VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Gerichtsbescheid vom 17.07.2014 - 2 K 3472/12.GI.A - asyl.net: M22127
https://www.asyl.net/rsdb/M22127
Leitsatz:

Angehörige der christlichen Minderheit in Syrien haben im heutigen Zeitpunkt im Falle einer Rückkehr Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu gewärtigen.

Schlagwörter: Christen, Syrien, Bürgerkrieg, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Konfessionskrieg, religiöse Verfolgung, Kollaboration, Sicherheitslage, nichtstaatliche Verfolgung, interne Fluchtalternative, interner Schutz,
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Speziell zur Lage der Christen in Syrien stellt sich die Lage nach derzeitigem Erkenntnisstand wie folgt dar: Der seit Frühjahr 2011 in Syrien herrschende Bürgerkrieg hat sich im Laufe der Zeit zunehmend in Richtung eines Konfessionskrieges entwickelt. Religiöse Unterschiede und Gegensätze, die bei Kriegsausbruch noch von untergeordneter Bedeutung zu sein schienen, bestimmen zunehmend die Konflikte. Insbesondere die Gruppe der Christen hat unter dieser Entwicklung zu leiden.

Neben der Tatsache, dass sie von islamistischen Gruppierungen als Ungläubige betrachtet werden, befinden sie sich auch deshalb in einer besonders prekären Lage, weil sie Gefahr laufen, als einzige nicht-muslimische Glaubensgruppe von allen Konfliktparteien gleichermaßen der Kollaboration mit dem jeweiligen Gegner verdächtigt zu werden (so VG Stuttgart, Urt. v. 15.03.13, Az.: 7 K 2987/12, juris). Sie laufen dadurch Gefahr, infolge ihrer Religion zwischen den sich verhärtenden Fronten aufgerieben zu werden (vgl. Wissenschaftliche Dienste, Deutscher Bundestag: Die Lage der Christen in Syrien, Nr. 09/13, 18. März 2013; Bundesasylamt der Republik Österreich: Analyse der Staatendokumentation, "Zur Lage in Syrien", 19.04.2012).

Verschärfend für die Sicherheitslage der syrischen Christen kommt hinzu, dass diese in den letzten Jahrzehnten vom laizistischen Kurs der alawitischen Assad-Familie profitiert haben. Christliche Gemeinden in Syrien besaßen Privilegien, die sonst keine christliche Minderheit in einem mehrheitlich muslimischen Land innehat. Insofern stehen sie unter "Generalverdacht", zu den Unterstützern des von den Oppositionsparteien verhassten Assad-Regimes zu gehören.

Von Seiten der führenden Regierungsgegner wird aber von den Christen erwartet, dass diese kollektiv zu den Aufständischen übertreten, um sich vom Verdacht der Kumpanei mit dem Diktator zu befreien (vgl. Wissenschaftliche Dienste. Deutscher Bundestag a.a.O.).

Hierzu ist die Mehrzahl der Christen - wie aus verschiedenen Medienberichten und Schilderungen Betroffener deutlich wird - nicht bereit. Nach neuerer Erkenntnislage (vgl. Auskunft des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrums Asyl und Migration zu Syrien "Aktuelle Situation der Christen", Stand 15.05.2013 vom Juni 2013) stellt sich die Rolle der christlichen Minderheit im Rahmen der militärischen Auseinandersetzungen ambivalent dar. Einerseits gibt es vereinzelt Informationen über Christen, die auf Seiten der Oppositionen kämpfen; es gibt hingegen wenige Indizien dafür, dass Christen innerhalb Syriens in nennenswertem Ausmaß die Protestbewegung unterstützen.

Das Bemühen der syrischen Christen um Überparteilichkeit und Appelle über alle Konfessionsgrenzen hinweg zum Waffenstillstand und Versöhnung wird ihnen nicht gelohnt, vielmehr geraten sie hierdurch noch stärker zwischen die sich bekriegenden Fronten (Bericht in "Die Welt: Assad im Fadenkreuz - Getroffen werden Christen", vom 29.08.2013). Von der zunehmenden Gewalt zeugen auch Angriffe radikal-islamistischer Rebellen auf zahlreiche christliche Dörfer, das Zerstören von Kirchen, brutale Hinrichtungen und Verfolgung sowie der Aufbau eines islamischen Staates in Syriens Provinz Rakka durch die ISIS (Islamischer Staat im Irak und in Syrien, Bericht von Jürg Bischoff, NZZ vom 01.03.2014; sowie ausführlicher Bericht in der Tagesschau vom 20.04.2014: "Mit Assad leben wir besser" von Martin Dorm, SWR).

Die Hauptgefährdungsursachen der christlichen Minderheit in Syrien liegen danach einerseits im Verfall des syrischen Staates und dem daraus resultierendem Verlust des staatlichen Schutzes begründet sowie andererseits im zunehmenden Gewicht von dschihadistischen Kämpfern auf Seiten der Aufständischen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration "Syrien, Aktuelle Situation der Christen", Seite 17 f.).

Diese Gesamtsicht der sich stetig verschlechternden Sicherheitslage der christlichen Minderheit in Syrien und die aufgrund des Bürgerkrieges in Syrien nicht mehr vorhandene Gewährung von staatlichem Schutz führt nach Überzeugung des Gerichts zu der Annahme, dass der Kläger als Angehöriger der christlichen Minderheit in Syrien im heutigen Zeitpunkt im Falle seiner Rückkehr Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu gewärtigen hätte.

Es ist nach alledem auch nicht von einer innerstaatlichem Fluchtalternative für den Kläger als Angehöriger der christlichen Minderheit auszugehen, da die beschriebenen Gefährdungen das gesamte Land durchziehen, wobei hier offen bleiben kann, wie die Gefährdungssituation für aus Damaskus stammende Christen aktuell ist. [...]