VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.05.2002 - A 12 S 196/00 - asyl.net: M2201
https://www.asyl.net/rsdb/M2201
Leitsatz:

1. Kurden steht derzeit und auf absehbare Zukunft weiterhin eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung (Bestätigung der ständigen Senatsrechtsprechung).

2. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative sind auch mit Blick auf die aktuelle Wirtschaftslage in der Türkei weiterhin erfüllt.

3. Die inländische Fluchtalternative entfällt nicht dadurch, dass ein Kurde sich dem Dorfschützeramt entzogen hat (Bestätigung und Fortschreibung der Senatsrechtsprechung, zuletzt Urteil vom 02.07.1998 - A 12 S 3033/96 -). Dies gilt auch bei Berücksichtigung der Praxis der Informationsgewinnung der türkischen Sicherheitsbehörden (Datenbank/Fisleme).

4. In die Türkei zurückkehrende Asylbewerber kurdischer Volkszugehörigkeit sind - sofern im Einzelfall keine Besonderheiten vorliegen - hinreichend sicher davor, bei Wiedereinreise asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt zu sein (Bestätigung und Fortschreibung der Senatsrechtsprechung, zuletzt Urteil vom 27.07.2001 - A 12 S 228/99 -).(Amtliche Leitsätze)

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Dorfschützer, Haft, Folter, Glaubwürdigkeit, Gruppenverfolgung, Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit, Interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Öcalan
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53
Auszüge:

Der Annahme einer hinreichenden Sicherheit im Westen der Türkei steht nicht der Umstand entgegen, dass der Kläger geltend gemacht hat, im (...) festgenommen woden zu sein. Denn insoweit ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass es zu einer Anklage gekommen und er erst freigelassen worden wäre, nachdem er einem Staatsanwalt oder Richter vogeführt wurde. Es spricht danach nichts dafür, dass gegen ihn ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Deshalb ist davon auszugehen, dass seine Festnahme nicht registriert und über ihn keine Akte angelegt worden ist und die übergeordneten Instanzen nicht informiert wurden, so dass selbst bei routinemäßigen Nachforschungen der Sicherheitsbehörden außerhalb seines Heimatortes die von ihm geschilderte Festnahme nicht festgestellt werden kann (Kaya, 17.03.1997 an VG Stuttgart und 25.07.1998 an VG Berlin; s.a. 18.08.1998 an VG Würzburg). Dies gilt nach Auffassung des Senats auch, wenn diese Nachforschungen über das Datennetz der türkischen Polizei durchgeführt werden sollten.

Nach den vorliegenden Erkenntnissen ist davon auszugehen, dass die türkische Polizei seit 1992 über eine zentral abfragbare Datenbank verfügt, auf die im Zuge der weit fortgeschrittenen Vernetzung inzwischen wohl die Mehrzahl der Polizeireviere, darunter auch alle wichtigen Grenzstationen, jederzeit Zugriff nehmen kann (Rumpf, 03.08.1998 an VG Freiburg, 17.05.1999 an VG Hannover, 27.09.1999 an VG Freiburg und 23.01.2001 an VG Augsburg; Oberdiek, 05.05.1999 an VG Stuttgart; Taylan, Aussage vom 15.05.1997 vor dem VG Gießen). Zu den darin erfassten Informationen gehören polizeilich gesuchte Personen nebst den klassischen Identifikationsmerkmalen (neuerdings einschließlich des genetischen Fingerabdrucks), gestohlene Kraftfahrzeuge, in Polizeihaft befindliche Personen, verkehrsrelevante Informationen, Strafpunkte von Verkehrssündern, Ausreiseverbote sowie Informationen über verlorene Pässe (Rumpf, 23.01.2001, a.a.O.). Soweit Redeker (Bericht über die Teilnahme an einer Informationsreise der Gesellschaft für Ausländer- und Asylrecht e. V. nach Istanbul, 27. - 31.03.1998) die Angaben der Generalsekretärin der Organisation TOHAV wiedergibt, wonach jegliche Festnahme und Verbringung zur Polizei in einem zentralen Computer vermerkt sei, auf den die Polizei landesweit Zugriff habe, und selbstverständlich dort auch Sistierungen auf der Polizeiwache im Südosten der Türkei vermerkt seien (s.a. Rumpf, 27.09.1999, a.a.O.), vermag der Senat dem nicht zu folgen. Abgesehen davon, dass diese These nicht näher belegt wird, ist es nicht plausibel, dass eine Festnahme, von der die Staatsanwaltschaft nicht informiert worden ist, in einer zentralen Datenbank erfasst wird. Kaya weist darauf hin (25.07.1998, a.a.O.), dass der (handelnde) Sicherheitsbeamte sich dem Vorwurf ungesetzlichen Verhaltens aussetzt, wenn er diese Festnahme bestätigt, und hält es deshalb sogar für zweifelhaft, dass sie bei einer direkten Nachfrage bei der Wache im Heimatdorf festgestellt werden kann. Um so weniger aber kann danach davon ausgegangen werden, dass derartige Festnahmen Eingang in die zentrale Datenbank finden (s.a. VG Berlin, 28.10.1999, Informationsaustausch mit Vertretern der Rechtsanwaltskammern und Menschenrechtsorganisationen aus den Südostprovinzen der Türkei). Nach Angaben eines türkischen Rechtsanwalts sei eine legale Ausreise möglich, sofern der Betreffende lediglich auf der untersten polizeilichen Ebene gesucht werde; in die Computer <an der Grenze> kämen nur diejenigen, die offiziell per Haftbefehl gesucht würden; vgl. auch Oberdiek, 29.04.1999 an VG Berlin). Der Senat geht danach davon aus, dass in den Datenbeständen - soweit hier von Bedeutung - jedenfalls Informationen über Haftbefehle, aber auch über etwaige Ein- oder Ausreiseverbote, nicht aber jedwede Festnahmen registriert sein werden (vgl. Rumpf, 23.01.2001, a.a.O.; Oberdiek, 05.05.1999, a.a.O.; s.a. Senatsurteile vom 24.02.2000 - A 12 S 1825/97 - und vom 22.03.2001 - A .12 S 280100 -). In welchem Umfang im Übrigen weitere Informationen Eingang in die Datenbestände genommen haben bzw. nehmen, lässt sich - schon wegen der Weite der wohl nur in Gestalt einer polizeilichen Generalklausel vorhandenen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage (siehe hierzu ebenfalls Rumpf, 27.07.1999 und 23.01.2001, jeweils a.a.O.) - weiterhin nicht abschließend beurteilen (Senatsurteile vom 24.02.2000 und vom 22.03.2001, jeweils a.a.O.).

Auch darüber hinaus bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Verweigerer des Dorfschützeramtes - unabhängig davon, ob sie kurzfristig inhaftiert worden sind - bei den jeweiligen örtlichen Polizeibehörden im Südosten der Türkei in einer Weise registriert sind, dass sie bei einer Nachfrage durch Sicherheitsbehörden aus dem Westen mit menschenrechtswidriger Behandlung zu rechnen hätten. Zwar ist davon auszugehen, dass Polizei, Jandarma und Geheimdienst Datenblätter (Fisleme) über Politiker, Personen in wichtigen Positionen sowie auffällig gewordene Personen führen, die zum Beispiel auch Angaben über Verfahren, die mit Freispruch endeten, oder über Vorstrafen, die im Strafregister längst gelöscht wurden, enthalten können. Eine gesetzliche Grundlage für diese "Aufschreibungen" gibt es nicht, auch werden Erkenntnisse aus solchen "Aufschreibungen" von Gerichten nicht als Beweismittel zugelassen (Auswärtiges Amt, 13.03.1997 an VG Gießen, 14.10.1997 an VG Bremen und an VG Gießen, 10.06.1998 an VG Stuttgart, 31.03.1999 an VG Mainz; ai, 27.07.1999 an VG Oldenburg und 23.11.2000 an VG Augsburg; Rumpf, 27.09.1999 und 23.01.2001, jeweils a.a.O.: jede Vernehmung und jeder sonstige Vorgang auf der Wache wird registriert). Hinweise dafür, dass Fisleme in einem zentralen Computer abrufbar sind, gibt es nicht (Auswärtiges Amt, 07.01.1999 an VG Freiburg). Rumpf (a.a.O.) gibt Aussagen von Bezugspersonen wieder, die von einer "verdeckten Registrierungspraxis", die "unter der Hand" fortgeführt werde, sprechen.

Unabhängig davon, dass nicht erkennbar ist, wie vor diesem Hintergrund Umfang und Qualität der gesammelten Informationen im Einzelnen justiziabel ermittelt werden können, und unabhängig von der Frage, ob einfache Verweigerer des Dorfschützeramtes insoweit überhaupt erfasst sind, würde eine entsprechende Praxis nach Auffassung des Senats jedenfalls nicht zu einer Gefährdung im Westen der Türkei führen. Der Senat geht vielmehr davon aus, dass ein Kurde nur dann, wenn sich aus den bei der örtlichen Polizeibehörde vorhandenen Informationen Anhaltspunkte für einen fortbestehenden Separatismusverdacht ergeben, im Westen oder bei einer Rückkehr mit einer intensiveren Befragung, unter Umständen auch mit menschenrechtswidriger Behandlung rechnen muss (so auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25.01.2000, a.a.O., RdNr. 402). Diese Voraussetzungen sind bei einem Kurden, der sich dem Dorfschützeramt entzogen hat, ohne das Hinzutreten weiterer Umstände nicht gegeben.

Maßgebend für diese Einschätzung ist der Umstand, dass greifbare Anhaltspunkte dafür, dass derartige Erkenntnisse ohne hinreichend konkreten PKK-Verdacht im Westen der Türkei zu asylrelevanten Maßnahmen geführt hätten, nicht vorliegen. Auch den angeführten Stellungnahmen lassen sich hierfür keine Referenzfälle entnehmen. Dem kommt um so mehr Bedeutung zu, als von der weiten Praxis polizeilicher Registrierung (Rumpf, 27.09.1999 und 23.01.2001, jeweils a.a.O.) angesichts der Häufigkeit der Festnahmen im Südosten der Türkei nahezu zwangsläufig eine Vielzahl der in den Westen der Türkei übergesiedelten (bzw. nach erfolgloser Durchführung eines Asylverfahrens zurückgekehrten) Kurden betroffen gewesen sein muss; es sind jedoch über wenige Einzelfälle hinaus keine asylerheblichen Beeinträchtigungen bekannt geworden (vgl. zuletzt Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20.03.2002). Insbesondere gibt es vor dem Hintergrund dessen, dass in einer großen Zahl von Fällen Kurden ihre Heimat im Südosten der Türkei verlassen haben, weil sie dem auf sie ausgeübten Druck zur Übernahme des Dorfschützeramtes entgehen wollten (vgl. die o.a. Erkenntnisquellen), zu wenige Referenzfälle, um eine erhöhte Gefährdung dieses Personenkreises im Westen der Türkei auch bei Berücksichtigung der Praxis der Informationsgewinnung über eine Nachfrage am Heimatort annehmen zu können (vgl. auch Niedersächsisches OVG, Urteil vom 26.11.1998, a.a.O.).

Nach alledem vermag der Senat dem OVG Nordrhein-Westfalen nicht zu folgen, das davon ausgeht (vgl. die Fortführung der Rechtsprechung im Urteil vom 25.01.2000, a.a.O., RdNrn. 250 ff., und im Beschluss vom 30.01.2001, a.a.O. <vor dem Hintergrund des sich möglicherweise abzeichnenden Abbaus der freiwilligen Dorfschützerverbände in Ostanatolien>, dass derjenige, der sich nicht lediglich im Kollektiv mit der auf dem Dorfplatz versammelten Dorfbevölkerung geweigert habe, das Dorfschützeramt zu übernehmen, sondern im Gefolge derartigen Kollektivverhaltens festgenommen worden sei und sich dann im Polizeigewahrsam erneut (oder auch erstmalig) geweigert habe, das Dorfschützeramt zu übernehmen, im Regelfall in einen PKK-Verdacht gerate und auch nach einer Umsiedlung in die Westtürkei vor Verfolgung nicht sicher sei. Demgegenüber ist der Senat weiterhin (vgl. Urteil vom 02.07.1998, a.a.O.) der Auffassung, dass die Ablehnung des Dorfschützeramtes von den Sicherheitskräften zwar als Illoyalität gegenüber dem Staat angesehen wird. Andererseits ist aber auch den staatlichen Stellen bewusst, dass die Dorfschützer bevorzugte Ziele der Angriffe der PKK sind, wobei diese auch mit Frauen und Kindern der Dorfschützer kein Erbarmen hat. Auch das OVG Nordrhein-Westfalen hält es nicht für ausgeschlossen, dass diese unstreitige Situation im Einzelfall von den Sicherheitskräften als "Entschuldigung" akzeptiert werden kann. Hinzu kommt aber noch, dass den Sicherheitskräften durchaus bewusst ist, dass die Bevölkerung Südost-Anatoliens weitgehend PKK-Sympathien hat (vgl. Senatsurteil vom 02.04.1998, a.a.O.), was sich also nicht erst in einer Verweigerung des Dorfschützeramtes manifestieren muss. Insoweit gilt nichts anderes als für jene marginalen Unterstützungshandlungen zugunsten der PKK, wie sie im Südosten der Türkei generell an der Tagesordnung sind und die nicht zu einem konkreten Verdacht der Unterstützung der PKK und zu einer landesweiten Verfolgung führen (Senatsurteil vom 04.11.1996 - A 12 S 3220/95 -). Auch lässt sich der Erkenntnislage entnehmen, dass Repressalien wegen der Weigerung, das Dorfschützeramt auszuüben, nicht in erster Linie der Bekämpfung einer PKK-Sympathie als solcher beim Betreffenden gelten. Vielmehr soll - an militärtaktischen Überlegungen ausgerichtet - erreicht werden, dass der Betreffende eine eindeutige Position bezieht, sei es, dass er sich als Dorfschützer gegen die PKK stellt, oder zur PKK "in die Berge geht" und dadurch eindeutig bekämpft werden kann oder die Gegend verlässt, womit der PKK dort die Unterstützungsmöglichkeiten genommen sind (vgl. Senatsurteil vom 02.07.1998, a.a.O.).