlage beigefügten email des Klägers vom 3. Februar 2011 hat das Bundesamt im Ergebnis zu Recht nicht als ausreichend betrachtet, um von einer Rückkehrgefährdung des Klägers ausgehen zu können. Detailliertere Angaben zu seinen exilpolitischen Aktivitäten hat der Kläger auch im Gerichtsverfahren nicht gemacht. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat er sich auf Befragen lediglich dahingehend geäußert, er habe vor dem iranischen Generalkonsulat in Frankfurt demonstriert; das sei zuletzt im Jahre 2009 gewesen anlässlich der Wahlen im Iran. Aus der im Zulassungsantragsverfahren vorgetragenen wiederholten Inhaftierung und Misshandlung des Vaters sowie der Verletzung der Mutter im Zuge der Verfolgung des Vaters lässt sich eine Rückkehrgefährdung für den Kläger - nahezu 20 Jahre nach Ausreise der Familie aus dem Iran - nicht ohne Weiteres ableiten.

Der Kläger kann sich in diesem Zusammenhang auch nicht auf den Ausnahmetatbestand des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG berufen. Danach ist ein Widerruf der Asylberechtigung ausgeschlossen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in seinen Heimatstaat abzulehnen. Daraus folgt, dass die Ausnahmeregelung des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG auf diejenigen Fälle beschränkt ist, in denen ein Asylberechtigter ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes eigenes Vorverfolgungsschicksal erlitten hat und dem deshalb selbst lange Jahre danach trotz veränderter Verhältnisse eine Rückkehr nicht zumutbar ist (Hailbronner, a.a.O., Band 2, § 73 Rdnr. 64 m.w.N.; Renner/Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 73 Rdnr. 13). Dem Kläger, der kein eigenes Vorverfolgungsschicksal erlitten hat, kommt die Ausnahmeregelung des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG nicht zugute.

Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Asylberechtigung des Klägers gemäß § 73 Abs. 2b Satz 2 i.V.m. § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG liegen damit vor, ohne dass es einer Ermessensentscheidung des Bundesamtes bedarf.

Dabei kann die Frage, ob die in § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG normierte Pflicht zur Prüfung der Voraussetzungen für einen Widerruf nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung auf den Widerruf der Anerkennung von Familienasyl gemäß § 73 Abs. 2b AsylVfG anwendbar ist, dahingestellt bleiben. Auch nach Ablauf der Frist des § 73 Abs. 2a AsylVfG bleibt die erstmalige Entscheidung des Bundesamtes über den Widerruf ein gebundener Verwaltungsakt und schlägt nicht in eine Ermessensentscheidung um. Die Vorschrift des § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG knüpft den Übergang zu einer Ermessensentscheidung nicht bereits an den Zeitablauf von drei Jahren, sondern verlangt zudem eine vorherige sachliche Prüfung und Verneinung der Widerrufs- und Rücknahmevoraussetzungen seitens des Bundesamtes durch eine formalisierte Negativentscheidung. Erst nach negativem Abschluss der von Amts wegen gebotenen Widerrufs- oder Rücknahmeprüfung steht in einem späteren Widerrufs- oder Rücknahmeverfahren die Aufhebungsentscheidung im Ermessen des Bundesamtes (BVerwG, Urteil vom 5. Juni 2012 - 10 C 4/11 -, BVerwGE 143, 183).

Aus den vorgenannten Gründen hat das Bundesamt auch zu Recht die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (jetzt: Zuerkennung des internationalen Schutzes) und das Vorliegen von Abschiebungsverboten verneint. [...]