VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 04.04.2014 - 10 C 12.497 - asyl.net: M22011
https://www.asyl.net/rsdb/M22011
Leitsatz:

Bei der Ermessensentscheidung, ob nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von den Voraussetzungen von § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG abgesehen wird, sind neben den Gesichtspunkten, die es nahelegen, an diesen Voraussetzungen festzuhalten, auch die Aspekte zu berücksichtigen, die dafür sprechen, auf ihre Einhaltung zu verzichten und den begehrten Aufenthaltstitel zu erteilen.

Schlagwörter: Ermessen, Ermessensdefizit, Regelerteilungsvoraussetzung, privates Interesse, öffentliches Interesse, Ausweisungsgrund, Straftat, strafrechtliche Verurteilung, Vorstrafe, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3, AufenthG § 5 Abs. 3 S. 2, AufenthG § 5 Abs. 1, AufenthG § 5 Abs. 2, AufenthG § 25 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

4. Liegen damit die Voraussetzungen von § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 und 2 AufenthG nicht vor, ist damit deren Erteilung zwar nicht zwingend ausgeschlossen. Denn nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kann insbesondere in den Fällen des § 25 Abs. 5 AufenthG von einer Anwendung von § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG abgesehen werden. Die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis steht damit jedoch im Ermessen der Beklagten. Der Kläger kann daher lediglich eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG beanspruchen. Dementsprechend kann nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO das Verwaltungsgericht die Beklagte nur verpflichten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

Der diesbezügliche Antrag des Klägers, der in seinem weiterreichenden Antrag, die Beklagte zu verpflichten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG, hilfsweise nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen, enthalten ist, hat hinreichende Aussicht auf Erfolg. Denn die Beklagte hat ihr Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt. Die Ermessensausübung, die das Verwaltungsgericht daraufhin überprüft, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermessensermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 114 Satz 1 VwGO), leidet an einem Ermessensdefizit, weil die Beklagte nicht alle für die Ermessensentscheidung wesentlichen Gesichtspunkte berücksichtigt hat (vgl. BVerwG, U.v. 18.5.1990 – 8 C 48.88 – juris Rn. 17).

Bei der Ermessensentscheidung, ob nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von den Voraussetzungen von § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG abgesehen wird, sind neben den Gesichtspunkten, die es nahelegen, an diesen Voraussetzungen festzuhalten, auch die Aspekte zu berücksichtigen, die dafür sprechen, auf ihre Einhaltung zu verzichten und die begehrte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Insbesondere ist abzuwägen, welches Gewicht dem öffentlichen Interesse an der Erfüllung der jeweiligen Regelerteilungsvoraussetzung gegenüber dem privaten Interesse des Ausländers an der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zukommt (vgl. NdsOVG, B.v. 19.12.2013 – 11 LA 139/13 – juris Rn. 8). Darüber hinaus sind die Wertungen des Gesetzgebers in Erwägung zu ziehen, die der Schaffung der Möglichkeit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG zugrunde liegen und die sich aus dem systematischen Zusammenhang ergeben, in dem diese Regelung steht (vgl. NdsOVG a.a.O. Rn. 8 f.). Diesen Anforderungen genügt die Ermessensausübung durch die Beklagte jedoch nicht.

Die Beklagte hat ihr Ermessen dahingehend ausgeübt, dass sie von der Erfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht abgesehen hat. Sie hat dies damit begründet, dass das öffentliche Interesse an der Erfüllung dieser Voraussetzungen zweifelsfrei das private Interesse am Verzicht auf deren Vorliegen überwiege. Diesem öffentlichen Interesse stünden keine Aspekte entgegen, die es erforderlich machten, ihm nicht mehr den Vorrang einzuräumen.

Zwar wird das in den eigentlichen Ermessenserwägungen nicht näher erläuterte öffentliche Interesse an der Einhaltung der Voraussetzungen an anderer Stelle im Ablehnungsbescheid vom 11. November 2011 insoweit konkretisiert, als die Beklagte darlegt, dass im Hinblick auf die Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von fünf Jahren und drei Monaten ein Ausweisungsgrund nach § 53 Nr. 1 AufenthG vorliege, dass keine Veranlassung bestehe, vom Erfordernis der Passpflicht abzusehen, weil der Kläger nicht nachgewiesen habe, dass es ihm in zumutbarer Weise nicht möglich sei, einen Pass zu beschaffen, und dass der Lebensunterhalt des Klägers nicht gesichert sei. Die Beklagte durfte schließlich im Hinblick auf den systematischen Zusammenhang dieser Regelung mit § 25 Abs. 5 AufenthG bei der Gewichtung des öffentlichen Interesses am Nichtvorliegen eines Ausweisungsgrunds die gesetzgeberische Wertung in § 25 Abs. 3 Satz 2 Buchstabe b AufenthG a.F. und § 25 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AufenthG berücksichtigen, nach der eine Aufenthaltserlaubnis bei schwerwiegenden Gründen für die Annahme, dass ein Ausländer eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen hat, grundsätzlich nicht erteilt werden soll (vgl. NdsOVG a.a.O. Rn. 9). Sie hat insoweit aber unberücksichtigt gelassen, dass die Regelung des § 25 Abs. 5 AufenthG, die, wie ausgeführt, entgegen der Auffassung der Beklagten neben der des § 25 Abs. 3 AufenthG anwendbar bleibt (vgl. BVerwG, U.v. 27.6.2006 – 1 C 14/05 – juris Rn. 17), die Möglichkeit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG gerade dann vorsieht, wenn der betreffende Ausländer nicht nur einen Ausweisungsgrund verwirklicht hat, sondern deswegen sogar ausgewiesen worden ist, und dass nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG von dieser Möglichkeit in der Regel auch Gebrauch zu machen ist, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist.

Schließlich hat die Beklagte nicht nur diese für ein Absehen von den Voraussetzungen nach § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG sprechenden Aspekte des öffentlichen Interesses, sondern auch das private Interesse des Klägers nur unzureichend in Erwägung gezogen. Sie beschränkt sich insoweit auf die Feststellung, dass Gesichtspunkte, die es im privaten Interesse des Klägers erforderlich machen könnten, das öffentliche Interesse am Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zurücktreten zu lassen, weder erkennbar noch vorgetragen seien. Auf die zugunsten des Klägers zu berücksichtigenden und auch vor Erlass des Ablehnungsbescheids vom 11. November 2011 mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 19. Oktober 2011, 28. Oktober 2011 und 3. November 2011 geltend gemachten Gesichtspunkte, dass der Kläger eine Ausbildung absolviere, im Rahmen einer Nebentätigkeit 420,- Euro brutto verdiene, deshalb sozial- und insbesondere krankenversichert sei, aufgrund eines Nießbrauchsrechts mietfrei wohne und tatsächlich keine öffentlichen Mittel zur Sicherung seines Lebensunterhalts in Anspruch nehme und dass er die ihm auferlegte Alkoholtherapie im Bezirkskrankenhaus erfolgreich abgeschlossen habe und mit Ausnahme zweier nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellter Ermittlungsverfahren seit seiner Entlassung strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung getreten sei, geht die Beklagte hingegen nicht ein. [...]