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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 25.07.2014 - V ZB 137/14 - asyl.net: M22126
https://www.asyl.net/rsdb/M22126
Leitsatz:

1. Im Hinblick auf das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der Union (effet utile) muss der Haftrichter die Anordnung von Sicherungshaft ablehnen, wenn absehbar ist, dass der Betroffene entgegen den Vorgaben des Unionsrechts untergebracht werden wird.

2. In Deutschland darf Ab- und Zurückschiebungshaft nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) nur in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen werden.

3. Die Unterbringung der von Ab- oder Zurückschiebung Betroffenen in einem besonderen Gebäude auf dem Gelände einer gewöhnlichen Haftanstalt ist keine Unterbringung in einer speziellen Hafteinrichtung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115/EG.

Umsetzung von EuGH, Urteil vom 17. Juli 2014 - C 473/13 und C 514/13 - Bero und Bouzalmate, ECLI:EU:C:2014:2095 Rn. 30 f.

(Amtliche Leitsatz)

Schlagwörter: Sicherungshaft, effet-utile-Grundsatz, Rückführungsrichtlinie, gewöhnliche Haftanstalt, spezielle Hafteinrichtung, Trennungsgebot, Unionsrecht, Abschiebungshaft, EuGH, Bero und Bouzalmate, Büren, Justizvollzugsanstalt Büren,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 16 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

a) Die Unterbringung des Betroffenen in der Justizvollzugsanstalt Büren widerspricht den unionsrechtlichen Vorgaben.

aa) Nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115/EG erfolgt die Inhaftierung von Betroffenen zur Sicherung der Ab- oder Zurückschiebung grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Zwar dürfen Betroffene noch Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie in "gewöhnlichen Haftanstalten" untergebracht werden, wenn in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden sind. Diese Ausnahme trifft aber nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union für Deutschland nicht zu, weil in mehreren deutschen Bundesländern spezielle Einrichtungen vorhanden sind (EuGH, Urteil vom 17. Juli 2014 - C 473/13 und C 514/13 - Bero und Bouzelmate, ECLI:EU:C:2014:2095 Rn. 30 f.).

62a Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist in diesem Sinne richtlinienkonform einschränkend auszulegen. Dem steht nicht entgegen, dass die Vorschrift nach ihrem Wortlaut auf die Verhältnisse in dem betroffenen Bundesland und nicht auf die Verhältnisse in Deutschland insgesamt abstellt. Der Gesetzgeber hat mit der Vorschrift ausweislich der Entwurfsbegründung Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie ohne Abstriche umsetzen wollen (BT-Drucks. 17/5470 S. 25). Er hat dabei ein - wie sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergibt - fehlerhaftes Verständnis der Richtlinie zugrunde gelegt, was aber an dem Willen zur richtlinienkonformen Anpassung den nationalen deutschen Rechte nichts ändert. Einem solchen Versehen ist mit einer richtlinienkonformen - hier einschränkenden - Auslegung Rechnung zu tragen (vgl. BGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - VIII ZR 70/08, BGHZ 192, 148 Rn. 26; Senat, Beschluss vom B. Januar 2014 - V ZB 137/12, InfAuslR 2014 148 Rn, 9-11).

bb) Nach dem erwähnten Urteil des Gerichtshofe kann die Unterbringung eines Betroffenen in einem gesonderten Gebäude auf dem Gelände einer Justizvollzugsanstalt, anders als die beteiligte Behörde meint, auch nicht als Unterbringung in einer speziellen Hefteinrichtung angesehen werden, wie sie von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie verlangt wird. Wenn Betroffene In einem Mitgliedstaat überhaupt in gewöhnlichen Haftanstalten untergebracht werden dürfen, dürfte dies nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG nur "gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen" geschehen. In einem weiteren Urteil vom 17. Juli 2014 hat der Gerichtshof der Europäischen Union ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich aus dem Wortlaut dieser Norm die unbedingte Verpflichtung ergibt, die illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen von den gewöhnlichen Strafgefangenen zu trennen, wenn ein Mitgliedstaat sie nicht in speziellen Hafteinrichtungen unterbringen kann (Re. C-474/13 - Pham, ECLI:EU:C:2014:2096 Rn. 17, 21). Daraus folgt, dass eine solche gesonderte Unterbringung von Betroffenen auf dem Gelände einer gewöhnlichen Haftanstalt keine Unterbringung in einer speziellen Hafteinrichtung sein kann. Sie ist unabhängig von ihrer Ausgestaltung im Einzelnen - eine Unterbringung in einer gewöhnlichen Haftanstalt, die in Deutschland, wie ausgeführt, generell nicht zulässig ist.

cc) Die Justizvollzugsanstalt Büren dient nach Teil 4 des geltenden Vollstreckungsplans für das Land Nordrhein-Westfalen (Allgemeinverfügung des Justizministeriums vom 16. September 2003 - 4431 T IV B. 28) dem Vollzug der Abschiebungshaft, der Freiheitsstrafe von bis zu drei Monaten und der Ersatzfreiheitsstrafe. Es handelt sich deshalb um eine gewöhnliche Haftanstalt, in der auch von einer Ab- oder Zurückschiebung Betroffene untergebracht sind. Diese Art der Unterbringung widerspricht dem Unionsrecht. [...]