VG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
VG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 03.07.2014 - VG 6 L 373/14.A, VG 6 L 373/14.A (PKH) - asyl.net: M22073
https://www.asyl.net/rsdb/M22073
Leitsatz:

1. Bei dem rechtzeitig gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO i. V. m. § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen eine auf der Grundlage des § 34a Abs 1 AsylVfG ergangene Abschiebungsanordnung handelt es sich um einen Rechtsbehelf im Sinne der zweiten Variante des Artikels 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Dublin II VO, der aufschiebende Wirkung hat.

2. Der Lauf der Überstellungsfrist des Artikels 20 Abs. 2 Dublin II VO wird nach der zweiten Variante des Artikels 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Dublin II VO erst durch eine (ablehnende) gerichtliche Entscheidung über einen rechtzeitig gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO i.V.m. § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG in Gang gesetzt.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: aufschiebende Wirkung, Suspensiveffekt, Rechtsbehelf, Rechtsmittel, Überstellungsfrist, Dublinverfahren, Dublin II-VO, Übernahmeersuchen, Fristablauf, Frist,
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 2 S. 1, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 1 Bst. d S. 2, VwGO § 80 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Entgegen der Annahme des Antragstellers ist eine Änderung der Sach- und Rechtslage nicht dadurch eingetreten, dass die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens wegen des Ablaufes der sechsmonatigen Überstellungsfrist nach dem hier maßgeblichen Artikel 20 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 – Dublin-II-VO – auf die Antragsgegnerin übergangen sein könnte. Denn vorliegend ist diese Überstellungsfrist nicht abgelaufen, weil deren Lauf gemäß Artikel 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Variante 2 Dublin-II-VO erst am 13. Januar 2014 mit der Entscheidung durch den Beschluss des erkennenden Gerichtes vom 13. Januar 2014 (VG 6 L 20/14.A), dessen Abänderung hier erstrebt wird und mit dem der Antrag des Antragstellers vom 13. Januar 2014 auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage vom selben Tage abgelehnt worden war, in Gang gesetzt worden ist. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Klage vom 13. Januar 2014 eine aufschiebende Wirkung im Sinne des Artikel 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Variante 2 Dublin-II-VO entfaltet, weil die Abschiebung des Antragstellers bis zu diesem Zeitpunkt in Ansehung dessen, dass sein Antrag vom 13. Januar 2014 auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der unter dem Gerichtsaktenzeichen VG 6 K 50/14.A registrierten Klage vom selben Tage gegen die ihm am 09. Januar 2014 zugestellte Abschiebungsanordnung der Antragsgegnerin vom 06. Januar 2014 am 13. Januar 2014 und damit innerhalb der einwöchigen Antragsfrist nach § 34a Abs. 2 Satz 1 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG – bei Gericht eingegangen war, wegen der hiernach recht - zeitigen Antragstellung gemäß § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG unzulässig gewesen war.

Vorliegend ist der Beginn des Laufes der Überstellungsfrist nach Maßgabe der zweiten Variante des Artikels 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Dublin-II-VO in Gang gesetzt worden und nicht – wie die Prozess - bevollmächtigte des Antragstellers unter Berufung auf einige in der Antragsschrift zitierte Gerichtsentscheidungen meint – nach Maßgabe der ersten Variante dieser Vorschrift. Nach dem Normtext des Artikels 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Dublin-II-VO erfolgt die Überstellung gemäß den einzelstaatlichen Vorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats …, sobald dies materiell möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach (1. Variante) der Annahme des Antrages auf Wiederaufnahme durch einen anderen Mitgliedsstaat oder (2. Variante) der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Nach dieser Vorschrift wird demnach die Überstellung eines Asylbewerbers an einen anderen Mitgliedstaat den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften desjenigen Mitgliedstaates unterstellt, der an den anderen Mitgliedstaat ein Wiederaufnahmegesuch gestellt hat. Auf Grund dieser nach Artikel 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Dublin-II-VO den Mitgliedsstaaten eingeräumten Regelungsbefugnis erfolgt nach dem innerstaatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland die Überstellung unter anderem nach Maßgabe der §§ 27a, 34a AsylVfG. Des Weiteren erfolgt die Überstellung gemäß Artikel 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Dublin-II-VO erst zu einem Zeitpunkt, "sobald dies materiell möglich ist". Nach dem innerstaatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland ist gemäß § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG eine Abschiebung vor der gerichtlichen Entscheidung über einen rechtzeitig gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen eine auf der Grundlage des § 34a Abs. 1 AsylVfG erlassen Abschiebungsanordnung unzulässig. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass der Vollzug oder die Durchführung einer Abschiebung erst zulässig ist, nachdem das Gericht über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsanordnung entschieden hat. Erst ab diesem Zeitpunkt ist dementsprechend im Sinne des Artikel 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Dublin-II-VO die Überstellung des Asylbewerbers in den Staat möglich, der um Wiederaufnahme ersucht worden war. Aus diesem Regelungsgefüge folgt des Weiteren, dass das sich aus Artikel 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 1 Dublin-II-VO ergebende Recht eines Mitgliedstaates zur Überstellung eines Asylbewerbers in den ersuchten Mietgliedstaat erst zu einem Zeitpunkt entsteht, zu dem eine Überstellung nach dem einzelstaatlichen Recht des ersuchenden Mitgliedstaates zulässig bzw. "materiell möglich" geworden ist. Ausgehend von dem allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass ein Recht wegen Zeitablaufes nicht bereits zu einem Zeitpunkt erlöschen kann, bevor es überhaupt entstanden ist (keine Rechtsderogation vor der Rechtsentstehung), sind die beiden Tatbestandsvarianten des Artikel 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Dublin-II-VO vor diesem Hintergrund auszulegen. Nach der ersten Tatbestandsvariante dieser Vorschrift beginnt der Lauf der Überstellungsfrist mit der Annahme des Antrages auf Wiederaufnahme durch einen anderen Mitgliedsstaat zu laufen. Denn ab diesem Zeitpunkt ist es dem ersuchenden Mitgliedsstaat zunächst möglich, eine Überstellung eines Asylbewerbers an den ersuchten Mitgliedsstaat herbeizuführen, indem er auf der Grundlage seines innerstaatlichen Rechtes eine Abschiebungs- bzw. Überstellungsentscheidung erlässt. Wenn ein Betroffener gegen eine solche Entscheidung einen Rechtsbehelf einlegt, so bestimmt sich der Beginn des Laufes der Überstellungsfrist nach der zweiten Tatbestandsvariante des Artikel 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Dublin-II-VO, falls die Durchführung bzw. der Vollzug der Überstellung bzw. Abschiebung wegen des eingelegten Rechtsbehelfes nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften im Sinne des Artikel 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Dublin-II-VO nicht "materiell möglich" ist. In diesem Sinne ist der europarechtliche Begriff der "aufschiebenden Wirkung" im Halbsatz zu der zweiten Tatbestandsvariante des Artikel 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Dublin-II-VO auszulegen der nicht deckungsgleich ist mit dem bundesdeutschen Rechtsbegriff der aufschiebenden Wirkung im Sinne des § 80 Abs. 1, Abs. 5 VwGO bzw. § 75 AsylVfG. Eine begriffliche Verengung des europarechtlichen Rechtsbegriff der aufschiebenden Wirkung auf den einzelstaatlichen Rechtsbegriff der aufschiebenden Wirkung im Sinne des § 80 Abs. 1, Abs. 5 VwGO bzw. § 75 AsylVfG lässt sich dem Artikel 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Variante 2 Dublin-II-VO nicht entnehmen. Vielmehr hat sich die europarechtliche Auslegung des Rechtsbegriffes "aufschiebende Wirkung" im Sinne des Artikels 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Dublin-II-VO an dem intrasystematischen Zusammenhang zu der in dieser Vorschrift enthaltenen Formulierung "sobald dies materiell möglich ist" und dem bereits erwähnten allgemeinen Rechtsgrundsatz zu orientieren, dass es eine zeitablaufbedingte Rechtsderogation vor der Rechtsentstehung nicht möglich ist. Ausgehend davon, dass eine Abschiebung bzw. Überstellung vor einer gerichtlichen Entscheidung über einen rechtzeitig gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen eine Abschiebungsanordnung nach der bundesdeutschen Vorschrift des § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG nicht zulässig und damit im Sinne des Artikels 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Dublin-II-VO nicht möglich ist, handelt es sich bei dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO in Verbindung mit § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung um einen Rechtsbehelf im Sinne der zweiten Variante des Artikels 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Dublin-II-VO, der aufschiebende Wirkung hat. Hingegen würde ein anderes Verständnis des Begriffes der aufschiebenden Wirkung im Sinne dieser Vorschrift, welche das temporäre Abschiebungsvollzugsverbot nach § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG nicht erfassen würde, die sinnwidrige Konsequenz nach sich ziehen, dass die dann gemäß Artikel 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Variante 1 Dublin-II-VO mit der Annahme des Antrages auf Wiederaufnahme Überstellungsfrist in Gang gesetzte sechsmonatige Überstellungsfrist nach Artikel 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin-II-VO bereits zu einem Zeitpunkt abgelaufen sein kann, bevor nach Artikel 20 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 2 Dublin-II-VO eine Überstellung gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaates materiell möglich gewesen war. Aus den vorstehenden Gründen ist den Rechtsansichten, welche die in Antragsschrift angeführten Gerichte vertreten, nicht zu folgen. [...]